Herr Professor Nachtwei, wie lassen sich vor allem diejenigen in ihren Bedürfnissen berücksichtigen, die konkret mit KI-Systemen arbeiten, also etwa Teams in Unternehmen oder Werker in der Produktion?
Die Frage ist vielleicht zunächst: Wie lassen sich die Bedürfnisse von Beschäftigten überhaupt berücksichtigen? KI ist hier eventuell gar nicht so speziell. Letztlich geht es um mal kleinere und mal größere Veränderungen in der eigenen Tätigkeit.
Organisationen brauchen den Mut, Bedürfnisse von Beschäftigten wirklich zu erfragen. Mitarbeiterbefragungen sind ein mögliches Tool – werden aber oft gescheut, da man Erwartungen weckt, die man dann als Geschäftsleitung oder Personalabteilung nicht erfüllen kann oder will.
Personalmanager als Schnittstelle zwischen Geschäftsleitung und Belegschaft brauchen mehr Expertise in Bezug auf KI sowie mehr Durchsetzungsvermögen. Leider sind viele Personaler eher keine Tech-Experten und nicht immer in der Lage, ihre Projekte im Board durchzusetzen. Das ist dann für die Beschäftigten ein Problem, wenn es um potenziell derart gravierende Themen wie die Einführung von KI geht.
Welche Verantwortung tragen Entscheider in Unternehmen, die KI-Systeme nutzen, entwickeln oder in Produkten und Dienstleistungen umsetzen wollen?
Die beneide ich nicht. Aus der zweiten Reihe der akademischen Welt kann man immer gut über all die psychologischen, ethischen und moralischen Implikationen von KI debattieren.
Aber als Entscheider im Unternehmen muss ich diese wichtigen Aspekte irgendwie mit Wirtschaftlichkeit, Umsetzbarkeit und Datenschutz verheiraten – um nur einige zu nennen. Und das kann sich sicher teils wie die Quadratur des Kreises anfühlen. Die Verantwortung ist hoch, wenn man all diese Felder bestellen muss. Hier wird es noch viel Orientierungsbedarf für die Praxis geben.
Künstliche Intelligenz gilt als Schlüsseltechnologie, um industrielle Automation wettbewerbsfähig voranzutreiben. Welche Chancen und Risiken birgt KI für die automatisierte Arbeitswelt?
Das ist der Kern unserer Forschung: Was bedeutet „KI-bedingte Automation“ für Beschäftigte? Dabei geht es nicht nur um industrielle Automation. KI wird alle Bereiche der Arbeitswelt berühren. Viele davon sind ja heute schon betroffen. Als PsychologInnen interessiert uns natürlich, welche Auswirkungen auf das Erleben und Verhalten von Menschen zu erwarten oder auch jetzt schon zu beobachten sind.
Die große Chance liegt darin, dass Tätigkeiten, die nicht sonderlich erfüllend sind, nicht mehr von Menschen ausgeübt werden müssen. In meinem Arbeitsbereich kann das Korrigieren von Klausuren mit freiem Beantwortungsformat ein Beispiel sein, das Entlastung bietet – spätestens ab der zwanzigsten Klausur, die man zur immer selben Aufgabenstellung liest, stellt sich einem schon die Frage, ob das nicht ein Algorithmus tun könnte. Zumal eine entsprechende KI-Lösung bestimmte implizite Beurteilungsverzerrungen gar nicht hätte, sofern man sie gut gestaltet und die Referenzdaten sauber sind.
Aber die Beispiele sind vielfältig und ich denke, dass viele Menschen zumindest mehr oder minder große Teile ihres Jobs nicht unbedingt lieben, die durch Routinen klar beschreibbar und damit auch gut automatisierbar sind. Das würde dann Zeit freigeben für Tätigkeiten im sozialen oder kreativen Bereich – Dinge, die vielen Menschen mehr liegen als stupide Routinen im Büro oder am Band.
Entkopplung von Arbeit und Geld
Im Projekt ‚Research on Universal Basic Income – Chances, Omissions, Negativities‘ beschäftigen Sie sich auch mit einer Extremvariante von Chancen: der Entkopplung von Arbeit und Geld. Unter welcher Prämisse ist das besonders interessant?
Wir schauen uns die psychologischen Aspekte eines bedingungslosen Grundeinkommens unter der Prämisse an, dass ja tatsächlich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten viele Jobs ohne Wiederkehr entfallen könnten, da sie schlicht durch Automation schneller, fehlerfrei und kostengünstiger erledigt werden können.
Das bietet enorme Chancen, aber eben auch Risiken. Für viele Menschen ist Arbeit Sinnstiftung und Sozialkontakt: Ich weiß, warum ich bin – und ich bin nicht allein. Daher ist eine Vollautomatisierung der Arbeitswelt sicher psychologisch nicht ungefährlich, zumindest für eine westlich geprägte Leistungsgesellschaft aktueller Spielart.
Laut Mercer-Studie ‘Global Talent Trends 2020’ fürchten 42 % der Mitarbeiter, ihr Job könnte innerhalb der nächsten drei Jahre durch „KI und Automatisierung“ ersetzt werden. Ohne näher aufs Studiendesign einzugehen – woher rühren solche dramatischen Ängste? Und wie konstruktiv mit ihnen umgehen?
Die Psychologie des Change Managements spricht hier eine ziemlich eindeutige Sprache: Verlustängste sind allgegenwärtig. Da muss es gar nicht um KI und Automation gehen. Dafür reicht viel weniger.
Trotzdem denke ich, dass KI hierbei eine neue Qualität mit sich bringt. Es ist eben nicht mehr die klassische Prozessoptimierung oder eine simple und begrenzte Softwarelösung. Im Zweifel sieht man sich einer Instanz gegenüber, die vieles von dem kann, was man selbst so mühsam erlernt hat – schneller, fehlerfrei und kostengünstig. Das ist eine andere Dimension.
Vergessen darf man aber auch nicht, was die Medien bewirken. Die Artikel zu KI und Co. sind für keinen mehr zu übersehen – Tageszeitungen, Magazine, Dokus und so weiter, und vieles davon reißerisch aufgemacht, um die Reichweite zu erhöhen. Kaum jemand hat die Zeit und Muße, dann den Realitätscheck vorzunehmen und sich tiefer einzulesen. Der konstruktive Umgang damit ist nicht einfach. Das beginnt mit Aufklärung über das Thema, seine Grenzen und Chancen. Hinzu kommen Angebote an MitarbeiterInnen, den eigenen Job zu redefinieren, vielleicht sogar rechtzeitig zu wechseln. Und es sind wieder umsichtige Unternehmenslenker und Personaler, die sich der Sorgen annehmen und die entsprechenden Diskussionen moderieren müssen.
Der Grund dafür, dass diese Ängste so prominent sind, ist aber sicher auch, dass wir mit Arbeit so wahnsinnig viel verbinden. Einigen fehlt einfach die Phantasie für eine Welt ohne Lohnarbeit – oder zumindest für eine mit sehr viel weniger davon. Um uns herum wurde ja auch sehr lange viel dafür getan, dass wir Erwerbsarbeit und alle, die hart arbeiten, Karriere machen, beruflich ein Vermächtnis aufbauen, heute fast heilig sprechen. Dass der Gedanke an den Verlust des Heiligenscheins Angst macht, ist nur allzu verständlich. Ein mittelfristig und langfristig möglicherweise sinnvoller Umgang damit wäre also auch, ein anderes Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie man sich seine Tage und Jahre sinnvoll außerhalb der klassischen Arbeitswelt füllt.
Künstliche Intelligenz durchdringt ziemlich alle Lebensbereiche
Im Essay ‘Psychologie einer automatisierten Leistungsgesellschaft’ sagen Sie: „Damit für eine (Leistungs-)Gesellschaft, Organisationen und Arbeitnehmer der technologische Wandel gelingen kann, muss die psychologische Forschung ein Feld bestellen, das momentan von anderen Disziplinen kultiviert und von Beratern sowie Kongress-Rednern geprägt wird.“ Was steckt hinter Ihrem Appell?
Dahinter steckt schlicht: Die Sicht auf die Betroffenen, und das sind wir alle, ist noch zu trübe. Die Psychologie tritt als Disziplin an, Erleben und Verhalten von Menschen in allen erdenklichen Kontexten zu untersuchen. Gehen wir davon aus, dass KI so ziemlich alle Lebensbereiche weiter durchdringt und vor allem die Arbeitswelt umkrempeln wird, muss die Psychologie hier ein zentrales Aufgabenfeld für sich definieren und dieses auch bearbeiten.
Nun ist die Psychologie eine empirische Wissenschaft und tut sich mit Diskussionen über ungelegte Eier oft schwer. Vieles in Bezug auf KI und Arbeitswelt ist Zukunftsmusik und es gibt teils nur wenige Anwendungsfelder, in denen Beschäftigte tatsächlich mit KI in Kontakt sind. Hinzu kommt, dass die Psychologie, wie viele andere Disziplinen auch, nicht unbedingt offensiv auf andere Disziplinen zugeht. Man bleibt oft gern unter sich. Die Komplexität des Themas erfordert aber den offenen Austausch mit Wirtschaftswissenschaftlern, Soziologen, Informatikern, Philosophen etc. Doch dieser Austausch ist mühsam, da unterschiedliche Sprachen gesprochen werden. Und er ist ein Risiko in der akademischen Laufbahn. Viele wägen ab, ob sie nicht lieber zu ihrem gewohnten, gut beforschten und engen Thema noch zwei weitere Fachartikel veröffentlichen, anstatt sich auf diesen langwierigen Diskurs mit anderen Disziplinen einzulassen und als Grenzgänger am Ende vielleicht kein Journal zu finden, was Beiträge aus einem solchen Schnittstellenthema veröffentlichen will.
Wie kann technologischer Wandel gelingen?
Hätte ich dafür die Blaupause, gäbe es wahrscheinlich kein Regal, das all die Preise dafür fassen würde. Ich denke, es ist ein ganzer Blumenstrauß an Faktoren, der hier auf den Erfolg einzahlt – darunter eben auch die wissenschaftliche Sicht auf den Einzelnen in der Arbeitswelt. Im Change Management wird beispielsweise viel von Widerständen und Ängsten von MitarbeiterInnen gesprochen. Das wird auch in Lehre und Forschung diskutiert und sollte auf den technologischen Wandel angewandt werden.
Technologisch geht theoretisch fast alles – mit Menschen ist das anders. Wir sind kein On-Off-System. Und wir unterscheiden uns gravierend in unseren Ansichten, Verhaltensweisen und unserem persönlichen Hintergrund. Dem müssen wir durch mehr Forschung im arbeits- und organisationspsychologischen Bereich Rechnung tragen.
Welche Fragen der Mensch-Technik-Interaktion wirft KI aus psychologischer Sicht auf?
Das ist wirklich spannend. Denn Mensch-Technik-Interaktion wird schon lange psychologisch erforscht. Ich komme ursprünglich aus der sogenannten Ingenieurpsychologie. Dort geht es um eben dieses Feld. Allerdings: Bisher haben wir dort vor allem auf Technik als Tool geschaut, nicht auf Technik als ebenbürtigen, vielleicht sogar überlegenen Mitspieler. Die Automationsforschung ist gut aufgestellt, aber die Macht von KI dürfte die eine oder andere Debatte in diesem Feld verändern. Es wird sicher weiterhin um Fragen der Akzeptanz, des Vertrauens und ganz allgemein von Überwachung und Kontrolle gehen. Nur eben nicht mehr mit Fokus auf den klassischen Autopiloten im Cockpit, sondern auf einen Kollegen im Büro, der nicht aus Fleisch und Blut ist. Ich denke, dass die Ingenieurpsychologie hier zukünftig mehr mit der Sozialpsychologie sprechen wird, um diese „neue Kollegialität“ zu erforschen.
Kontakt:
Humboldt-Universität zu Berlin
Sozial- und Organisationspsychologie
Unter den Linden 6
10099 Berlin
www.psychologie.hu-berlin.de