Zehn Monate nach dem Machtwechsel herrscht Katzenjammer in der Ukraine. Der Streit um unterschiedliche wirtschaftspolitische Konzepte und gegenseitige Korruptionsvorwürfe innerhalb der neuen Führungsmannschaft verunsicherten in- und ausländische Investoren und führten im September schließlich zur Auswechslung der Regierung durch Präsident Juschtschenko. Die Ernüchterung in- und ausländischer Investoren dürfte auch zur deutlichen Abschwächung der Wachstumsdynamik beigetragen haben: In den ersten drei Quartalen 2005 stieg das ukrainische Bruttoinlandsprodukt real nur noch um 2,8 %, nachdem es im Jahr 2004 noch um 12,1 % gewachsen war.
Die Ukraine lockt durchaus mit attraktiven Standortbedingungen: Mit 48 Millionen Einwohnern ist das Land nach Russland der zweitgrößte mittel- und osteuropäische Markt, verfügt über relativ gut ausgebildete Arbeitskräfte, ein niedriges Lohnniveau und ist seit der Osterweiterung im Vorjahr unmittelbarer Nachbar der Europäischen Union. Im Rahmen der so genannten „Europäischen Nachbarschaftspolitik“ wird das Land zudem schrittweise an diese herangeführt.
Während sich die traditionellen Industriezweige des Landes – vor allem die Metallurgie – im Ostteil des Landes befinden, hat zuletzt die strukturschwache Westukraine als Standort für die Automobil- und Automobilzulieferindustrie, aber auch für die Textil- und Metallverarbeitung, an Bedeutung gewonnen. Neben der geografischen Nähe zur EU, insbesondere zu den neuen mittel- und osteuropäischen Automobilstandorten in Polen, Ungarn und der Slowakei, profitieren die westlichen Regionen von den im Landesvergleich niedrigen Löhnen. Nach Angaben des ukrainischen Statistikamtes waren die Durchschnittslöhne in den drei westukrainischen Gebieten Lviv (Lemberg), Zakarpattya und Volyn im August 2005 mit 620 bis 743 UAH (rund 102 bis 122 Euro) deutlich niedriger als im Landesdurchschnitt und nur etwa halb so hoch wie in der Hauptstadt Kiew. Daneben wartet der Westteil des Landes mit gut ausgebildeten Arbeitskräften und einem insgesamt investorenfreundlichen Umfeld auf. Die Ansiedlung weiterer internationaler Automobilhersteller, die wachsende Inlandsnachfrage nach Neuwagen und das Bemühen der ukrainischen Regierung, die einheimische Produktion etwa durch Beschränkungen beim Import von Zulieferteilen zu fördern, dürften dem westukrainischen Standort weiteren Auftrieb geben.
Mit einigen umstrittenen Entscheidungen der vergangenen Monate hat die ukrainische Regierung die Investitionsbedingungen allerdings verschlechtert. So wurde etwa die Umsatzsteuerbefreiung für Sacheinlagen in das Stammkapital von Kapitalgesellschaften abgeschafft und die Einfuhr von Material im Rahmen der Lohnveredelung durch neue zollrechtliche Bestimmungen erschwert. Ohnehin sollten bei der Standortentscheidung neben der geografischen Lage und den Lohnkosten auch das lokale Arbeitskräftepotenzial und die örtliche Wettbewerbssituation beachtet werden. Wichtig sind zudem gute und frühzeitige Kontakte zur Gebietsverwaltung und zur zuständigen Zollbehörde, um Standorterschließung und reibungslosen Produktionsfluss abzusichern. Trotz aller aktuellen Unwägbarkeiten und Unzulänglichkeiten dürfte nicht zuletzt das wachsende Lohngefälle zu den EU-Neumitgliedern der Ukraine und insbesondere deren westlichen Landesteil in die Hände spielen.
Ukraine profitiert vom wachsenden Lohngefälle zu EU-Neumitgliedern
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