Fahrerlose Transportsysteme (FTS) manuell steuern? Das klingt zunächst nach einem Widerspruch, denn eigentlich ist die Technik dafür gemacht, Transportgut ohne menschliches Zutun zu bewegen – zum Beispiel vom Lager in die Produktion oder von einem Montagearbeitsplatz zum nächsten.
Solche Fahrzeuge ohne Steuermann bewegen sich in der Regel auf festen Routen durch die Fabrik und erledigen automatisch immer die gleichen Aufgaben. Doch wie bei jedem technischen System treten auch bei FTS gelegentlich Störungen auf. Beispielsweise, wenn ein Hindernis den Weg blockiert und das Fahrzeug dieses nicht umfahren kann, ohne dabei die vorgegebene Route zu verlassen. Die meisten FTS bleiben dann einfach stehen, bis jemand das Hindernis beiseite räumt und der Weg wieder frei ist. Die zweite Möglichkeit ist, dass das Fahrzeug manuell um das Hindernis herum gesteuert wird.
Bei großen Transportfahrzeugen wie einem Gabelstapler ist es möglich, dass sich ein Mitarbeiter einfach hinters Steuer setzt. Allerdings muss der sich gerade in der Nähe befinden und zudem einen entsprechenden Führerschein haben. Bei kleineren Transporteinheiten ist das nicht so einfach. Diese könnten zwar manuell um das Hindernis herum bewegt werden, doch das kann zu einem Sicherheitsrisiko für den Mitarbeiter werden und zu Schäden am Fahrzeug führen. Deshalb wird in so einem Fall in der Regel manuell über die Leitsteuerung eingegriffen.
Die Leitsteuerung legt fest, welches Fahrzeug auf welcher Route welche Aufträge in welcher Reihenfolge erledigt. Um hier einzugreifen, sind nicht nur Fachkenntnisse erforderlich, sondern auch spezielle Zugriffsrechte, die aus Sicherheitsgründen normal nur ein oder zwei Mitarbeiter im Betrieb besitzen. In kleinen Unternehmen kann es sogar sein, dass niemand auf die Leitsteuerung zugreifen kann und bei jeder Störung der Hersteller des FTS angerufen werden muss. Das ist zeit- und kostenintensiv und keine wirklich gute Lösung.
Für dieses offensichtliche Problem haben die Wissenschaftler am Institut für Integrierte Produktion Hannover (IPH) eine Lösung entwickelt, die im Forschungsprojekt MobiMMI entstanden ist. Es handelt sich dabei um ein intuitives und mobiles System für die Mensch-Maschine-Interaktion, mit dem sich Fahrzeuge jederzeit steuern lassen. Und zwar ohne spezielle Ausbildung, ohne IT-Kenntnisse und ohne Eingriff in die Leitsteuerung.
Zu kaufen gibt es das System noch nicht. Dafür fehlt den Wissenschaftlern im Moment ein Industriepartner, mit dem zusammen die Lösung bis zur Marktreife weiter entwickelt werden könnte. Allerdings kann man den Demonstrator, der im Forschungsprojekt entstanden ist, am IPH ausprobieren.
Dieser Demonstrator ist von außen betrachtet nichts weiter als eine handelsübliche Augmented-Reality- (AR-) Brille. Das Besondere an der Lösung ist die Software, in die zwei Jahre Forschungs- und Entwicklungsarbeit geflossen sind und mit der sich ein FTS mobil und intuitiv steuern lässt. Mobil heißt, dass der Mitarbeiter irgendwo in der Fabrik in Sichtweite des Fahrzeugs stehen kann und nicht weiter entfernt an einem Computer sitzen muss. Und intuitiv bedeutet, dass der Mitarbeiter mit den Fahrzeugen so kommunizieren kann, wie er das üblicherweise mit Kollegen tun würde – sprich über Blickkontakt, Sprache und Gesten.
„Der Logistikmitarbeiter setzt sich dafür einfach die AR-Brille auf und kann sich anschließend einen dreidimensionalen Joystick einblenden lassen“, erklärt Andreas Seel, der das Projekt MobiMMI leitet. Mit diesem virtuellen Stick steuert er mit wenigen Handbewegungen das Fahrzeug zum Beispiel um ein Hindernis herum. Oder er leitet das FTS zu einer Station, die nicht einprogrammiert ist – etwa bei chaotisch abgestellten Lieferungen im Wareneingang.
Alternativ zur Gestensteuerung kann der Mitarbeiter die integrierte Sprachsteuerung aktivieren, einzelne Fahrzeuge auswählen und ein Fahrtziel vorgeben. Die Sprachsteuerung eignet sich sehr gut für außerplanmäßige Transportaufträge. Normal arbeitet das FTS einen programmierten Auftrag nach dem anderen ab. Falls etwas Dringliches zu erledigen ist, musste bisher ein qualifizierter Mitarbeiter über die Leitsteuerung eingreifen und den Auftrag vorziehen. Dank der Software, die in der Datenbrille steckt, geht das jetzt auf Zuruf. „In der Fabrik kann ich einem Staplerfahrer zurufen, ob er nicht mal eben diese oder jene Palette holen kann“, erklärt Florian Kreutzjans, der im Projekt für die Entwicklung zuständig ist und den Demonstrator im IPH regelmäßig vorstellt. „Genau so kann ich jetzt einem FTS Aufträge erteilen.“
Besonders für kleine und mittlere Unternehmen wäre die Sprach- und Gestensteuerung eine echte Erleichterung, da hier oft die Fachkenntnisse fehlen, um Störungen über die Leitsteuerung zu beheben oder außerplanmäßige Transportaufträge zu erteilen. Das ist auch der Grund, warum die meisten Mittelständler sich scheuen, ein FTS einzusetzen. Die Technik scheint ihnen nicht flexibel genug. Mit der neuen Entwicklung des IPH könnte sich das ändern, denn damit kann in Zukunft praktisch jeder Mitarbeiter Störungen beheben und Aufträge außer der Reihe erteilen. IT-Kenntnisse oder eine spezielle Ausbildung sind dafür nicht nötig, nur ein wenig Übung mit der AR-Brille.
Unternehmen, die den Demonstrator ausprobieren wollen oder an einer Weiterentwicklung interessiert sind, können sich mit Projektleiter Andreas Seel in Verbindung setzen unter der Nummer 0511/27976-234 oder per Mail an seel@iph-hannover.de. Weitere Infos zum Forschungsprojekt sind unter www.mobimmi.iph-hannover.de zu finden. (us)
Kontakt:
IPH – Institut für Integrierte Produktion Hannover gGmbH
Hollerithallee 6
30419 Hannover
Tel. +49 511 27976116