Herr Prof. Dr. Kraus, Sie fordern, dass die Personal- bzw. HR-Bereiche der Unternehmen noch viel flexibler werden müssen. Warum?
Weil gute Fach- und Führungskräfte aufgrund des demografischen Wandels inzwischen eine echte Mangelware sind und die Anforderungen der Mitarbeiter an ihre Arbeit und Arbeitgeber sich geändert haben. Die Rahmenbedingungen der Personalarbeit haben sich sozusagen fundamental gewandelt.
Können Sie das konkretisieren?
Ja. Nehmen Sie beispielsweise die Personalsuche und -auswahl. Wenn Sie vor 15, 20 Jahren die Wochenendausgabe einer überregionalen Zeitung wie der Frankfurter Allgemeinen oder Süddeutschen Zeitung kauften, dann war diese meist mehrere Kilo schwer, denn sie enthielt Hunderte Stellenanzeigen. Heute umfasst ihr Stellenteil nur noch drei, vier Seiten, weil die meisten Stellenanzeigen inzwischen im Internet veröffentlicht werden.
Das Internet erleichtert die Direktansprache. Warum?
Unter anderem, weil Plattformen wie Xing, LinkedIn und Gulp eine gezielte Suche und Ansprache von Personen mit einer bestimmten Qualifikation und in einer bestimmten Lebenssituation ermöglichen. Dies ist oft nötig, weil Unternehmen heute aufgrund des allgemeinen Fach- und Führungskräftemangels häufig die Erfahrung sammeln: Wenn wir eine Stellenanzeige schalten, sei es in Print- oder Online-Medien, dann melden sich, wenn überhaupt, nur eine Handvoll Leute. Oft meldet sich sogar kein Bewerber, der dem Anforderungsprofil entspricht. Also müssen die Unternehmen andere Wege beschreiten, um mit den gewünschten Personen in Kontakt zu kommen.
Gilt das auch für die Suche von Fachkräften?
Ja, und zwar funktions- und branchenübergreifend. Wenn Unternehmen einen hochqualifizierten Spezialisten suchen, dann sind wechselwillige Kandidaten noch schwieriger zu finden, als wenn es um das Besetzen einer Führungsposition geht. Deshalb nahm und nimmt die Direktansprache gerade bei Spezialisten stark zu – und zwar unabhängig davon, welches Berufsbild gesucht wird.
Genügt es nicht, wenn sich eine geeignete Person bewirbt, wenn ein Unternehmen ohnehin nur eine Stelle zu besetzen hat.
Theoretisch ja, doch nur wenn der Bewerber tatsächlich wechselwillig ist und zum Unternehmen passt. Nicht selten wollen Bewerber aber nur ihren Marktwert ausloten und springen im letzten Moment ab. Immer häufiger treten neue Mitarbeiter ihre Stellen auch gar nicht an.
Warum?
Zum Beispiel, weil ihnen ihr bisheriger Arbeitgeber, wenn er die Kündigung erhält, plötzlich alle Wünsche erfüllt, da er weiß: Das ist meist günstiger als einen neuen Mitarbeiter zu suchen, einzuarbeiten usw.. Deshalb ist es immer gut, ein, zwei Ersatz-Kandidaten in petto zu haben. Denn wenn ein Unternehmen die Bewerbungs- und Auswahlprozedur erneut starten muss, dann verstreichen oft viele weitere Monate bis die Stelle endgültig besetzt ist.
Haben die Personalabteilungen sich schon darauf eingestellt, dass es immer stärker um die Gunst von Mitarbeitern mit gewissen Qualifikationen und Kompetenzen buhlen müssen?
Einige ja, die meisten nein.
Warum?
Vielen Personalabteilungen ist noch nicht klar, dass sie aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen ihre Personalsuche- und -auswahlprozesse grundsätzlich überdenken und zum Teil neu definieren müssen.
Was veranlasst Sie zu dieser Einschätzung?
In der Praxis gehen viele Unternehmen, wenn sie einen hochqualifizierten Spezialisten suchen, noch immer wie in der guten, alten Zeit vor: Sie schalten eine Stellenanzeige – print oder online. Dann sammeln sie drei, vier Wochen die eingehenden Bewerbungen. Danach setzen sich die Verantwortlichen zusammen und sichten die Unterlagen, um zu entscheiden, wen sie zum Vorstellungsgespräch einladen, womit eine weitere Woche verstreicht. Danach läuft die erste Gesprächsrunde, die zwei, drei Wochen dauert. Danach folgt eine zweite Gesprächsrunde mit den heißen Kandidaten. Das heißt, der letztlich ausgewählte Bewerber erhält nicht selten erst vier, fünf Monate, einen Anruf „Wir stellen Sie ein“. Und die Unternehmen sind dann völlig überrascht und enttäuscht, wenn der Bewerber zum Beispiel erwidert: „Tut mir leid, vor sechs Wochen habe ich einen Arbeitsvertrag bei einem anderen Unternehmen unterschrieben.“
Wie beurteilen Sie mittel- und langfristig die Situation auf dem Arbeitsmarkt?
Der Wettbewerb um gute Fach- und Führungskräfte wird noch viel schärfer werden, da wir schlicht zu wenig Nachwuchskräfte haben und zwar funktions- und branchenübergreifend. Darauf müssen die Unternehmen sich einstellen.