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Zehn ungelernte Kommissionierer sind oft billiger als ein neues Anlagenlayout

Durch E-Commerce sinkt der Automatisierungsgrad im Lager, aber die Intelligenz steigt
Zehn ungelernte Kommissionierer sind oft billiger als ein neues Anlagenlayout

Wer seine Produkte auch per E-Commerce vertreibt, muss damit rechnen, dass sich seine Nachfrage verfielfacht. Fördertechnik und Lager müssen eine höhere Auftragsanzahl bewältigen. Experten erwarten, dass der Automatisierungsgrad zugunsten einer mannintensiveren Kommissionierung sinkt.

Von unserem Redaktionsmitglied Thomas Preuß

E-Commerce ist ein alter Hut. Tante Martha trug ihn schon vor achtzig Jahren: Sich nicht mehr vor die Haustür begeben und trotzdem nicht verhungern, das konnte sie auch. Sie hat ihren Mann einkaufen geschickt.
Doch E-Commerce ist mehr als nur einkaufen, ohne aus dem Haus zu gehen. Die gesamte Logistikkette ändert sich, inklusive der Lager- und Fördertechnik. Denn die Auftragsgrößen werden immer kleiner, aber die Anzahl der Order steigt. Dennoch kann „die manuelle Kommissionierung ebenso Teil des E-Commerce sein wie eine hohe Automatisierung mit schnellen Sortierelementen“, wie Karl-Heinz Langen erklärt. Langen ist Mitglied der Geschäftsführung der Mannesmann Dematic AG in Offenbach und erfahren im Systemgeschäft der Förder- und Lagertechnik.
Soll heißen: Wenn die alte Tante heute etwa bei „Einkauf 24“, dem virtuellen Shopsystem der Spar AG in Hamburg, übers Internet ihren Wochenendeinkauf ordert, läuft ein Mitarbeiter durch ein großes Lager und packt die Waren in eine Kiste. So weit, so manuell. Klickt Enkelin Martina aber auf ihrem Web-Browser die Homepage von Amazon an und bestellt Bücher oder CDs übers Internet, werden die aus einem großen Lager weitgehend automatisiert herausgeholt, verpackt und versandt.
Doch wie die beste technische Lösung aussieht, da streiten sich die Gelehrten. „Einfach eine große Halle hinstellen und viele Menschen machen lassen“, sagt Karl-Heinz Langen, „das kann es jedenfalls nicht sein.“ Eine Patentlösung kennt auch er nicht: „Die Wachstumsprozesse sind unüberschaubar.“
Durch E-Commerce können bestehende Lager, Förderstrecken und Kommissionieranlagen innerhalb weniger Monate viel zu klein werden. Denkbar, dass die Systeme sehr schnell um ein Zweifaches, Dreifaches, Vierfaches wachsen müssen. Eine Technik müsse das mitmachen, schildert Langen, zum Beispiel indem sie modular aufgebaut und ausbaufähig sei. Dass die Anbieter von Förder- und Lagertechnik mit der Nachfrageentwicklung nicht Schritt halten könnten oder die Technik zu langsam würde, glaubt der Fachmann nicht: „Viel wahrscheinlicher sind Lieferengpässe bei den eigentlichen Produkten.“ Die Geschwindigkeit ihrer High-Speed-Sorter beispielsweise will Dematic in den kommenden Jahren noch verdoppeln.
Außerdem werden Sorter und Lagerplätze heute mit Redundanz ausgelegt, weil die Kundschaft der Anwender nicht mehr so berechenbar ist wie früher. Doch ist das unkalkulierbare Wachstum nicht nur ein Problem des Platzes im Lager des Händlers, sondern auch der Zeit, die dem Anlagenlieferanten für Projektierung, Simulation und Durchführung zur Verfügung steht. „Heute hat ein Systemintegrator oft nur ein halbes Jahr, bis die Anlage stehen muss“, klagt Langen.
Wenn Märkte in Bewegung sind, kann es geschehen, dass aus einem B-Dreher schnell ein A-Dreher wird. Dass also ein Produkt auf einmal viel häufiger verlangt wird als früher. Darauf muss die Fördertechnik flink reagieren können. „Um den Zugriff zu sichern“, führt Spezialist Langen aus, „kann man etwa Spitzenprodukte an mehreren Stellen ablegen.“ Dass Schnelldreher in einem höher automatisierten Lager liegen, versteht sich von selbst. Manche Langsamdreher könnten dagegen manuell kommissioniert werden. Auf alle Eventualitäten lasse sich eine E-Commerce-Zentrale allerdings nicht auslegen.
Dass die Zukunft in einer Mischung aus schneller, zentraler Fördertechnik mit einer vorgelagerten, mannintensiven Kommissionierung liegt, glaubt Dr. Michael ten Hompel, Leiter des Dortmunder Fraunhofer-Instituts für Materialfluss und Logistik, IML: „Der Trend geht zurück zur manuellen Bearbeitung.“ Die biete höhere Flexibilität und sei daher oft besser, als die Fördertechnik auszubauen. „Zehn ungelernte Kommissionierer einzustellen“, meint ten Hompel, „ist eher machbar, als das gesamte Anlagenlayout umzuwerfen.“
In jedem Falle, davon ist der Logistik-Fachmann überzeugt, wird sich mancher Unternehmer noch umgucken. „Wenn der Zwischenhandel entfällt“, so Michael ten Hompel, „und das ist beim E-Commerce der Fall, tritt der Hersteller ja direkt am Markt auf.“ Und da hat er viel mehr einzelne Bestellungen zu bedienen, die der Kunde zeitnah ausgeliefert haben möchte. Das betreffe alle Branchen. „Im Stahlhandel hieße das beispielsweise, dass als Losgröße ein Coil gefordert wird, wo früher nichts unter 40 Tonnen lief.“
Als „geradezu teuflisch“ bezeichnet Heinrich Schönmaier, Leiter Marketing-Service der Knapp Logistik Automation GmbH im österreichischen Hart bei Graz, dass zukünftig viel mehr Aufträge pro Zeiteinheit über eine Anlage laufen müssen. Wenn der Endanwender selbst bestellt, könnte die Auftragsgröße in vielen Branchen um bis zu 70 % sinken. Die Orderanzahl wächst proportional dazu. „Wo früher 2000 Aufträge pro Stunde üblich waren, müssen heute 4000 bis 6000 Order in derselben Zeit durch die Anlage geschleust werden.“ Dies führe zu einer eher mannbezogenen Technik, etwa einem „Pick-to-belt“ mit manueller Entnahme, wobei die gepickten Produkte über aufwendige Sortertechniken auseinander- und wieder zusammengeführt werden. Im Mittelpunkt stehe die hohe Verfügbarkeit und Auslastung der Anlage, wie auch immer sie erreicht wird. Kommissionierroboter oder automatisierte Ware-zum-Mann-Systeme sind angesichts der gewünschten Durchsätze oft überfordert.
„Dass mit dem E-Commerce der Automatisierungsgrad sinkt, ist eigentlich paradox“, sagt Schönmaier. Doch „dafür steigt die Intelligenz im Lager“. Schönmaier meint nicht die der Mitarbeiter, sondern die künstliche. „Heute werden die Aufträge nicht mehr grob zusammengestellt wie bis vor einigen Jahren. Im Vordergrund steht nun die Simulation.“ Die Software gestaltet die Abläufe im Lager zeit- und wegeoptimiert.
Software ist der Dreh- und Angelpunkt eines erfolgreichen E-Commerce. Das sagt jedenfalls Horst Matzer, der das Service-Center bei Knapp leitet. Die Österreicher bieten nämlich nicht nur Förder- und Kommissioniertechnik für E-Commerce-Anwendungen an, sondern betreiben selbst eine E-Commerce-Plattform für ihre Kunden. „Bei uns kann der Kunde zukünftig alle Ersatzteile für seine Anlage elektronisch bestellen“, erläutert Matzer. Und per E-Commerce soll das viel einfacher gehen als bislang.
Dazu verwaltet Knapp alle Datenstämme der von ihnen errichteten Anlagen. Kein Pappenstiel, denn so eine Förderanlage besteht aus Tausenden von Teilen. „Die sind natürlich in Baugruppen zusammengefasst.“ Sie alle müssen elektronisch abgebildet werden, so dass ein Kunde letztlich anhand einer Nummer das Ersatzteil bestellt. „Man spart dabei aber nur“, verrät Matzer, „wenn die Bestellung schon so hereinkommt, dass die Baugruppen sofort nach fertigungsrelevanten Teilen aufgelöst werden und dies die Produktion anstößt.“
Nur übers Internet bestellen, das sei gegenüber einer telefonischen oder einer Faxanfrage jedenfalls kein Fortschritt. Während derzeit noch in einem Beratungsgespräch am Telefon versucht wird, zu klären, welche Baugruppe denn nun betroffen ist, soll das zukünftig interaktiv übers World Wide Web geschehen. In diesem Falle aber, das gesteht Matzer zu, ändern sich nur die organisatorischen Abläufe im eigenen Unternehmen. An der Fördertechnik, im Lager oder am Produkt wird weder gespart, noch wandeln sie sich grundlegend.
Was sich im Zuge des E-Commerce jedoch wandeln dürfte, sagt Karl-Heinz Langen von Mannesmann Dematic, sei die Art der Produktverpackung. Denn aufgrund der höheren Nachfrage muss schneller gefördert werden. Der Transport muss umso schonender ablaufen, sonst nehmen die Produkte unter Umständen Schaden. Deshalb sei eine Zusammenarbeit der Verpackungsindustrie und der Materialfluss-Anbieter gefragt: Zerbrechliche Produkte müssten einfach eine neue Verpackung erhalten, um den Transportgeschwindigkeiten gewachsen zu sein. Artikel, die sich aufgrund ihrer unhandlichen oder komplexen Form nicht fördern ließen, sagt Langen, gebe es nicht: „Eigentlich geht alles.“
Was aber nicht gehen wird in der Zukunft des E-Commerce, das ist, überhöhte Preise am Markt durchzusetzen. Denn die „Transparenz des Marktes“, sagt IML-Forscher Michael ten Hompel, „wird zu einer viel stärkeren Konkurrenz führen.“ Stephan Schambach, Vorstandsvorsitzender der Intershop AG, Jena, sagt gar bei Produkten wie Kleidung, die in der Produktion nur einen Bruchteil des Ladenpreises kosten, „einen Preisverfall um 30 bis 50 Prozent“ voraus. Die schnelle Verfügbarkeit und kostengünstige Distribution der Ware wird damit zum existenziellen Faktor.
„Vor allem im Business-to-Business-Bereich“, ergänzt Dematic-Geschäftsführer Langen, „wird das Ziel sein, ein Qualitätsprodukt kostenoptimal in kürzester Zeit zur Verfügung stellen zu können.“ Wenn dann noch die Transparenz für den Kunden gegeben sei hinsichtlich Sendungsverfolgung und Termintreue, sei die logistische Kette geschlossen.
Das setzt eine durchgängige IT-Kompetenz voraus: vom Hersteller- bis zum Kunden-PC. Langen: „Der Kunde muss informiert werden können, wenn er das wünscht. Wo seine Bestellung liegt, was mit ihr gerade passiert.“ Er muss sich auch mit dem Provider über Termin und Ort der Übergabe abstimmen. „Das muss nicht am Heimatort stattfinden“, sagt Langen. „Es können zum Beispiel Abholstellen in Firmen entstehen, so dass der Mitarbeiter in der Mittagspause bestellt und abends sein Einkäufe mitnimmt.“
Geeignete Branchen
Welche Branchen sich für E-Commerce besonders eignen:
– Ersatzteilindustrie
– Versandhandel
– Lebensmittelindustrie
– Unterhaltungselektronik
– Pharmaindustrie
– Maschinenbau: für Schrauben und Ersatzteile
Interview: „Der Web-Auftritt als schickes Schaufenster ist zu wenig“
Manfred von Raven, Vorsitzender des Bereichsvorstands Produktions- und Logistiksysteme der Siemens AG, Nürnberg, sieht die Herausforderung des E-Commerce für die Logistik in dem Trend zu einer nachvollziehbaren, transparenten Materialverfolgung.
? Siemens bietet Hard- und Software für E-Logistik an. An wen richtet sich Ihr Angebot?
! Produktions- und Distributionslogistik und E-Commerce sind heute für alle Unternehmen lebenswichtig. Wir errichten beispielsweise große Frachtzentren für Paketdienste. Aber auch dem Mittelstand wollen wir helfen, seine Geschäfte über das Internet abzuwickeln.
? Was braucht er dazu?
! Er braucht eine funktionierende Logistik und eine Software, um seine Produkte auf dem Weg zum Kunden zu verfolgen. Ein Web-Auftritt reicht nicht aus, der ist zunächst mal nur ein schickes Schaufenster.
? Wie sieht Ihr Angebot im Einzelnen aus?
! Wir leisten die physikalische Verbringung von Produkten mit der zugehörigen Datenverarbeitung. In der Praxis heißt das, dass wir unseren Kunden zu Lösungen raten, beispielsweise Lagerhaltung oder Produktpuffer zu minimieren. Wir sind Logistikautomatisierer und wollen keine Internet-Portale betreiben.
? Schildern Sie bitte ein konkretes Beispiel.
! Will ein regional tätiger Mittelständler seine Geschäfte europaweit ausdehnen, braucht er Hilfe bei der Auswahl seiner Distributionswege. Wir schlagen ihm eine Lösung vor, die beispielsweise auch bedeuten könnte, dass er Produktpuffer in Italien oder Frankreich errichten müsste. Wir organisieren ihm also seinen Warenstrom in Hard- und Software.
? Lässt sich so etwas problemlos einrichten?
! Wir warnen unseren Kunden vor überzogenen Erwartungen in der derzeitigen E-Commerce-Euphorie. Der Fehler ist oft, dass Lieferanten voreilig zu Versprechungen neigen und ihren Kunden unnötigerweise einen 24-h-Lieferservice anbieten.
? Was ist Ihrer Meinung nach für die Investitionsgüterindustrie besser?
! Das Optimum ist in jedem Fall eine skalierbare und verlässliche Lösung. Man sollte hier mit unterschiedlichen Prioritätsstufen arbeiten, denn nicht alle Kunden brauchen das Produkt sofort. Viel wichtiger ist es, die pünktliche Zustellung durch eine zuverlässige Logistikprozesskette im Hintergrund zu garantieren.
Das Gespräch führte unser Redaktionsmitglied Werner Möller
Industrieanzeiger
Titelbild Industrieanzeiger 6
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