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Zwilling im Computer

Virtuelle Werkzeugmaschine: die Zukunft in der Arbeitsvorbereitung
Zwilling im Computer

Die Virtuelle Maschine bildet ihr reales Pendant und dessen Funktionen exakt im Computer ab. Sie entsteht aus den 3D-CAD-Daten der realen Maschine und nutzt die Originalsteuerung. An ihr kann der Bediener komplexe Jobs programmieren und realistisch simulieren. Und er kann viele Störungen, die beim Einrichten der wirklichen Maschine auftreten könnten, bereits im Vorfeld eliminieren.

Sie existiert nicht wirklich, sie lebt nur in den Tiefen eines Computers. Und doch funktioniert sie exakt so, wie ihre reale Schwester in der Werkstatt oder der Produktion – die Virtuelle Maschine (VM). Je komplexer die Bearbeitungsaufgabe, umso größer ist ihr Nutzenpotenzial. Bei 5-Achsen-Fräs- oder anspruchsvollen Dreh-Jobs soll sie die Einrichtzeit an einer Werkzeugmaschine um bis zu 80 % verkürzen und so die Produktivität deutlich steigern.

Während bislang übliche Maschinensimulationen auf CAD-Systemen aufbauten, lediglich Nachbildungen der Realität waren und bei vielen Maschinenbedienern Zurückhaltung oder gar Ablehnung auslösten, nutzt die Virtuelle Maschine den NC-Kern der Originalsteuerung – etwa der 840D von Siemens oder der iTNC 530 von Heidenhain. Dadurch stimmen alle Funktionen und Abläufe mit denen des realen Pendants überein. Am Original-Bedienfeld der echten Maschine – es ist Bestandteil jeder VM – finden sich Bediener ohne große Schulung sofort zurecht.
Der Hauptvorteil des Systems: „Das Einrichten und Programmieren komplexer Jobs erfolgt nicht mehr in der Werkstatt, sondern im Büro. Dort kann der Bediener die komplette Arbeitsvorbereitung unter realistischen Bedingungen erledigen, während die reale Maschine das tut, was ihre Aufgabe ist – Späne und damit Umsatz generieren“, sagt Stefan Großmann, Steuerungstechniker bei der Index-Werke GmbH & Co. KG in Esslingen. „Was dann zur Werkzeugmaschine kommt, sind fertige, bereits geprüfte Programme“, ergänzt Rudolf Hahn, Leiter Steuerungstechnik und Software-Entwicklung im Bielefelder Gildemeister-Konzern. „Sobald sie übertragen sind, kann die Bearbeitung starten und man hat die Sicherheit, dass alles fehlerfrei funktioniert.“ Vorsichtiges Anfahren der Werkstücke, eine Kollisionsprüfung, die Kontrolle, ob die Verfahrwege für die vorgesehene Bearbeitung ausreichen oder beispielsweise ein kürzeres Werkzeug benötigt wird, all das sei dann längst erledigt. Eine Kollisionskontrolle an der Maschine sei schön und gut, sie verhindere aber nur Schäden an der Fertigungs-Hardware, nicht jedoch Maschinenstillstände und Produktivitätsverluste, etwa infolge von Fehlerkorrekturen.
„Es wird ständig über Maschineneffizienz geredet, neue Modelle sollen immer schneller und dynamischer sein, aber hier Fortschritte zu erzielen, wird zunehmend schwieriger und teurer“, sagt Hahn. „Andererseits verschleudern viele Anwender alleine beim Einrichten ihrer Prozesse Minuten, oft sogar Stunden. An diesem Punkt setzt die Virtuelle Maschine an.“ Stefan Großmann von Index bestätigt Hahns Aussagen und hebt neben den kürzeren Einricht- und Umrüstzeiten sowie dem praktisch eliminierten Kollisionsrisiko einen weiteren Nutzenaspekt der Virtuellen Maschine hervor: das Optimieren der Teileprogramme hinsichtlich der Nebenzeiten. Gerade in Bezug darauf biete die VM Potenziale, die bisher noch kaum angedacht seien, sagt Großmann. „Auf einer realen Maschine ist das Risiko viel zu groß, mal eine ganz neue, vielleicht sogar zunächst abenteuerlich erscheinende Strategie auszuprobieren und so die Grenzen des Machbaren auszuloten. Mit der Virtuellen Maschine ist das ohne Risiko möglich. Wenn´s mal virtuell kracht, muss ich im schlimmsten Fall wieder zurück rüsten, bin dann aber um einiges Wissen über den optimalen Ablauf reicher.“
Anders als bei bisherigen Visualisierungssystemen sind Maschine und Arbeitsraum bei einer VM nicht aus modellierten Daten aufgebaut, sondern aus den 3D-Konstruktionsdaten des Maschinenherstellers. Und anders als die bisherigen Systeme, die allenfalls die Geometrie einer Werkzeugmaschine und ihre kinematischen Eigenschaften nachbilden konnten, berücksichtigt die Virtuelle Maschine die reale Dynamik der Achsen, also auch das Beschleunigungs- und Bremsverhalten, ebenso wie herstellerspezifische Einstellungen der Maschinenparameter und die umfassenden Funktionen von CNC und SPS. „Das Einbeziehen der SPS ist einer der entscheidenden Unterschiede unserer Virtuellen Maschine zu anderen Systemen“, betont Rudolf Hahn. „Nur so ist es möglich, beispielsweise auch Paletten- und Werkzeugwechsler korrekt in die Simulation einzubinden, und das ist die Voraussetzung, um Abläufe und Prozesse im Arbeitsraum sicher planen und verifizieren zu können.“ Ein weiterer Nachteil der klassischen Simulation: Weil Steuerungen und Maschinen ständig weiterentwickelt werden, hinken die nachgebildeten Systeme zwangsläufig der Realität immer hinterher.
Dass die Zukunft in der Simulation von Zerspanprozessen der Virtuellen Maschine gehört, bestätigt auch UGS PLM Software, Köln. Nur so ließen sich Hochleistungsprozesse sinnvoll nachbilden und effizient abarbeiten. Der zum Siemens-Konzern gehörende Anbieter von PLM-Software-Systemen sieht die Maschinenbauer nicht als Wettbewerber, sondern als potenzielle Partner. So ist das 3D-Simulationssystem Tecnomatix RealNC von UGS auch Bestandteil der Virtuellen Maschine von Index. Durch die Komplexität der Anwendungen seien solche Systeme nur in einer Kooperation zwischen Maschinen- und Simulationsanbieter zu realisieren. Stefan Großmann von Index ergänzt: „Das Problem für einen Software-Hersteller, der auf der Originalsteuerung aufbauen will, ist die Inbetriebnahme. Die maschinenspezifischen Parameter sind das Know-how des Maschinenherstellers und für Software-Anbieter nicht ohne weiteres zugänglich.“
Rudolf Hahn von DMG spricht einen weiteren Aspekt an: „Die Herausforderung für uns als Maschinenhersteller liegt nicht in der funktionalen Gestaltung der Virtuellen Maschine. Alle erforderlichen Daten liegen uns ohnehin aus der realen Welt vor. Das Problem war, diese Daten zusammenzuführen und die erforderlichen Schnittstellen – auch für externe Systeme – zu schaffen, damit der Kunde seine Daten einpflegen kann.“ Denn eine zu 100 % der Realität entsprechende Simulation macht nur dann Sinn, wenn der Anwender seine Werkzeuge, Spannmittel und Werkstücke mit möglichst geringem Aufwand ins System bekommt. Sowohl DMG als auch Index haben sich des Themas angenommen. Einfach und schnell lassen sich Nachbildungen komplexer Tools mit dem 3D-PartModeller (DMG) oder dem Werkzeug-Assistenten (Index) erstellen. Der Nachteil dieser Lösung: Weil nur die größten Abmessungen berücksichtigt werden, meldet das System möglicherweise bereits eine Kollision, wo in der Realität noch Luft ist. „Für viele Anwendungen – gerade in der Einzelteil oder Kleinserienfertigung, wo nicht die letzte Zehntelsekunde ausgereizt werden muss – reicht das aber aus“, sagt Großmann. Wenn´s genau sein muss, bieten beide Hersteller die Möglichkeit, 3D-CAD-Daten der eigenen Betriebsmittelkonstruktion sowie des Werkzeug- oder Spannmittelherstellers einfließen zu lassen. „Noch vor zwei Jahren war es kaum möglich, diese Daten von den Werkzeuganbietern zu bekommen“, erzählt Großmann. Inzwischen hätten die Unternehmen jedoch erkannt, dass sie ihren Kunden damit einen echten Mehrwert und sich selbst einen Wettbewerbsvorteil schaffen.
Doch auch die Virtuelle Maschine kann den Zerspanprozess noch nicht in allen Einzelheiten abbilden. „Die durchgängige, ganzheitliche Abbildung von Maschine und Prozess ist noch nicht reif für die Praxis“, sagt Dr. Frank Possel-Dölken, Geschäftsführer des vom Werkzeugmaschinenlabor (WZL) der RWTH Aachen initiierten Exzellenzclusters „Integrative Produktionstechnik für Hochlohnländer“. Anhand der aktuellen kommerziellen Systeme lasse sich beispielsweise noch nicht auf einfache und schnelle Weise feststellen, ob im Prozess Schwingungen oder Rattern auftreten, oder wie sich Werkzeug, Werkstück und Maschine unter den Prozesskräften verformen. Ebenso wenig lassen sich die komplexen Wechselwirkungen zwischen Werkstoff und Prozessparameter vorhersagen. „An diesen Fragen arbeiten die Institute. Ob und wann die Lösungen für breite Anwendungen wirtschaftlich interessant sein werden, lässt sich jedoch voraussichtlich erst in drei bis vier Jahren abschätzen.“
Während Gildemeister seine Virtuelle Maschine im letzten Jahr anlässlich der Messe AMB erstmals der Öffentlichkeit vorstellte und nach der EMO mit der Auslieferung beginnen will, hat Index bereits im Frühjahr 2006 die ersten von inzwischen rund hundert Systemen an Kunden ausgeliefert. Die Anwender kommen laut Eberhard Beck, Leiter Steuerungstechnik bei Index, aus den unterschiedlichsten Branchen und reichen vom 22-Mann-Lohnfertiger bis zum Großkonzern. Der Kleinserienfertiger profitiere vor allem von der Möglichkeit, seine Maschine schnell einrichten und umrüsten zu können und ohne Probewerkstück gleich zu einem geometrisch korrekten Teil zu kommen. Beim Großserienproduzenten stehe dagegen das Optimieren der Prozesse, das Ausreizen der letzten Reserven im Vordergrund. Die zuverlässige Kollisionskontrolle ist hier ein wichtiges Hilfsmittel.
Wo bei einfachen Bauteilen der Nutzen in der Arbeitsvorbereitung bescheiden bleibe, ergänzt Rudolf Hahn, sei die Virtuelle Maschine dennoch nicht uninteressant. Beispielsweise lasse sich die Bedienerschulung damit deutlich effizienter gestalten. „Bislang laufen die Steuerungs- und die Maschinenschulung meist getrennt. Mit diesem System kann man beides verbinden.“ Zudem werde die reale Maschine beim Einweisen neuer Mitarbeiter nicht blockiert. Auch in der Aus- und Weiterbildung an Berufs- und Hochschulen oder in den Lehrwerkstätten der Unternehmen könne mit der Virtuellen Maschine geschult werden.
Die neuesten Entwicklungsstufen ihrer Virtuellen Maschinen und deren Möglichkeiten präsentieren die Hersteller auf der Metallbearbeitungsmesse EMO in Hannover. Dort hatte Index vor zwei Jahren den ersten Prototypen einer im Computer lebenden Werkzeugmaschine vorgestellt.
Kundenspezifische Tools lassen sich leicht einbinden Bereits mehr als 100 Systeme im Alltagseinsatz

Virtuelle Maschine – ihr Nutzen
  • Die Werkstattprogrammierung lässt sich von der Maschine entkoppeln – komplexe Jobs können im Büro programmiert und verifiziert werden
  • Die Einrichtzeit an der Maschine und der Produktionsanlauf verkürzen sich um bis zu 80 %
  • Die Kollisionsbetrachtung in Echtzeit sorgt für fast 100%ige Produktions- sicherheit
  • Stückzeiten lassen sich exakt ermitteln
  • Aufträge lassen sich effizienter planen
  • Mit der Planungssicherheit steigt auch die mögliche Auslastung der Maschine
  • Maschinenbediener können sehr effizient unter realistischen Bedingungen aus- und weitergebildet werden, ohne die echte Maschine zu blockieren
  • Das Einrichten neuer und Anpassen bestehender Programme, ehe die reale Maschine angeliefert wird, könnte die Inbetriebnahme deutlich beschleunigen

  • Neue Technologien
    Die größten Produktivitätsreserven von Zerspanprozessen schlummern in den Nebenzeiten. Ein Ansatz, diese deutlich zu reduzieren, ist die Virtuelle Werkzeugmaschine. An ihr kann der Bediener Bearbeitungsprogramme erstellen, verifizieren und fix und fertig auf die echte Maschine überspielen. Das Ergebnis: mehr Zeit fürs produktive Zerspanen, bis zu 80 % kürzere Einrichtzeiten und praktisch kein Kollisionsrisiko mehr.
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