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Wenn das Werkzeugsystem selbst entscheidet, was zu tun ist

Intelligente Werkzeuge eröffnen neue Möglichkeiten in der mechanischen Bearbeitung
Wenn das Werkzeugsystem selbst entscheidet, was zu tun ist

Mit neuen aktorischen Werkzeugen sind komplexe Geometrien auf Bearbeitungszentren wirtschaftlich herzustellen. Im Tool integrierte NC-Achsen machen´s möglich. Sensoren sorgen für transparente Prozesse und erlauben es dem Anwernder, Leistungsreserven auszuschöpfen.

Von unserem Redaktionsmitglied Haider Willrett – haider.willrett@konradin.de

Bisher galten Menschen, Schimpansen und Delfine als intelligent. Jetzt gibt es auch intelligente Werkzeuge. Sie unterstützen den Anwender bei schwierigen Fertigungsaufgaben, überwachen Prozesse, wo kein Auge hinsieht. Standard-Bearbeitungszentren (BAZ) fertigen damit innerhalb weniger Minuten Bauteile mit komplexen Geometrien, die noch vor kurzem nur mit großem Aufwand herzustellen waren. Damit bieten intelligente Werkzeuge auch Mittelständlern die Chance, ein Teilespektrum wirtschaftlich zu bearbeiten, das bisher Spezialisten vorbehalten war. Doch halt! Wirklich intelligent sind diese Tools nicht. Prof. Fritz Klocke, Direktor des Werkzeugmaschinenlabors (WZL) und des Fraunhofer Institut für Produktionstechnologie (IPT) in Aachen meint: „Intelligent sind nicht die Werkzeuge, sondern die Menschen die sie entwickeln.“ Das Besondere an diesen Systemen sei, dass sie sich veränderten Bedingungen anpassen. Insofern träfe der Begriff „adaptives Werkzeug“ eher zu.
Grundsätzlich gibt es zwei Arten solcher Systeme: aktorische und sensorische. In einem Teilprojekt des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, Berlin, geförderten Projekts Accomat, das kürzlich nach vierjähriger Laufzeit abgeschlossen wurde, entwickelten Werkzeughersteller und Forschungsinstitute aufeinander abgestimmte Werkzeugsysteme und -aufnahmen. Geleitet wurde das Projekt von der Hüller Hille GmbH, Ludwigsburg, und vom Institut für Werkzeugmaschinen und Betriebstechnik (WBK), Karlsruhe. Das Teilprojekt „intelligente Werkzeuge“ betreute und koordinierte die Gesellschaft für Fertigungstechnik und Entwicklung e. V. (GFE), Schmalkalden. Eine der Projektaufgaben war der Entwurf einer einheitlichen Schnittstelle, um die nötigen Energie- und Datenmengen zwischen Maschine und Werkzeug berührungslos und sicher übertragen zu können. Diese Schnittstellen stehen jetzt zur Normung an.
Um der Forderung vieler Kunden nach einem flexiblen und zugleich hochgenauen Werkzeug gerecht zu werden, entstand bei dem Accomat-Partner Mapal Dr. Kress KG, Aalen, das System Tooltronic. Hauptmerkmale dieses neuen Werkzeugtyps sind die integrierte Regelungselektronik und der Servo- antrieb. Dadurch entsteht eine zusätzliche NC-Achse im Tool, die sich über die Maschinensteuerung bedienen lässt.
Mit einem Durchmesser von 110 mm benötigt Tooltronic lediglich einen Platz im Werkzeugmagazin. Das geringe Gewicht des Werkzeugs, der kompakte Aufbau und die HSK-63-Schnittstelle ermöglichen den automatischen Wechsel der Einheit in einem BAZ. „Durch seine Flexibilität eignet sich das System nicht nur für Großserien, sondern auch für kleine Lose, bis hin zur Einzelteilfertigung“, erläutert Dirk Sellmer, bei Mapal stellvertretender Versuchsleiter und Projektleiter Tooltronic. Das System bildet die Basis für eine Baureihe unterschiedlicher Schieberwerkzeuge, darunter ein Planschieber, ein Exzenterschieber sowie ein Radialschieber.
Ein anderer Accomat-Partner, die Besigheimer Komet Präzisionswerkzeuge GmbH, hat ein vom Aufbau und Funktionsumfang her ähnliches U-Achs-Werkzeug entwickelt. Beide Unternehmen stehen nach eigenen Angaben derzeit mit ihren Werkzeugen für die Schnittstelle HSK 63 an der Schwelle zum Serieneinsatz. Ewald Hasselkuss, bei Komet Leiter des Bereichs Elektronische Werkzeuge, ergänzt: „Mit unserem U-Achs-System für den HSK-100-Anschluss produzieren einige Kunden aus der Automobilzulieferbranche bereits erfolgreich.“ Das Investitionsvolumen für diese Technik beträgt rund 30 000 bis 40 000 Euro. Darin enthalten sind die Installation und die Integration von Soft- und Hardware-Komponenten an der Maschine.
Gegenüber diesen Systemen haben die heute üblichen, mechanisch gesteuerten Aussteuerwerkzeuge zwei entscheidende Nachteile: Sie sind weniger flexibel und sie können nicht geregelt, sondern nur gesteuert werden. Für normale Passungsbohrungen, die keine besondere Geometrie aufweisen, reicht ihr Funktionsumfang jedoch vielfach völlig aus. So setzt die MTU GmbH, Friedrichshafen, seit einigen Jahren den mechanischen Ausdrehkopf Kom-Tronik M042 von Komet für die Produktion von Kfz-Gelenkwellen ein. Das Tool ist über eine Infrarotschnittstelle mit einer Messstation verbunden. Jedes Teil wird nach der Bearbeitung überprüft. Die Messeinrichtung meldet das Ergebnis an den Ausdrehkopf, der bei Bedarf die Zustellung korrigiert und erst dann das nächste Werkstück bearbeitet. „Mit diesem System haben wir unsere Ausschussquote um 90 bis 95 Prozent reduziert“, beziffert Manfred Nußer den Nutzen dieser Lösung. Nußer ist in Friedrichshafen Fachreferent für Zerspanungsaufgaben und für die Planung von Betriebsmitteln und Maschinen verantwortlich. Neben der Verschleißkompensation und der Maßkonstanz freut er sich über die Möglichkeit, die Standzeit der Wendeschneidplatten voll nutzen zu können, ohne dabei das Risiko einer Störung einzugehen.
Anders als bei den aktorischen Werkzeugen, bei denen zusätzliche Bearbeitungsmöglichkeiten oder Verschleißkompensation im Vordergrund stehen, geht es bei den sensorischen Tools in erster Linie darum, die Prozessdaten möglichst exakt zu ermitteln und so den Ablauf zu überwachen oder zu studieren. Die gewonnenen Erkenntnisse helfen, das Leistungsvermögen von Maschine und Werkzeug ans Limit heranzufahren, ohne die Grenze zu überschreiten.
Lange, schlanke Werkzeuge wie Bohrer oder Gewindewerkzeuge bieten nicht genügend Raum, um die Sensoren im Werkzeug selbst unterzubringen. Die Messelemente sind deshalb in der Aufnahme des Tools angeordnet.
Im Rahmen des Accomat-Projekts entwickelten die Emuge-Werke aus Lauf, die Walter AG, Tübingen, JEL Präzisionswerkzeuge, Stuttgart, sowie das Institut für Produktionstechnik und Spanende Werkzeugmaschinen (PTW), Darmstadt, ein solches System. „Eine unserer Aufgaben dabei war es, zu untersuchen, welches Signal bei welchem Werkzeug und welcher Bearbeitung wichtig ist“, erläutert Dr. Marco Linß, Leiter Forschung und Entwicklung Gewindewerkzeuge bei Emuge. Die Franken erstellten für jeden Gewinde-Werkzeugtyp Kennlinienfelder. Anhand der Signale erkennt das System Störungen und leitet die erforderlichen Gegenmaßnahmen ein.
Einen Schritt weiter gehen Werkzeuge, bei denen die Sensorik in die Funktionsfläche integriert ist, wie etwa der „intelligente Drehmeißel“, der am WZL entwickelt wurde. Durch einen speziellen Schichtaufbau der Wendeschneidplatte ist es möglich, Prozessdaten direkt an der Bearbeitungsstelle zu ermitteln. Das erlaubt es dem Anwender beispielsweise, die Oberflächentemperatur kritischer Werkstücke während des Prozesses zu überwachen und zu dokumentieren. Das Tool wird damit zu einem Instrument der Qualitätssicherung. Darüber hinaus liefern die Daten Aufschluss über die thermische Belastung des Werkzeugs. Die Erkenntnisse helfen nicht nur, Leistungsgrenzen voll auszuschöpfen, ohne das Risiko von Störungen einzugehen. Sie bilden auch die Basis für Simulationstechniken.
Noch sind die beschriebenen Systeme zu teuer, um in der Serie eingesetzt zu werden. Doch gerade bei teueren, aufwendigen Werkstücken könnten sie das Ausschussrisiko deutlich vermindern. Für die Massenproduktion sieht Dr. Dirk Kammermeier, Entwicklungsleiter Standardwerkzeuge bei der Kennametal Hertel GmbH & Co. KG, Fürth, die Zukunft eher bei qualitativ hochwertigen, preiswerten Einweg-Werkzeugen, die eine genau definierte Standzeit erreichen müssen und danach entsorgt werden. „Unsere Großserienkunden wollen keine Daten auswerten. Für sie zählt nur, dass die Produktion problemlos läuft.“
„Zusätzliche Achsen ermöglichen es, komplexe Teile flexibel zu bearbeiten“
Prof. Dr. Fritz Klocke ist Direktor des Werkzeugmaschinenlabors (WZL) der RWTH Aachen und Direktor des Fraunhofer Institut Produktionstechnologie (IPT), Aachen. Unter seiner Leitung entwickeln Wissenschaftler Werkzeugsysteme der Zukunft.
Herr Prof. Klocke, was versteht man unter intelligenten Werkzeugen?
Der Begriff soll ausdrücken, dass sich diese Werkzeuge an veränderte Bedingungen anpassen. Treffender fände ich allerdings, von adaptierbaren Tools zu sprechen. Denn intelligent sind nicht die Werkzeuge, sondern diejenigen, die sie entwickeln.
Wo werden diese Systeme eingesetzt?
Sensorische Werkzeuge bieten in erster Linie die Möglichkeit, Prozesse zu studieren oder zu überwachen. Sie nehmen meist Kräfte oder Temperaturen auf. Aktorische Systeme sind immer dann ein Thema, wenn es darum geht, Teile sehr genau und reproduzierbar zu bearbeiten. Durch integrierte Antriebseinheiten können sie zusätzliche Bewegungen in einer oder mehreren Achsen ausführen. Sie bieten dem Anwender derzeit sicher den größeren Nutzen als ihre sensorischen Kollegen.
Gefährdet der komplexe Aufbau aktorischer Systeme nicht die Prozesssicherheit?
Das muss im Einzelfall untersucht werden. Diese Werkzeuge erlauben Bearbeitungen, die bisher nicht oder nur mit sehr aufwendiger Technik möglich waren. Natürlich entsteht durch den Einbau zusätzlicher Funktionen auch die Gefahr einer höheren Störanfälligkeit. Aus Sicht des Anwenders ist das einfachste Werkzeug, das seine Anforderungen erfüllt, immer das beste.
Wo sehen Sie die Zukunft solcher Systeme?
In autonomen Fertigungssystemen, in denen wir verschiedene Prozesse betreiben und komplexe Teile in immer kleineren Stückzahlen produzieren, werden solche Werkzeuge an Bedeutung gewinnen. Neben hoher Flexibilität und der Möglichkeit, komplexe Bearbeitungen wirtschaftlich auszuführen, werden die Überwachung des Werkzeugs, das Prozessmonitoring sowie das Störungsmanagement immer wichtiger. Wie das umgesetzt wird, muss man am Gesamtsystem entscheiden. Wenn der Blick zu sehr auf das Teilsystem Werkzeug fokussiert ist, optimiert man möglicherweise am falschen Ende.
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