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Raus aus der Zeitschleife

Flexible Arbeitszeiten: Mehr Spielraum für Unternehmen und Mitarbeiter
Raus aus der Zeitschleife

Starre Arbeitszeitmodelle gehören mehr und mehr der Vergangenheit an. Durch flexiblen Arbeitseinsatz lassen sich auftragsbezogene Schwankungen besser bewältigen – davon profitieren Unternehmen genauso wie ihre Mitarbeiter.

„Die Arbeitskosten zu senken, das war in den vergangenen zehn Jahren der Haupttreiber für die Einführung von flexiblen Arbeitszeiten. Durch sie wird die Arbeitsproduktivität gesteigert, durch sie entfallen Mehrarbeitszuschläge, und sie lässt die Verfahrenskosten durch Verminderung von Kontrollen-und Genehmigungen sinken.“ So Dr. Andreas Hoff, Initiator flexibler Arbeitszeiten in deutschen Betrieben und vor 25 Jahren Mitgründer der weltweit ersten Arbeitszeitberatung.

Der Holzfach-Ingenieur Didymus Hasenkopf ist Gründer und langjähriger Leiter eines holzverarbeitenden Betriebes im bayerischen Burghausen, der heute 150 Mitarbeiter beschäftigt. Er führt seine erfolgreiche Tätigkeit als Mittelstandsunternehmer auch auf die frühzeitige Einführung flexibler Arbeitszeiten zurück, mit denen er Anfang der 80er-Jahre begonnen hat. „Die Einsatzmöglichkeiten helfen, Anforderungsspitzen, die sich häufig ergeben, auszugleichen. Da wir immer schnell liefern und variabel sein müssen, war es für uns wichtig, unsere ganze Belegschaft auch in arbeitsärmeren Zeiten zu halten“, betont der Unternehmer. „Voraussetzung blieb, dass sich die Mitarbeiter freiwillig für diese variablen Arbeitseinsätze bereit erklärten.“ Damals beschäftigte sein Betrieb, der jetzt von seinem Sohn Roland geleitet wird , noch keine 30 Mitarbeiter.
Schon vor dem heute verbreiteten Einsatz so genannter Vertrauensarbeitszeiten führten die Mitarbeiter bei Hasenkopf auf Vertrauensbasis einen Arbeitszeitkalender, der am Monatsende in der Buchhaltung abgegeben wurde. Zur Zeit kann jeder Beschäftigte seinen Arbeitseinsatz zwischen 42 und 50 Wochenstunden mit dem zuständigen Meister absprechen – unter Berücksichtigung persönlicher Belange. Die am Monatsende verbuchten, durch Zusatzarbeit gewonnenen Zeiten oder die für Freizeit eingegangenen Zeitverpflichtungen werden buchhalterisch registriert und als Plus- oder Minus-Stunden über das Jahr fortgeschrieben.
Als Arbeitsbemessungsrahmen gilt die im Branchen-Tarif festgehaltene 40-Stunden-Woche, auch wenn die Firma selbst dem Tarifverbund nicht angehört. Plus-Zeiten werden ausschließlich in Freizeit entgolten, die auch für einen Vorruhestand genutzt werden kann, da das Zeitkonto unbefristet fortgeführt wird. Nur beim Ausscheiden aus der Firma oder in sozialen Notfällen wird angesparte Freizeit in bar ausgezahlt. Die damit gewonnene flexiblere Reaktionsmöglichkeit der gesamten Betriebsorganisation wird noch durch einen rasant auf unter 3 % gesunkenen Krankenstand ergänzt.
Mehr Gestaltungsspielraum ist in der Regel auch im Sinn der Arbeitnehmer. Laut einer aktuellen Studie im Auftrag des Kommunikations-Dienstleisters Avaya finden es 73 % der deutschen Beschäftigten attraktiv, für ein Unternehmen mit flexiblen Arbeitsbedingungen zu arbeiten. Und: Drei von vier Befragten (78 %) würden – bei ansonsten gleichen Konditionen – für mehr Flexibilität sogar in ein anderes Unternehmen wechseln.
1995 wurde bei der Schütte GmbH & Co. KG, Werkzeugmaschinen-Hersteller in Köln, für die tarifgebundenen der 600 Mitarbeiter ein flexibles Arbeitszeitmodell eingeführt. Ein elektronisches Zeiterfassungsgerät nimmt die Ein- und Ausgangskontrolle wahr. Es gibt zwei Konten: ein Gleitzeitkonto, das mit +/- 20 Stunden im Verfügungsbereich des Mitarbeiters liegt und für dessen Nutzung die tägliche Kernzeit von 8.30 bis 15.00 Uhr verpflichtend ist, sowie ein Langzeitkonto für diejenigen, die 20 Stunden Mehr- oder Minder-Arbeit überschreiten. Es ist auf 300 Plus- wie Minus-Stunden angelegt. Seine Laufzeit wird nicht begrenzt. Dieses Konto liegt in der Verfügungsgewalt des Arbeitgebers, ohne seine Zustimmung haben die Beschäftigten keine Möglichkeit, auf das Langzeitkonto zurückzugreifen. Barauszahlungen werden auch hier nur in finanziellen Notlagen der Konteninhaber oder bei deren Ausscheiden vorgenommen
Nach Rücksprache mit dem Vorgesetzten und der Personalabteilung können die Beschäftigten aber auch Freistunden und – wenn es die betrieblichen Anforderungen erlauben – ebenso längere Phasen von freien Tagen in Anspruch nehmen. In jedem Fall muss der Mitarbeiter Zusatz- oder Minusstunden bei seinem Meister voranmelden. Laut der mit dem Betriebsrat getroffenen Vereinbarung legt der Arbeitgeber für die jeweils folgende Woche dem Arbeitsanfall entsprechend eine 21- bis 42-Stunden-Woche für jede Abteilung fest. Wer das 300 Plusstunden-Limit auf seinem Konto überschreitet, erhält jede zusätzliche Stunde ausgezahlt.
„Wir sparen Überstunden und haben ein effektiveres Arbeiten. Der Mitarbeiter braucht nur dann an seinem Arbeitsplatz zu sein, wenn es auch wirklich Arbeit gibt“, beurteilt die Betriebsleitung die Auswirkung ihres Modells. „Wir haben das Langzeitkonto, das ursprünglich mit 100 Stunden begonnen wurde, weiter ausgebaut. So hat sich auch die Flexibilität erhöht, und wir können konjunkturbedingte Kündigungen vermeiden“, unterstreicht Personalleiter Dr. Patrick Niehr.
Auch die Wieland-Werke AG, Hersteller von Halbfabrikaten und Sondererzeugnissen aus Kupfer und Kupferlegierungen mit Sitz in Ulm, hat ihr Arbeitszeitmodell seit der Einführung im Jahr 1990 ständig weiterentwickelt. „Gestartet sind wir mit Kurzzeitkonten, die Abweichungen zwischen geleisteter und vertraglicher Arbeitszeit vermerken“, berichtet Michael Renz, Leiter Personalwirtschaft. 1993 kam dann das Langzeitkonto hinzu, worauf der Mitarbeiter nach acht angesparten Arbeitswochen zurückgreifen kann und das auch für einen vorgezogenen Ruhestand oder für Weiterbildung und Urlaubsreisen genutzt wird. „Um eine noch größere Flexibilität zu erreichen, ist 2003 das bei uns so genannte Flexikonto dazwischen geschoben worden. Das heißt, bevor Stundengutschriften auf dem Langzeitkonto landen, werden im Flexikonto bis zu 210 Plus- oder 35 Minus-Stunden gepuffert“, erklärt Renz. „Mit dem Gesamtinhalt aller Flexikonten können wir konjunkturelle Schwankungen besser ausgleichen, indem bei kurzfristig mehr oder weniger Arbeit der Durchschnitt der vereinbarten Wochenarbeitszeit von inzwischen 37 Wochenstunden eingehalten wird.“
Die anfängliche Skepsis der Beteiligten ist einer breiten Akzeptanz gewichen. Regelmäßige Mitarbeiter-Befragungen bestätigen die positive Reaktion auf die flexiblen Arbeitszeiten. In der Metallindustrie Nordwürttemberg/Nord-Baden haben die Tarifvertragsparteien 2005 flexible Arbeitszeiten mit Langzeitkonten sogar im Manteltarifvertrag vereinbart. Grundsätzlich sind alle Zeitentnahmen oder Freistellungen, die übrigens auch kurzfristig ermöglicht werden, mit den Vorgesetzten abzustimmen. Entscheidend dafür bleiben wie überall die betrieblichen Anforderungen. Außerdem findet einmal im Monat eine Abstimmung der Betriebsräte und Führungskräfte über Flexibilisierungsmaßnahmen statt.
Dass diese Informationsvorgänge – je detaillierter Arbeitszeitsysteme gestaltet werden, um dem wechselvollen Betriebsgeschehen zu entsprechen – auch ihrerseits anspruchsvoll sind, liegt auf der Hand. Arbeitszeitberater Hoff: „Künftig wird sich das Pendel, das in den letzten Jahren sehr stark den betrieblichen Interessen entsprechend ausschlug, wieder in Richtung der Mitarbeiter bewegen, nicht zuletzt deshalb, weil sich gerade bei hohem Flexibilisierungsbedarf selbstgesteuerte Arbeitszeitsysteme als besonders effizient erwiesen haben.“
Rosemarie Fiedler-Winter Journalistin in Hamburg

Arbeitszeitkonten: Selten für das ganze Leben

Chefs wünschen sich flexible Mitarbeiter, diese wiederum schätzen flexible Arbeitszeiten: Jahresarbeitszeitkonten sind im Kommen. Eine Laufzeit, die sich über das gesamte Berufsleben erstreckt – ein Lebensarbeitszeitkonto – ist noch relativ selten. Kleinere Betriebe lassen sich oft von den Kosten abschrecken. Das könnte sich ändern: Langzeitarbeitskonten sind für alle attraktiv, die vor dem Erreichen des 67. Lebensjahres in Rente gehen wollen. Arbeitnehmer können dann Leistungen einlösen, die sie während ihrer Laufbahn zusammengetragen haben. Das Gehalt läuft weiter, auch wenn die Bezieher weniger oder gar nicht mehr arbeiten. Das Guthaben lässt sich auch auf andere Weise umwandeln:
  • Der Wert wird sozialversicherungs- und steuerbegünstigt als Altersversorgungsanspruch gutgeschrieben und ergänzt die betriebliche Altersvorsorge.
  • Die Zeitpolster ermöglichen mitten im Berufsleben eine Auszeit vom Job oder die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
  • Der Mitarbeiter entnimmt aus seinem Lebensarbeitszeitkonto Wochen und Monate, etwa für eine längere Weiterbildung.
Aus Sicht der Unternehmen hat die flexible Gestaltung von Arbeitszeiten einen angenehmen Nebeneffekt: Sie erhöht die Attraktivität der Firmen für Beschäftigte. Lebensarbeitszeitkonten können so zum Wettbewerbsvorteil werden. Quelle: IW Köln

Kosteneffizienz
Flexible Arbeitszeiten bieten eine Reihe von Vorteilen. Unternehmen können beispielsweise Maschinen und Anlagen besser auslasten, auf schwankende Nachfrage flexibel reagieren oder auch teure Mehrarbeit vermeiden. Diese Effekte stellen sich nicht automatisch ein. Wichtig ist, die Arbeitsorganisation, das Führungsverhalten und die innerbetriebliche Kommunikation bewusst zu planen und zu gestalten.

„Selbstgesteuerte Systeme sind überlegen“

Nachgefragt

Was hat sich an den flexiblen Arbeitszeitmodellen im Laufe der Jahre geändert?
Grundsätzlich nichts. Aber die Entwicklung ist weiter gegangen. Es gibt heute zum Beispiel mehr flexible Schicht-Systeme, die auch das Wochenende einbeziehen. Das ist zum Teil eine Reaktion auf die Verlängerung der Regelarbeitszeiten. Außerdem hat sich die so genannte Vertrauensarbeitszeit als Standard-Modell im AT-Bereich und bei Führungskräften etabliert, zumal die elektronische Arbeitszeiterfassung nur die Anwesenheit erfassen kann – aber keine Arbeitszeiten.
Was spricht für die Vertrauensarbeitszeit?
Bei der Vertrauensarbeitszeit sind die Mitarbeiter für die Erfüllung ihrer vertraglichen Verpflichtungen innerhalb der Arbeitszeit selbst verantwortlich. Deshalb kann sie auch nur bei zumindest zum Teil von den Beschäftigten eigenverantwortlich gesteuerten Arbeitsvorgängen eingesetzt werden. In vielen Unternehmen existieren daher Vertrauensarbeitszeit und Zeitkonten-gestützte Systeme nebeneinander.
Wo finden sich heute noch die meisten Skeptiker der Flexibilisierung?
Eher bei der Arbeitnehmerschaft und häufig dann, was nachvollziehbar ist, wenn deren arbeitszeitbezogene Flexibilisierungs-Bedarfe nicht angemessen aufgenommen und umgesetzt werden. Widerstände bei Führungskräften sind vor allem dort zu finden, wo Kontrollverluste drohen, weil den Beschäftigten Selbststeuerungskompetenzen übertragen werden. Genau das ist aber einer der zentralen Erfolgsfaktoren der Arbeitszeitflexibilisierung.
Wie beurteilen Sie die weitere Entwicklung von Arbeitszeitmodellen?
Künftig dürfte das in den letzten Jahren stark in Richtung betrieblicher Interessen ausgeschlagene Pendel wieder in Richtung Mitarbeiter schwingen, weil sich die Überlegenheit selbstgesteuerter Arbeitszeitsysteme gerade bei sehr hohen Flexibilisierungsanforderungen noch deutlicher erweisen wird.
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