Wie passen Industrie 4.0 und Supply-Chain-Management im Kontext der Digitalisierung zusammen? Der vertikalen Integration von Anwendungen auf Shop-Floor-Ebene steht das horizontal orientierte Supply-Chain-Management gegenüber.
Die zunehmende Anzahl vernetzter, digitalisierter Produkte bedingen durch neue technische Möglichkeiten einer Datenaggregation und -auswertung zukünftig vollkommen veränderte Wertschöpfungsflüsse. Die sich daraus ergebenden Vorteile für Produktionssysteme im Allgemeinen betreffen nicht nur unternehmensinterne Prozesse,sondern im Wesentlichen Veränderungen über die gesamte Lieferkette. Die digital vernetzte Supply-Chain stellt für alle beteiligten Akteure, sowohl innerhalb der einzelnen Unternehmen (vertikal) als auch in der Supply-Chain (horizontal) enorme Herausforderungen dar.
Diese Herausforderungen beschreiben ein horizontal integriertes Wertschöpfungssystem, welches mit Hilfe digitaler Technologien echtzeitnah über Unternehmensgrenzen hinweg Informationen sammeln, analysieren und nutzen kann. Ziel ist ein effizient ausgelegter Materialfluss, welcher im Sinne von Industrie 4.0 hochgradig individuelle Kundenanforderungen in vorgegebener Zeit und Qualität erfüllt.
Die Vorteile einer digitalen Supply-Chain sind weitreichend:
- Bestandskosten können unter anderem durch die Supply-Chain-übergreifende Nutzung von Echtzeitdaten über Bestandsmengen um bis zu 40 % gesenkt werden
- Reduzierte Sicherheitsbestände
- Vermeidung des Bullwhip- und Burbidge-Effekts
- Optimierte Ersatzteil-Lagerbestände
- Fertigungs- und Logistikkosten haben ein Kostensenkungspotenzial von 10 bis 30 %, unter anderem durch den Einsatz von Smart-Wearables an Produktionsarbeitsplätzen oder Analytics-Methoden (Bauernhansl, et al., 2016)
Weitere Potenziale können durch eine rückwirkende Lokalisierung und Identifizierung von Problemen erreicht werden. Voraussetzung hierfür ist der sogenannte digitale Schatten, der als ein Handlungsfeld von Industrie 4.0 das „hinreichend genaue“ Abbild der Prozesse „in der Produktion, der Entwicklung und angrenzenden Bereichen mit dem Zweck, einer echtzeitfähigen Auswertungsbasis aller relevanten Daten“ schafft, wozu im Einzelnen die Beschreibung der notwendigen Datenformate, der Datenauswahl und der Datengranularitätsstufe gehören. Dieser bildet die Grundlage für eine valide Auswertungsbasis. Somit beschränkt sich der Informationsnutzen nicht nur auf die Auswertung der aktuellen Situation, sondern ermöglicht ebenfalls Prognosen zukünftiger Zustände (Bauernhansl et al. 2016). Qualitativ hochwertige (digitale) Daten und die entsprechende Verwertung bieten auf diese Weise ein immenses Potenzial, um die logistische Leistungsfähigkeit von Wertschöpfungsketten zu steigern. Vielfältige Hürden wie zum Beispiel veraltete IT-Infrastruktur, verschiedene IT-Systeme oder eine mangelnde Digitalisierung des Maschinen- und Anlagenparks verhindern eine zeitgemäße Weiterentwicklung in diesem Themenfeld. (European A.T. Kearney/WHU Logistics 2015)
Weiterhin beeinträchtigen Skepsis und Misstrauen bezüglich des Datenaustauschs zwischen Mitgliedern der Supply-Chain die Entwicklung. Fehlerhafte Entscheidungen aufgrund von unzulänglichen Informationen und unzureichender Risikoabschätzung werden verstärkt zu Wettbewerbsnachteilen führen und Unternehmensexistenzen gefährden. Digitale Technologien sind daher in diesem Kontext Enabler für zukunftsfähige Strategien (Bauernhansl et al., 2016). Vielen Unternehmen fehlt jedoch die richtige Digitalisierungsstrategie. Die vom FIR an der RWTH Aachen entwickelte Roadmap definiert den Weg zur digital vernetzten Supply-Chain in vier Hauptschritten. Das Ziel ist ein selbstoptimierendes Wertschöpfungssystem, das auf Basis intelligent ausgewerteter Echtzeitdaten in dezentral organisierten Strukturen weitestgehend automatisiert Entscheidungen vorbereitet.
Um die Voraussetzung für Industrie 4.0 zu schaffen, gilt als Initialschritt, die Sichtbarkeit innerhalb der Wertschöpfungskette zu erzeugen und die Frage nach dem „Was passiert?“ zu beantworten. Erlangt wird diese Sichtbarkeit durch echtzeitfähige Systeme, die jederzeit den Zustand und den Ort von jedem Objekt in jedem Produktionsschritt erfassen. Mit Transparenz kann das Verständnis für Prozesse aufgebaut werden, auf dessen Grundlage es möglich ist, Prognosen für zukünftige Umweltzustände anzustellen. Mit Hilfe leistungsstarker Analysemethoden, die dem Bereich der Big-Data-Analyse zuzuordnen sind, werden exakte Vorhersagen über beispielsweise zukünftige Bedarfe und Verfügbarkeiten generiert. Auf diese Weise kann die Frage „Was wird passieren?“ beantwortet werden.
Selbstoptimierende Supply-Chains führen zur Industrie 4.0
Die Kenntnis darüber, warum etwas passiert, ist die Grundlage regelungsfähiger Supply-Chains. Es gilt auf Basis von Echtzeitdaten Regelungslogiken zu implementieren, welche bekannte Steuerungskonzepte, beispielsweise Pull-Prinzip (Günther und Tempelmeier 2014) oder Kanban-Systeme, ablösen. Selbstoptimierende Supply-Chains beantworten die Frage nach „Wie kann autonom – also innerhalb der Systemgrenzen – reagiert werden?“ und führen zur Industrie 4.0.
Die meisten Unternehmen sind noch am Anfang der Entwicklung zur selbstoptimierenden Wertschöpfungskette. Folglich müssen sie zunächst Sichtbarkeit gewährleisten. Dieser erste Meilenstein gliedert sich wiederrum in drei Teilschritte (Bauernhansl et al., 2016). Der erste Schritt Visualisierung hat zum Inhalt, Ortsinformationen von Objekten digital verfügbar zu machen. Dabei kommen unterschiedlichste Identifizierungstechnologien zum Einsatz. Beispielhaft sind hier „Real-Time-Location-Systeme“ (RTLS) anzuführen, welche zum Beispiel Objekte mit Hilfe eines Indoor-GPS-Systems orten und verfolgen können.
Schritt zwei beschreibt die Integration. Die gesammelten Informationen innerhalb des ersten Schrittes werden als automatisierte, ereignisgesteuerte Rückmeldedaten in das prozessunterstützende IT-System (etwa ERP oder MES) des Unternehmens gespielt. Schließlich bildet der unternehmensübergreifende Austausch von standardisierten Informationen die dritte Stufe einer transparenten Supply-Chain. Das Erfassen und Kommunizieren von Ereignissen entlang der Wertschöpfungskette ist durch Electronic-Data-Interchange (EDI) oder mittels Standards möglich. Ein solcher ist der von GS1 entwickelte offene Standard EPCIS (GS1 2017). Für die erfolgreiche Implementierung der Sichtbarkeit innerhalb der Supply-Chain sind allerdings Voraussetzungen zu schaffen, die durch verschiedenste Problemfelder erschwert werden. Als solche sind unter anderem nachfolgende zu nennen:
- aufgenommene Informationen besitzen unterschiedliche Relevanz in Unternehmen
- Fehlende Fähigkeit zur Datenanalyse (Big-Data-Kompetenz)
- Nutzung von unterschiedlichen (Tracking-)Technologien
Die Herausforderungen für die einzelnen Unternehmen zu einer selbstoptimierenden Produktion scheinen oftmals weitreichend, jedoch ist das Potential bereits bei der Umsetzung der Initialschritte überzeugend. Auf diese Weise können die Voraussetzungen für die digital vernetze Supply-Chain geschaffen und das Ziel Industrie 4.0 erreicht werden. Dies birgt nicht nur ein übergreifendes gesamtwirtschaftliches Potenzial, sondern ebenfalls enorme Chancen und Wettbewerbsvorteile für die einzelnen Unternehmen. Herausforderungen der Zukunft werden fokussiert und Unternehmen können aktiv den digitalen Wandel mitgestalten.
Jens Adema, David Holtkemper, Andreas Kraut, Daniel Pause, Christian Starick und Themo Voswinckel, FIR e.V. an der RWTH Aachen
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