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Vibration stoppt auf Knopfdruck

Adaptronik: Maschinenbau ist Spitzenreiter bei aktiver Schwingungsreduktion
Vibration stoppt auf Knopfdruck

Die Kunst, selbstanpassende oder „adaptronische“ Systeme zu bauen, wird in der Automobilindustrie intensiv erforscht. Ein Massenmarkt winkt. Die meisten adaptronischen Systeme arbeiten bisher allerdings in Laboren und vereinzelt im Maschinenbau, wo sie hochdynamische Anlagen von Schwingungen befreien.

Was die Adaptronik will, versteht jeder, der gelegentlich eine randvolle Tasse Kaffee durchs Büro zum Schreibtisch bugsiert. Damit sie nicht überläuft, muss er den Kaffeespiegel konzentriert beobachten und jede Schwankung sofort parieren. Brenzlig wird’s, wenn sich die Systembedingungen ändern – und er beispielsweise seitlich von Kollegen angerempelt wird. Bleibt der Kaffee dennoch in der Tasse, hat er sich als adaptronisches System glänzend bewährt.

Interessant für Techniker ist daran, dass die Tasse durchaus auch selbst als adaptronisches System konzipiert werden könnte. Sie benötigt dafür sensorische Eigenschaften, um die Störschwingungen zu erkennen, sowie aktorische Eigenschaften, um dagegen zu halten. Einen ähnlichen Versuchsaufbau verwenden die Adaptronik-Fachleute gerne, um ihre Technik zu erklären: Sie stellen ein Glas Wein auf einen Resonator, der den Weinspiegel vibrieren lässt. Schalten sie per Knopfdruck den Regler ein, beruhigt sich das Glas auf der Stelle.
Als Aktoren kommen häufig „smarte“ Materialien zum Einsatz. Zum Beispiel Piezokeramiken, die auf elektrische Signale eines Reglers blitzschnell mit einer Längenänderung antworten. „Adaptiv“ wird das System, wenn es sich an veränderte Systembedingungen (seitlicher Rempler) selbständig anpasst, indem es seine Regelparameter modifiziert. Solche adaptronischen Systeme haben das Potenzial, technische Konstruktionen revolutionär zu verändern: Die Mechanik überträgt nicht mehr nur Kräfte, sondern übernimmt zusätzlich aktive Funktionen. So reduziert sie Vibrationen und Schwingungen durch Gegenschwingungen. Damit wird es möglich, die Präzision und Dynamik empfindlicher Maschinen drastisch zu verbessern, Lärm zu beseitigen oder Leichtbaumaterialien zu verwenden, die bisher zu schwingungsanfällig waren.
Prof. Holger Hanselka, der Leiter der zwölf Institute umfassenden Fraunhofer-Allianz Adaptronik (FAA), rechnet „fest damit, dass Adaptronik ein Massenmarkt wird“. Er treibt die Entwicklung mit Hochdruck voran. Sein Institut, das Darmstädter Fraunhofer LBF, betreibt eine Fülle von Adaptronik-Projekten. Für 9 Mio. Euro soll in Darmstadt ein Kompetenzzentrum für Adaptronik entstehen, in das die Fraunhofer-Gesellschaft, das Land Hessen und die Industrie investieren. Geplant sind ein „Projekthaus“, das auch kleinere und mittlere Firmen nutzen sollen, sowie ein regionales Adaptronik-Cluster.
Auch die Automobilindustrie verfolgt schon seit Jahren adaptronische Ansätze, ist allerdings zurückhaltend in der Umsetzung. Eine Neuheit in der Serie zeigen jetzt Audi und Zulieferer Delphi: Die Modelle TT und R8 arbeiten mit der adaptiven Fahrwerksdämpfung Magnetic Ride. In den Stoßdämpfern zirkuliert eine magnetorheogische Flüssigkeit (MRF), die ihre Viskosität abhängig von einem angelegten Magnetfeld binnen Millisekunden ändert. Der Fahrer entscheidet per Tastendruck, ob er „dynamisch“ oder „komfortabel“ fahren will. Zusätzlich fließen Informationen über das augenblickliche Straßenprofil in die Dämpfer-Charakteristik ein, die das System über Sensoren an den vier Rädern gewinnt. „Sehr bald“ möchte Audi auch Antrieb und Lenkung in die elektronische Anpassung der Dynamik einbeziehen, betont Josef Schloßmacher von der Technik-Kommunikation. „Damit bekommt der Fahrer in einer Karosserie völlig verschiedene Autos angeboten.“
Adaptiv ist das Audi-System, weil das Auto seine Dämpfer-Charakteristik in Echtzeit an die Fahrsituation anpasst. „Adaptronisch“ ist es im engeren Sinne nicht. Denn der Dämpfer bleibt ein passives Element und pumpt keine eigene Energie in das System. Im Vollsinn „adaptronisch“ sind bisher fast ausschließlich Systeme im Maschinenbau mit Stückzahl 1. Das ist zwar kein Durchbruch, aber immerhin etwas. Ein Pionier ist die Eras GmbH in Göttingen. Seit 13 Jahren am Markt, stattete sie schon Druck- und Papierwalzen, Windkanäle und Notarztwagen mit aktiven Schwingungsreduktionssystemen aus und beteiligt sich laufend an neuen Projekten. „Schwingungsprobleme an Papiermaschinen können wir innerhalb von zwölf Wochen beseitigen“, sagt Geschäftsführer Roger Wimmel. Im Falle einer riesigen Papiermaschine habe sich die Investition in wenigen Monaten amortisiert: Die Walzen verschleißen weniger, teure Stillstandszeiten für die Wartung werden minimiert. Die Kosten für solche aktiven Systeme beziffert Wimmel zwischen 1000 und 100 000 Euro, je nach Größe der Maschine.
Mit dem Göttinger Messmaschinen-Hersteller Mahr GmbH realisierte Eras ein System, um feine Vibrationen an der Drehachse einer Formmessmaschine durch ein aktives System zu beseitigen – und damit in noch höhere Genauigkeitszonen vorzustoßen. Mit Erfolg. „Nur aktive Dämpfungen können noch Verbesserungen bringen“, konstatierte Dr. Andreas Beutler von Mahr auf dem Adaptronic Congress im Mai, dem alljährlichen Branchentreff der Adaptroniker. Doch Beutler nannte auch Gründe, warum ein Serieneinsatz derzeit nicht in Frage kommt: Die Kosten seien noch recht hoch. Voraussichtlich fallen sie erst, wenn Großserien-Anwendungen einen Entwicklungsschub auslösen – und darauf warten die Akteure.
Eras-Chef Roger Wimmel glaubt, dass es bald so weit sein wird. Mit einem Automobilzulieferer ist er an einem vielversprechenden Projekt. Die Partner entwickelten ein ANC-System für Abgasanlagen (Active Noise Control), das die Auspuff-Geräusche um 10 bis 15 dB (A) senken könne – und am BMW Z4 bereits getestet wurde. Kern des Systems ist eine Klappe, die im Abgasrohr aktiv Gegenschall erzeugt (siehe Seite 31). Als hochdynamischer Antrieb dieser „singenden“ Klappe dient – und das ist bemerkenswert – ein konventioneller Elektromotor. Selbst die Kosten könnten beherrschbar sein. Denn das ANC-System ermöglicht es, den Auspufftopf deutlich zu verkleinern – und kompensiert so nicht nur den Lärm, sondern auch die Mehrkosten. Wimmel: „Unser System vereint Lärmreduktion mit gezielter Klanggestaltung und lässt sich mühelos an verschiedene Fahrzeuge anpassen.“
Auch wenn die erste Serien-Adaptronik noch auf sich warten lässt, haben sich die Anstrengungen der letzten Jahre doch gelohnt: Die verfügbaren Komponenten und Auslegungsmethoden sind zahlreicher und reifer geworden, die Preise sind gefallen und die am Markt aktiven Player haben an Professionalität zugelegt. Beispiele:
Die Fludicon GmbH, operiert mit elektrorheologischen Fluiden (ERF), die ihre Viskosität abhängig von einer angelegten Spannung variieren. Mit adaptiven Dämpfern für die Sportgeräteindustrie ist Fludicon bereits erfolgreich am Markt. Bis zu 1500 Stück sollen in diesem Jahr verkauft werden. Anders als herkömmliche Dämpfer bieten sie keine Kennlinie, sondern ein variabel einstellbares Kennfeld. Damit lässt sich in Fitness-Geräten der Widerstand „isodynamisch“ an die Bewegungsgeschwindigkeit koppeln. In den letzten Jahren konnte Fludicon das Elektronik-Modul „von Schuhkarton- auf Zigarettenschachtelgröße“ schrumpfen, berichtet Systemingenieur Lucien Johnston.
Auch dem Maschinenbau bietet Fludicon elektrorheologische Systeme mit Sensorik, Elektronik und Software aus einem Baukastensystems an: „Wir geben dem Ingenieur einen Dämpfer in die Hand, der sich mit Intelligenz bestücken lässt“ – etwa für den Einsatz in Stanzmaschinen, an denen sich die Schwingparameter von Auftrag zu Auftrag verändern. Außerdem arbeiten die Darmstädter mit Daimler, dem Fraunhofer ISC und der Neue Materialien Würzburg GmbH als Forschungspartnern an einem Fahrwerk, bei dem – abweichend vom Audi-System – aktiv gedämpft wird, der Dämpfer also aktorische Funktionen übernimmt.
Der Braunschweiger Faserverbundspezialist Invent GmbH hat einen Piezo-Wandler auf den Markt gebracht, der in Polymermaterial eingehüllt und gekapselt ist. Im Gegensatz zu Piezo-Stapelaktoren lässt er sich leicht handhaben und sogar verbiegen und verkleben. Die DuraAct-Wandler kosten nur einen Bruchteil von Stapelaktoren, weil sie mit ausgereiften Faserverbundtechnologien hergestellt werden und in der Regel nur eine Piezoschicht benötigen. Den Vertrieb übernimmt der Piezolieferant PI Ceramic GmbH, Lederhose. Invent hat als Hauptanwendungsgebiet aber nicht die Adaptronik ausgemacht, sondern energieautarke Geräte: Beaufschlagt mit einer mechanischen Schwingung produzieren die DuraAct-Komponenten elektrischen Strom und werden so zum Mini-Generator.
Anfang des Jahres hat das Fraunhofer LBF die Isys Adaptive Solutions GmbH ausgegründet mit dem Ziel, Forschungsergebnisse auch kommerziell zu verwerten. Erster Auftrag könnte ein aktives Dämpfungssystem für Yachtmotoren der Lürssen-Werft sein: Damit sich das Dröhnen der Motoren nicht auf den gesamten Rumpf überträgt, haben LBF-Forscher aktive Piezo-Dämpfer konzipiert, die den Schall zwischen Lager und Motor schlucken sollen. „Die bisherigen Ergebnisse sind sehr gut“, sagt Isys-Geschäftsführer Martin Thomaier. Auf derartige Dienstleistungs-Aufträge allein will er sich aber nicht verlassen. „Wir haben ein Produkt, das wir vermarkten können“, erklärt Thomaier, „ein aktives Interface, das sehr robust ist und neben Sensor und Aktor auch Controler und Verstärker aufnehmen kann.“ Den Verkauf solcher maßgeschneiderter Komponenten sieht er als zusätzliches Standbein. Als drittes Geschäftsfeld nennt er die Prüftechnik: Da adaptronische Interfaces in der Lage sind, hochfrequente Schwingungen zu erzeugen, können sie auch 1 Mrd. Zyklen für Prüfmaschinen generieren.
Der Handlungsspielraum der Adaptroniker erweitert sich also. Für sie ist ein Durchbruch am Markt nur eine Frage der Zeit. Eras-Gründer Wimmel sieht viele dynamische Systeme an einer Grenze angelangt, die sie nur noch mit aktiven Systemen überwinden können. Die Schwingungsproblematik sei ähnlich wie bei den immer höheren Wolkenkratzern im Bausektor: „Bei kleinen Wohnhäusern ist die Windlast leicht zu beherrschen. Bei riesigen Hochhäusern wie den Petronas Towers in Kuala Lumper wird sie aber zum alles entscheidenden Problem.“
Aktive Piezos bekämpfen das Dröhnen der Yacht-Motoren

Neue Technologien
Die Adaptronik hilft überall dort, wo unliebsame Schwingungen zu einem ernsthaften Problem werden: So vermochte es zum Beispiel bei 10 m breiten Papierwalzen nur eine aktive Schwingungskompensation, die Qualitätsprobleme zu beseitigen. Ähnliches könnte künftig für besonders leistungsfähige Werkzeug- und Messmaschinen gelten. Und im Leichtbau könnte der Einsatz ultraleichter Werkstoffe davon abhängen, ob sich unvermeidliche Schwingungen aktiv beseitigen lassen.
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