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Wenn die Lehrlinge selbst alle Strippen ziehen

Pilotprojekt für praxisorientierte Lehrlingsausbildung
Wenn die Lehrlinge selbst alle Strippen ziehen

Bei Siemens übernehmen dieLehrlinge das Ruder. Im Werk Böhlitz-Ehrenberg bei Leipzig fertigen angehende Energieelektroniker in einem eigenen Produktionsbereich selbstständig Niederspannungs-Schaltschränke. Nach guten Erfahrungen soll das Pilotprojekt ausgebaut werden.

Stefan Schroeter ist Journalist in Leipzig

D ie Lehrlinge haben im Siemens-Werk Böhlitz-Ehrenberg bei Leipzig das Steuer übernommen. Zumindest in einem Montagebereich für Niederspannungs-Schaltanlagen. Seit Herbst bauen jeweils acht bis zehn angehende Energieelektroniker vom ersten bis vierten Lehrjahr weitgehend selbstständig Schaltschränke für Chemiewerke, Kraftwerke oder Flughäfen zusammen.
„Das ist interessanter als in der Lehrwerkstatt“, findet Katja Angelmann aus dem dritten Lehrjahr. „Hier lernt man halt mehr. Und es macht mehr Spaß, weil man weiß, dass das Produkt irgendwohin geliefert wird.“ Katja ist derzeit als Assistentin der beiden Ausbilder dafür verantwortlich, die Montage der Schaltschränke vorzubereiten und termingerecht abzuschließen. Die Schaltschränke, die die Azubis gerade montieren, gehen an einen Kunden in Holland.
Einen Kommando-Ton gegenüber ihren Mit-Lehrlingen kann sich Katja Angelmann freilich nicht leisten. Denn beim nächsten Projekt wird sie selbst wieder die Strippen in den Schaltschränken selbst ziehen. „Die Lehrlinge wechseln immer wieder die Perspektive und werden dadurch teamfähig“, erklärt Jens Pfaff, Leiter für Technische Bildung. will die künftigen Facharbeiter schon früh mit der praktischen Arbeit vertraut zu machen. Dabei erhalten sie Einblick in betriebliche Abläufe und übernehmen die Verantwortung für Kosten, Qualität und Liefertermine.
Insgesamt sind 30 Lehrlinge der Ausbildungsstätte Siemens Professional Education Leipzig (SPE) in das Projekt einbezogen, die dort einen Teil ihrer Praxis-Ausbildung absolvieren. Ein anderer Teil wird nach wie vor in der Lehrwerkstatt absolviert. Dort arbeiten die Lehrlinge auch an Projekten, die keinen so engen Praxis-Bezug haben wie im Böhlitz-Ehrenberger Pilotprojekt. „Die meisten Produkte werden dort zu Trainingszwecken hergestellt“, so Pfaff. Ein durchaus beabsichtigter Effekt des Pilotprojektes ist es, dass Ausbilder und Lehrlinge ihre gesammelten Erfahrungen auch in die Projektarbeit der Lehrwerkstatt zurückfließen lassen.
Die Projekte, die die Lehrlinge bearbeiten, werden zunächst regulär von einem erfahrenen Auftragsbearbeiter vorbereitet. Er klärt mit dem Kunden die Einzelheiten des Schaltschranks, erarbeitet die technische Dokumentation und löst die Aufträge für Zulieferteile aus, die im Werk nicht ständig verfügbar sind. Für die Azubis beginnt das Projekt damit, dass sie sich mit dem Auftragsbearbeiter an einen Tisch setzen und die Aufgabe besprechen. Arbeitsorganisation und Materialbeschaffung übernehmen sie dabei selbst. Unterstützt werden sie von zwei Ausbildern, die wie Vorarbeiter agieren. Vor dem Start des Pilotprojekts hatten sie im Werk mitgearbeitet, um den Produktionsprozess genau zu lernen.
Für jeweils vier Wochen übernimmt ein Azubi als Assistentin oder Assistent Koordinations-Aufgaben. Die Betreffenden bereiten Projekte vor, beschaffen Material, verteilen Arbeiten und achten darauf, dass Termine eingehalten werden. Dabei kommen sie auch in reale Stress-Situationen, wenn ein Lieferant ausfällt, Fehler ausgebügelt werden müssen und der Liefertermin näher rückt. Mitunter lernen sie selbst die Kunden kennen, die sich ein Bild von der Montage ihrer Schaltschränke machen wollen. Die Kunden zeigen sich dem Projekt gegenüber aufgeschlossen: „Solange die Qualität stimmt, gibt es keine Probleme“, berichtet Werksleiter Wilke Lübben. Die Facharbeiter haben sich nach anfänglicher Skepsis inzwischen ebenfalls mit dem Lehrlings-Projekt in ihrer Montagehalle angefreundet.
Um die Qualität zu sichern, wird unter den Lehrlingen ein Prüfer eingeteilt, der die Schaltschränke nach der offiziellen Checkliste begutachtet und notfalls nacharbeiten lässt. Ganz reibungslos läuft es nicht immer ab, wenn ein Lehrling dem anderen Aufgaben übergibt oder Fehler kritisiert. „Aber meistens kommen wir miteinander klar“, meint Katja Angelmann. Weil jeder Lehrling einmal in eine solche Führungsposition rutscht, können sich Talente beweisen und entwickeln. Allerdings achtet SPE darauf, dass die Gruppen ausgeglichen besetzt sind. „Damit können die Führungs-Persönlichkeiten auch die anderen Lehrlinge in ihrer Entwicklung fördern“, erklärt SPE-Leiter Joachim Luchterhand.
Bei aller Eigenverantwortung werden die Schaltschränke vor Auslieferung derzeit noch von den Profis geprüft. Meist mit guten Ergebnissen: „Die Qualität ist erstaunlich hoch“, erklärt Lübben. „Die jungen Leute wollen Leistung abliefern und sich beweisen.“ Möglicherweise könne man die Prüfung später auch ganz von den Mädchen und Jungen erledigen lassen. Disposition, Abrechnung und Controlling könnten ebenfalls in ihre Hände übergehen, wenn auch kaufmännische Lehrlinge mit einbezogen werden.
Nur bei der Produktivität schauen Ausbilder und Werksleitung nicht ganz so streng hin: „Wir müssen die Lehrlinge ja an den Anlagen mit neuen Kenntnissen vertraut machen und Fertigkeiten und erlernen lassen“, erklärt Pfaff. Tempo-Vergleiche mit eingespielten Facharbeiter-Kolonnen will er deshalb überhaupt nicht ziehen. Auch wenn die Montage mitunter etwas länger dauern kann, garantiert Pfaff in jedem Fall dafür, dass die Liefertermine nicht in Gefahr geraten: Notfalls arbeiten die Mädchen und Jungen einmal länger oder rufen in brenzligen Situationen Verstärkung aus der Lehrwerkstatt.
Für die Werksleitung lohnt sich das Projekt: Durch den Verkauf der Schaltanlagen macht sich der höhere innerbetriebliche Aufwand bezahlt. „Wir haben einen kleinen wirtschaftlichen Vorteil“, so Lübben. Vor allem rechnet er damit, dass er künftig praxiserfahrene Lehrlinge einstellen kann, die es gewohnt sind, Verantwortung zu übernehmen. „Auf diese Weise können wir Talente viel früher erkennen.“ Darum bemüht sich Lübben auch im normalen Produktions-Alltag: Musste sich früher ein Facharbeiter gewöhnlich 10 bis 15 Jahre beweisen, bis er zum Vorarbeiter oder Prüfer aufrücken konnte, kann er das inzwischen in zwei Jahren schaffen. Denkt der Werksleiter an seine eigene Lehrzeit zurück, könnte er glatt neidisch werden: „Wir haben damals noch Bier geholt und andere Hilfsarbeiten erledigt. Das kann sich in der heutigen Wissensgesellschaft kein Unternehmen mehr leisten.“
Portrait: Siemens-Werk Böhlitz-Ehrenberg
Das Werk Böhlitz-Ehrenberg bei Leipzig ist im Siemens-Konzern die zentrale Fertigungsstätte für Niederspannungs-Schaltgeräte-Kombinationen und Systemschränke. Im Werk arbeiten 270 Ingenieure, Techniker und Facharbeiter, hinzu kommen 100 Mitarbeiter bei Zuliefer-Unternehmen in der Region. Im vergangenen Geschäftsjahr erwirtschaftete das Werk einen Umsatz von 55 Mio. Euro. In den vergangenen zehn Jahren hat Siemens in den ehemalige VEB Starkstromanlagenbau Leipzig-Halle 18 Mio. Euro investiert. 1993 wurde auch die bis dahin in Frankfurt/M. angesiedelte Fertigung nach Böhlitz-Ehrenberg verlagert. Seitdem hat sich die Produktion verdreifacht.
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