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Wenn nach der Lehre nichts mehr kommt, gehen die Besten

Modellversuch Zusatzqualifikationen: Betriebe und Azubis wollen Lernstoff außer der Reihe
Wenn nach der Lehre nichts mehr kommt, gehen die Besten

Um die betriebliche Lehre für lernstarke Jugendliche attraktiver zu machen, ohne die Schwächeren zu verprellen, wurde in Modellversuchen das Konzept der Zusatzqualifikationen erprobt.

Peter Becker ist Journalist in Berlin

Das Bildungssystem muss flexibler auf die Wünsche der Betriebe reagieren“, sagt Professor Dr. Helmut Putz, Generalsekretär des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB), Bonn. Er gibt damit die Leitlinie wieder, die auch die Bundesbildungsministerin vertritt. Das Zauberwort dafür heißt: Zusatzqualifikationen.
Gemeint sind damit einzelne Fertigkeiten und Fähigkeiten, die neben dem klassischen Stoff in der Ausbildung vermittelt werden. Das können fachliche Vertiefungen wie aktuelle C-Techniken sein, aber auch fachübergreifende Kompetenzen, also Zusatzwissen aus verwandten Berufen, genauso organisatorisches Know-how wie Projektmanagement, Prozessoptimierung oder Controlling. Damit nicht genug: Immer stärkeres Gewicht legen zahlreiche Betriebe auf soziale Kompetenzen wie Teamfähigkeit oder Umgang mit dem Kunden.
Damit will man nicht nur die Inhalte der Berufsbildung jeweils schnellstmöglich auf den aktuellsten Stand bringen. Hintergedanke ist auch, die betriebliche Lehre attraktiver zu machen. Denn das Duale System „steht in Konkurrenz insbesondere zu Fachhochschulen und Berufsakademien“, so BIBB-Chef Pütz. Man will einerseits die leistungsstarken Jugendlichen gewinnen, ohne andererseits die Schwächeren zu überfordern.
Seit Mitte der Neunziger ist das Konzept in der Diskussion, und kürzlich stellte das BIBB die Erfahrungen aus seinem Forschungsschwerpunkt mit 14 Modellversuchen vor. Dort wurde das Konzept in verschiedenen Branchen und Berufen getestet.
Sich selbständig Wissen aneignen wird Schlüsselkompetenz
In einem Projekt in Stuttgart ging es zum Beispiel um Kompetenzen aus dem Bereich Sanitär-Heizung-Klima, die Elektro-Azubis vermittelt wurden. Denn: Der Kunde will nicht, wenn er etwa sein Bad renovieren lässt, dass er mehrere Handwerker engagieren muss. Zusatzqualifikation war hier nicht nur gewerkeübergreifendes Know-how, sondern auch ganzheitliche Auftragserledigung: Die Planung der Arbeiten wurde im Technologiezentrum der Innung simuliert und danach in der Lehrwerkstatt am Modell ausgeführt. Die Ergebnisse scheinen positiv, und die Übertragung auf den betrieblichen Alltag sollte möglich sein.
Altbekannt sind Zusatzqualifikationen in Form von Seminaren, die als Weiterbildung vermittelt werden. Wie weit man die Idee jedoch auch in der Ausbildung treiben kann, zeigt die Telekom. Für sie sind die Kompetenzen-außer-der-Reihe inzwischen „ein strategischer Begriff“, so Johannes Koch vom Friedrichsdorfer Büro für Bildungsplanung, das den Kommunikationskonzern in Sachen Aus- und Weiterbildung berät. Gemeint ist damit, dass man mit den Zusatzqualifikationen die Azubis dazu bringen will, dass „sie die Innovationen im Unternehmen tragen“.
Das ist eine weitreichende Aussage, die jedoch nur den Anforderungen der Realität geschuldet ist. Hintergrund ist nämlich, dass die Gerätegenerationen in immer kürzeren Abständen aufeinander folgen. Permanent muss also der Belegschaft vermittelt werden, was das jeweils Neueste ist und wie es funktioniert – und dafür will die Telekom gerade die Azubis fit machen.
In Projekten erarbeiten die Lehrlinge sich in Eigenregie und nur anhand der für alle zugänglichen Materialien das Gerätewissen. Die Zusatzqualifikation, die sie bei solcherart Recherchieren bekommen, heißt Selbstlernkompetenz. Sie meint die Fähigkeit, sich selbständig Know-how aneignen zu können und gilt als eine der Schlüsselqualifikationen der Zukunft.
Das Gelernte geben die Azubis dann an die Kollegen weiter (Kompetenz zum Präsentieren). „Der wertvollste Mitarbeiter im Unternehmen der Zukunft wird derjenige sein, der am meisten Wissen erarbeitet und weitergibt“, so Ausbildungsberater Koch zum Stellenwert der Zusatzqualifikationen.
Doch damit nicht genug: Die Azubis werden auch auf die Kunden losgelassen, und dabei hat sich gezeigt, dass sie es sind, die in den T-Shops die höchsten Umsätze machen. Hier geht es um soziale Kompetenzen, Zuhören können, Reden lernen, überzeugend Auftreten. Die ersten Ergebnisse seien schon zu sehen, berichtet Joachim Rottluff, Unternehmensberater im Dienst der Telekom. „Wir bekommen bessere Bewerber als früher und haben kaum mehr Fälle, wo die Jugendlichen nicht erscheinen, obwohl sie unseren Ausbildungsvertrag unterschrieben haben.“ Außerdem werde innerhalb des Konzern die Ausbildungsabteilung jetzt wieder höher geschätzt.
Und den jungen Leuten selbst scheinen die Zusatzqualifikationen auch bessere Chancen am Arbeitsmarkt zu bringen. Ein Problem für den Mutterkonzern ist inzwischen, dass die Telekom-Töchter die frisch gebackenen Fachkräfte mit lukrativen Angeboten abzuwerben versuchen.
An dem Telekom-Modellversuch lässt sich eine der Erfolgsbedingungen für Zusatzqualifikationen ablesen: Das, was vermittelt wird, muss am Bedarf des Unternehmens orientiert sein. Das klingt banal. In vielen Fällen ist es jedoch nicht gewährleistet, etwa wenn externe Berater nur für eine kurze Zeit hinzugezogen werden. Vorteilhaft ist deshalb, wenn der Betrieb selber die Lernmodule organisiert.
Für kleine und mittlere Unternehmen wird dies aber nicht möglich sein. Dann bieten Kooperationen vielfältige Möglichkeiten, wie sich bei den Modellversuchen gezeigt hat: In einigen Fällen wurde Zusammenarbeit im Verbund praktiziert; häufig waren es die Kammern, die die Lernmodule auf die Beine stellen. Dr. Dorothea Schemme, die beim BIBB die Modellversuche wissenschaftlich begleitet hat, sieht hier sogar Chancen für private Anbieter: „Auf jeden Fall wird ein Markt entstehen.“
Meisterprüfung und Fachhochschuldiplom auf einen Streich
Wie weit Kooperation gehen kann, zeigt ein Modellversuch aus Rostock, der die Schranken unseres Bildungssystem sprengt. Dort lockt man die Azubis nämlich nicht nur sozusagen mit Extrahäppchen. Dort gehen die Jugendlichen ganz hoch hinaus: Sie beginnen als Lehrlinge in Industrieberufen und enden nach siebeneinhalb Jahren als Fachhochschulingenieure – und haben unterwegs auch noch die Meisterprüfung absolviert (siehe Interview).
Wie dieses schier unmögliche Pensum zu absolvieren ist? Durch Entrümpelung des Lernstoffs, möglich gemacht durch enge Kooperation zwischen den beteiligten Betrieben, der Rostocker Industrie- und Handelskammer, der Fachhochschule Stralsund und dem Bildungsministerium in Mecklenburg-Vorpommern.
Aber der Reihe nach. Hintergrund des Modellversuchs war die prekäre Lage der Werftindustrie in Mecklenburg-Vorpommern. Sie hat es möglich gemacht, heilige Kühe zu schlachten. Problem war unter anderem die Abwanderung der jungen Leute. „Für unsere Ausbildungsplätze bekamen wir nur noch Bewerber mit der Note drei und schlechter“, berichtet Ulrich Berwald vom Ingenieurbüro MET, einer der Väter der Idee. „Die guten Azubis hatten jegliches Interesse an der Branche verloren.“
Also setzten sich alle Beteiligten zusammen. 17 mittelständische Firmen formulierten ihren Bedarf an Qualifikationen. Danach wurden in Zusammenarbeit aller Beteiligten die Curricula von Ausbildung, Fachoberschule und Studium überprüft.
„Aus 3200 Berufsschulstunden über drei Jahre haben wir 1850 gemacht“, umreißt Berwald die Entrümpelung, „das nur dadurch, dass Doppelungen heraus genommen und theoretische Teile in praktische Projekte am Arbeitsplatz verlagert wurden“.
So wurde es möglich, dass die Azubis in reduzierter Zeit von drei Jahren ihre Facharbeiterprüfung und gleichzeitig den Fachoberschulabschluss hinlegen. Und weil auch Studienstoff und die Meisterprüfung miteinander abgeglichen wurden, machen die Azubis, inzwischen zu Studenten geworden, parallel zum Grundstudium an der Fachhochschule den Meister in ihrem Fach. Zum Schluss nach siebeneinhalb oder acht Jahren absolvieren sie die Diplomprüfung.
Kooperiert wurde hier nicht nur bei der Verschlankung des Lernstoffs. Kooperiert wird auch bei den praktischen Projekten, die ein wesentlicher Bestandteil des Lernmarathons sind. Die Themen kommen nämlich aus den Betrieben – das heißt: die jungen Leute bearbeiten Stoffe, an dem ihre Firmen auch ein wirtschaftliches Interesse haben. Insbesondere gilt das für die Diplomarbeit.
Klar ist das Ziel dieses Mega-Lernens: „Es geht darum, Führungskräfte heranzuziehen“, sagt Berwald, „aber solche Führungskräfte, die die betriebliche Realität kennen“. Von den ursprünglich 33 Azubis, die 1996 starteten, sind noch 24 im Rennen, das heißt im Grundstudium an der Fachhochschule. Abbrecher aus Überforderung habe es keine gegeben, so Berwald, „die Fluktuation ist normal“.
Maßgeschneiderte Ausbildung für Azubis und Betriebe
Das Modell scheint zu einer festen Einrichtung zu werden: Im zweiten und dritten Durchgang lernen 40 junge Leute, und derzeit wird der vierte Durchgang vorbereitet. Inzwischen ist die Zahl der beteiligten Firmen auf 26 gestiegen.
Bei diesem Projekt wird eine weitere Bedingung für einen Erfolg von Zusatzqualifikation sichtbar. Es ist einerseits „das Vertrauen der Bildungspartner untereinander“ (Berwald) und andererseits die Betreuung der Jugendlichen. Ein sogenannter Leitbetrieb, in diesem Fall Berwalds Arbeitgeber MET, organisiert das Netzwerk aller Beteiligten. Auch in dieser Hinsicht ist der Modellversuch innovativ – er zeigt, was bei gutem Willen aller machbar ist. Das gilt übrigens auch für das Kreiswehrersatzamt.
Die Landesregierung von Meck-Pomm präsentiert sich auch über den Modellversuch hinaus reformfreudig: In dem Bundesland an der Ostsee gibt es Versuche mit der Kombination von Abitur und Lehre, wie sie in der Erweiterten Oberschule (EOS) der DDR üblich war. In der Berufsausbildung gibt es also – nicht nur im Osten – viel Neues.
Infos zum Modell
Informationen zu den Modellversuchen über Zusatzqualifikationen sind beim Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) zu bekommen. Dr. Dorothea Schemme betreut das Thema. Sie ist per Telefon unter 0228/107-1512 oder per E-Mail unter schemme@bibb.de zu erreichen.
Von ihr wurde die Broschüre „Zusatzqualifikationen – ein Instrument zum Umgang mit betrieblichen Veränderungen und zur Personalentwicklung“ herausgegeben. Dort finden sich detaillierte Darstellungen der Modellversuche. Die Broschüre soll im Juli erscheinen und knapp 50 DM kosten. Sie ist zu beziehen unter der Bestellnummer 102.249 beim W. Bertelsmann Verlag, Tel. 0521/911 01 11, E-Mail: bestellung@wbv.de
Nachgefragt: „Fordern, Fördern und auch Feedback geben“
In einem Modellversuch in Mecklenburg-Vorpommern werden aus Lehrlingen in einem siebeneinhalbjährigen Qualifikationsmarathon Meister und Fachhochschulingenieure.
? Mit welchen Schulabschlüssen kommen die Azubis in den Modellversuch?
! Die Mindestnote auf dem Realschulzeugnis ist 2,5. Das hat die Kultusministerkonferenz jetzt so festgelegt. Ich bin damit nicht glücklich, denn mir ist das zu starr. Schließlich hatte einer unserer Teilnehmer im ersten Durchgang einen Hauptschulabschluss und er steht jetzt im Studium seinen Mann.
? Sie haben zwar den Lernstoff in dem Projekt entrümpelt, aber dennoch scheinen die Anforderungen extrem hochgesteckt zu sein.
! Wir schenken den Leuten nichts. Aber wir motivieren sie auch, und es ist beinahe unglaublich, was die jungen Leute dann leisten. Wir fordern sie, aber wir fördern sie auch. Und wir kümmern uns um sie, geben ihnen Feedback, wie das so schön neudeutsch heißt.
? Der Aufwand ist höher als in einer normalen Ausbildung?
! Ja. Während der dreijährigen Lehrzeit kommen auf die Firmen im Verbund etwa 4200 DM pro Azubi zu. Während des Studiums sind es dann insgesamt rund 7000 DM. Mit diesen Beiträgen werden zum Beispiel spezielle Bildungsleistungen eingekauft und wird meine Rolle als Betreuer honoriert, wenn ich die Projekte der Studenten mit den Unternehmen zusammen begleite.
? Wie geht das während des Studiums: gleichzeitig im Betrieb und an der FH?
! Die Studenten sind acht Monate in der Firma und vier im Studium. Doppelbelastung ist angesagt. Hier ist Koordination durch einen Betreuer notwendig und Kooperation aller Beteiligten.
? Bekommen die Studenten Bafög oder etwas Ähnliches?
! Nein. Wir wollen dem Staat nicht zur Last fallen. Die Leute müssen so viel verdienen, dass sie davon leben können.
? Haben die Firmen keine Angst, dass die Ingenieure nach dem Diplomabschluss weggehen könnten?
! Es gibt in den Verträgen Regelungen über Rückzahlungen, die dann zu zahlen wären. Aber das ist pro forma. Ich sage ihnen: Wenn eine Firma jungen Leuten solch einen Qualifikationsweg bietet, sie danach auf einen Führungsposten bringt und sich auch sonst um sie kümmert, dann gehen die Leute nicht weg.
Das Gespräch führte Peter Becker
Industrieanzeiger
Titelbild Industrieanzeiger 6
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