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Stellventile kommen ohne bewegte Teile aus

Elektrorheologische Fluide erlauben Schaltzeiten unter 1 ms
Stellventile kommen ohne bewegte Teile aus

Schaltzeiten von unter 1 ms sind mit konventioneller Hydraulik nicht zu schaffen. Wohl aber mit elektrisch ansteuerbaren Hydraulikflüssigkeiten: Forscher entwickelten damit eine mobile Ladeplattform, die beim Fahren eben über der Fahrbahn schwebt.

Christoph Stiebel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Prozessautomatisierung (LPA) der Universität des Saarlandes, Lehrstuhlinhaber ist Professor Hartmut Janocha

Hydraulik ohne Ventile – Feuer ohne Flamme? Den Schlüssel zu diesem scheinbaren Widerspruch bilden elektrorheologische Flüssigkeiten (ERF). Dabei handelt es sich um Fluide, deren Fließeigenschaften durch Anlegen eines elektrischen Feldes gezielt verändert werden können. Über die Feldstärke lässt sich die Konsistenz zwischen flüssig und fest beliebig variieren. Die Ansprechzeiten liegen unter 1 ms. Geschickt eingesetzt, ermöglicht dieser Effekt völlig neue Möglichkeiten in der Fluidtechnik. Anwendungsbeispiele sind elektrisch einstellbare Dämpfer, Kupplungen, Ventile ohne mechanisch bewegliche Teile oder hochdynamische Hydraulik-Stellzylinder, in die Ventilfunktionen integriert sind. Erstmals benötigen Ventile keine mechanisch bewegten Komponenten mehr!
Meistens bestehen ERF aus einer nichtpolaren Trägerflüssigkeit (Silikonöl), in die polarisierbare Feststoffteilchen dispergiert sind. Im elektrischen Feld bilden diese Partikel mechanisch belastbare Ketten und verwandeln das Fluid in einen Elastomer-artigen Stoff. Da sich die mechanischen Eigenschaften unmittelbar über eine rein elektrische Größe (Feldstärke) steuern lassen, ist dieser Effekt im wahrsten Sinne des Wortes „mechatronisch“.
Auf dreierlei Weise lässt er sich nutzbar machen: Ein Energiewandler enthält Elektroden, zwischen denen sich die ERF befindet und an die eine Steuerspannung gelegt wird. Je nach Anwendung bewegen sich die beiden Elektroden und das Fluid relativ zueinander. Beim Scherungsprinzip wird nun von der bewegten auf die feststehende Elektrode eine Kraft übertragen, die sich mit dem elektrischen Feld steuern lässt (Anwendungen: Kupplungen, Bremsen, Dämpfer). Das Strömungsprinzip hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass die ERF durch zwei stillstehende Elektroden fließt. Über das elektrische Feld lässt sich der Fließwiderstand stufenlos bis hin zur vollständigen Verfestigung des Fluides einstellen (Anwendung: Ventil). Beim Quetschprinzip schließlich bewegen sich die parallelen Elektrodenplatten aufeinander zu oder voneinander weg. Die dabei entstehende Quetschströmung überträgt eine Normalkraft, die sich über das elektrische Feld steuern lässt (Anwendung: Schwingungstilger).
Elektrisches Feld verändert die Viskosität des Hydraulik-Fluids
Mit Abschluss des BMBF-Verbundforschungsprojektes „Adaptronisches Transportsystem mit elektrorheologischen Flüssigkeiten zur Beförderung sensibler Güter“ ist nun ein wichtiger Schritt gelungen, um die ERF-Technologie zu etablieren. Weltweit wurde das erste komplexe Hydrauliksystem realisiert, das allein auf ERF basiert. Die hochdynamische ERF-Hydraulik dient hier dazu, die Ladeplattform eines Transporters aktiv vom Fahrzeugrahmen zu entkoppeln. Sie eliminiert alle Kräfte, die von den Unebenheiten der Fahrbahn herrühren. Kräfte, die sich aus der Fahrdynamik ergeben (Kurvenfahrt, Beschleunigungen) werden in die stabile Richtung senkrecht zur Auflage des Transportgutes umgelenkt. Nur so ist es möglich, dass Transportgüter einerseits erschütterungsfrei über der Fahrbahn schweben und sich andererseits wie ein Motorradfahrer in die Kurve legen, um die entstehenden Zentrifugalkräfte auszugleichen.
Konventionelle Hydraulik wäre für diese Aufgabe zu langsam. Ventilschaltzeiten unter 1 ms im Proportionalbetrieb können nur Stellzylinder aufbringen, die ohne bewegte mechanische Teile funktionieren. Genau dies leisten die integrierten ERF-Ventile, die nach dem Strömungsprinzip arbeiten. Bei der Entwicklung eines solch komplexen Hydrauliksystems, das aus mehreren unabhängigen Arbeitszylindern mit integrierten ERF-Ventilen besteht, konnte auf fast keine praktischen Erfahrungen zurückgegriffen werden.
Unter Leitung des VDI/VDE-Technologiezentrums Informationstechnik in Teltow, dem Träger des BMBF-Verbundprojektes, entwickelte sich eine breite, interdisziplinäre Zusammenarbeit von Industrie und Forschung. Sie bildete die Basis für die Entwicklung des mechatronischen Gesamtsystems, bei dem von der Sensorik über die Regelung und Ansteuerelektronik der ERF-Ventile bis hin zur ERF-Hydraulik durchgehend Neuland zu beschreiten war.
Die am Fahrzeugrahmen und der entkoppelten Ladeplattform auftretenden Beschleunigungskräfte werden von zwei separaten, inertialen Faserkreisel-Messsystemen erfasst. Sie funktionieren ähnlich wie bei der Flugnavigation mit drei Freiheitsgraden und wurden speziell für das adaptronische Transportsystem entwickelt. Die Messdaten gehen an einen schnellen Echtzeitrechner. Dieser ermittelt die Sollwerte für die Stellwege der drei ERF-Arbeitszylinder, um die Plattform zu stabilisieren. Die digitale Regelung und die proportionale Ansteuerbarkeit der hochdynamischen Ventile ermöglichen es, einem Stellzylinder rein mathematisch das Verhalten eines Gleichlaufzylinders aufzuprägen. So etwas wäre mit konventioneller Hydraulik undenkbar.
Jeder der drei Arbeitszylinder verfügt über vier integrierte ERF-Ventile, die über separate Hochspannungsverstärker angesteuert werden. Die Ansteuerspannung der ERF-Ventile beträgt 4,5 kV bei einer elektrischen Leistung von bis zu 200 W je Ventil. Die Generierung der Hochspannung aus der 24-V-Bordspannung des Transporters ist einer der Schlüssel zu der neuen Technologie: Bei kleiner Baugröße und mit hohem Wirkungsgrad müssen die Verstärker die für das System erforderliche Dynamik sicherstellen.
Ein wichtiges Ergebnis des Projekts ist auch, dass neben den Arbeitszylindern handelsübliche Standard-Hydraulikkomponenten für die ERF-Hydraulik verwendet werden können (Leitungen, Druckspeicher, Pumpen, Druckminderer).
Das im Projekt entwickelte System bietet einen hohen Nutzen für Krankenbeförderung, Gütertransporte und auch für Anwendungen im Verteidigungsbereich. Darüber hinaus hat es den Beweis erbracht, dass selbst komplexe Hydrauliksysteme dauerhaft mit ERF betrieben werden können. Das System lässt sich als Grundlage zum Lösen von unterschiedlichen Problemen der Schwingungsbekämpfung nutzen. Bleibt zu hoffen, dass sich weitere Anwender mit der ERF-Technologie anfreunden werden.
Wirkungsweise: Elektrorheologische Flüssigkeiten (ERF)
In die ERF sind polare Teilchen suspendiert, die mit Ionen in Wechselwirkung treten:
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