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Vom Trecker über den Airbus zur S-Klasse

Luftfahrt-Technologien landen jetzt im Automobilbau
Vom Trecker über den Airbus zur S-Klasse

Mit Erfolg geht eine außergewöhnliche Geschäftsstrategie auf: Der Maschinenbauer Claas Fertigungstechnik transferiert Technologien aus der Luftfahrt in den Automobilbau und umgekehrt. Zweistellige Wachstumsraten sind die Folge.

Von unserem Redaktionsmitglied Olaf Stauß olaf.stauss@konradin.de

Als Hersteller von Traktoren und Mähdreschern ist die in Familienbesitz befindliche Claas KgaA mbH, Harsewinkel, weithin bekannt. Mit weltweit rund 8400 Mitarbeitern erwirtschaftete sie 2003 einen Umsatz von fast 1,5 Mrd. Euro. Kaum jemand weiß jedoch, dass Claas mehr als 10 % des Umsatzes mit fertigungstechnischen Maschinen und Anlagen erzielt, davon 33 % für die Luftfahrt- und 65 % für die Automobilindustrie. Und dies mit zunehmendem Erfolg: „Für die Sparte Fertigungstechnik erwarten wir in den nächsten Jahren eine im Schnitt zweistellige Wachstumsrate“, sagt Rüdiger A. Günther, Sprecher der Claas-Geschäftsleitung.
Hinter dieser Wachstumserwartung steckt eine außergewöhnliche Strategie der Gruppe um das Tochterunternehmen Claas Fertigungstechnik (CFT) GmbH, Beelen. Rüdiger Günther und CFT-Geschäftsführer Hans-Bernd Veltmaat stellten Ende August eine Fülle innovativer Technologien für den Automobilbau vor, die größtenteils aus der Luftfahrt stammen. Allen voran den Werkstoff CFK (Carbonfaser-verstärkter Kunststoff), aus dem der komplette Rumpf und die Tragflächen der neuen Boeing-7E7-Modelllinie bestehen sollen. CFT erarbeitet dafür gerade die Fertigungsanlagen. Als Demonstrator für den Automobilbau präsentierten die Manager eine CFK-Tür mit einem Gewicht von nur 8 kg, während übliche Stahlvarianten 18 kg wiegen und damit mehr als doppelt so schwer sind.
Die „Carbontür“ lasse sich „in einem Schuss“ innerhalb von 20 min fertigen, sagt Veltmaat – und zwar ohne den bisher obligatorischen Autoklaven. Es seien Anlagen mit temperierten Formen möglich, auf denen sich 40 Türen gleichzeitig fertigen lassen. Erste CFK-Anwendungen erwartet Veltmaat aber nicht bei der Außenhaut. CFK könnte vielmehr teuren warmumgeformtem Stahl ablösen, etwa bei Teilen wie der B-Säule oder Dachverstärkungen. „Durch Technologien aus der Luftfahrt wird der Kunststoffanteil im Automobil signifikant steigen“, prophezeit der Geschäftsführer.
Auch die dafür nötigen Verbindungstechniken liegen bereit. Dabei handelt es sich um Nietverfahren mit kombiniertem Kleben und Dichten. Um den Werkstoff CFK einsetzen zu können, entwickelten die Luftfahrt-Ingenieure ausgefeilte Methoden, mit denen sich alle Arbeitsschritte prozesssicher nacheinander erledigen lassen – und zwar „in einem wahnsinnigen Tempo“, wie Veltmaat sagt: Bohren (auch in Hohlräume) – Späne absaugen – Senken – Klebstoff und Dichtmittel auftragen – Nietsetzen. Diese Technik könnte Claas auch auf die Automobilfertigung übertragen.
Den Technologietransfer aus der Luftfahrt hat der CFT-Chef zur Firmenstrategie erhoben. Die Basis für diese Entwicklung wurde vor vier Jahren gelegt, als die Gruppe zum ersten Mal ins Geschäft mit der Luftfahrzeugindustrie kam. Für die Flugzeugbauer fertigte sie eine Carbon-Lebensdauertestanlage. Weitere Aufträge folgten. CFT lieferte zum Beispiel die Transportvorrichtungen für Airbus-Tragflächen, die zentimetergenau in den Rumpf des Lufttransporters Beluga passen mussten. Und in der Produktion des Militärhubschraubers NH90 setzen roboterisierte Montageanlagen von Claas die Rumpfsegmente zusammen. Um dieses in der Automobilfertigung bewährte Know-how über den Roboter-Einsatz noch besser im Flugzeugbau vermarkten zu können, kaufte Claas vor zwei Jahren die Brötje Automation GmbH in Wiefelstede, den „Marktführer für Verbindungs- und Montagetechnik in der Luftfahrzeugindustrie“, wie Claas-Sprecher Rüdiger Günther sagt. „Unser Ziel bei Akquisitionen sind immer technologische Synergien“, erklärt dazu Hans-Bernd Veltmaat, „Kopfzahlen-Synergien interessieren mich nicht“. Brötje werde seine Kapazitäten aufgrund der aktuellen Entwicklungsprogramme von Airbus und Boeing in den nächsten Jahren kräftig erweitern müssen. Vom mitgebrachten Luftfahrt-Know-how profitiert jedoch die gesamte CFT-Gruppe, die heute vier Unternehmen mit zusammen 670 Beschäftigten umfasst.
Der Wissenstransfer aus der Luftfahrt geht über die CFK-Technologien weit hinaus: Synergien bieten sich in der Lasermesstechnik und bei speziellen Fertigungsprozessen an, ebenso wie bei Verbindungs- und Schweißtechniken für höher- und höchstfeste Stähle oder Alu-Legierungen.
Die CFT-Gruppe liefert beispielsweise an ein ausländisches Luftfahrtunternehmen eine Anlage zum serienmäßigen Reibrührschweißen. Bei diesem „alten, nie realisierten“ Fügeverfahren dringt ein rotierender Dorn in die Blechoberfläche ein. Er macht das Material dickflüssig und verrührt es defakto. Eine gegenläufig drehende Schulter – eine Claas-Erfindung – glättet die Oberfläche. Laut Veltmaat ergibt sich eine „fantastische“ Verbindung, eine „Designernaht“. Der Vorteil des Reibrührschweißens liegt aber vor allem in einer niedrigen thermischen Belastung und damit einem wesentlich geringeren Festigkeitsverlust im Blech als etwa beim Laserschweißen. Für einen Automobilhersteller laufen derzeit erste Fügeversuche mit Teilen aus der Serie.
Das „Kalottenbördeln“ ist ebenfalls eine (frisch patentierte) Claas-Erfindung. Im Gegensatz zum Bördeln verhindert sie das Verschieben der Halbschalen, wenn seitliche Kräfte auftreten. Diese für höher- und höchstfeste Bleche entwickelte Fügetechnologie ermöglichte jetzt erstmals den Bau einer nicht-geschweißten Fahrzeugachse – gefügt durch Kleben und Bördeln, ganz ohne Festigkeitsverlust.
Als Highlight präsentiert Veltmaat ein innovatives Lasermesssystem, das Bauteile in ihrer Fertigungsumgebung „inline“ vermaßt – und zwar dreidimensional in einer Zeit unter 1 min. Entwickelt für den Flugzeugbau, basiert die Methode auf der Lasertriangulation: Dabei wird das Laserlicht an der Teileoberfläche gestreut und danach optisch detektiert. Aus den Daten errechnet das System den Abstand des Sensors zum Objekt. Natürlich reicht ein einziger Strahl nicht aus. Darum arbeitet in der Messmaschine ein so genannter Laserlichtschnittsensor mit einem gefächerten Laserstrahl, der eine Vielzahl von Messpunkten anfährt. In der Hand eines Roboters kann dieser Sensor die gesamte Topographie des Teils vermessen. Je mehr Roboter beteiligt sind, desto größer wird die berührungsfrei abtastbare Fläche. Die Methode kommt bereits in der Fertigung der Vorderachse des neuen 3er- und 1er-BMW zum Einsatz, ebenso wie in der Achsfertigung der neuen Mercedes S-Klasse, und ersetzt dort die Offline-Kontrolle. Veltmaat reicht dies jedoch nicht aus: „Zukünftig wollen wir ganze Karosserien vermessen.“
Laser vermisst Achse „inline“ im Produktionstakt
Bördeln und Kleben ersetzt das Schweißen von Achsen
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