CO2-Neutralität, Treibhausgas-Neutralität, Klimaneutralität sind Buzzwords, die häufig synonym verwandt werden, obwohl sie unterschiedliche Konzepte beschreiben. Von daher sollte die erste Frage auf dem Weg zur Dekarbonisierung lauten: Welche Emissionen sollen im Unternehmen betrachtet werden? Ist die Rede nur von CO2 – oder von Treibhausgasen? Korrekt ist dabei, von allen wesentlichen Treibhausgasen im Sinne der erweiterten Kyoto-Gase zu sprechen.
Um Produkte, Projekte oder komplette Unternehmen zu bilanzieren, existieren schon lange Regeln wie die ISO 14064–1 sowie das Greenhouse Gas Protocol (GHG). Hier werden verschiedene Emissionskategorien in drei sogenannten „Scopes“ unterschieden.
- Bei Scope 1 werden die direkten Emissionen betrachtet. Dabei handelt es sich um diejenigen, die direkt am Unternehmensstandort entstehen, beispielsweise durch die Verbrennung von Gas in einem Gas- oder Dampfkessel oder durch eine undichte Kälteanlage, aus der Kältemittel entweicht.
- Bei Scope 2 geht es um die indirekten Emissionen, die durch den jeweiligen Energieversorger entstehen. Hierzu zählen die Emissionen, die bei der Erzeugung der elektrischen Energie entstehen.
- Darüber hinaus existieren aufgrund der Geschäftstätigkeit eines Unternehmens noch weitere Emissionen. Diese werden in Scope 3 anhand von 15 Kategorien, die sich in vor- und nachgelagerte Aktivitäten teilen, näher in den Blick genommen.
Über Scope 1 und 2 lassen sich in der Regel relativ schnell Aussagen treffen. Eine echte Herausforderung hingegen ist Scope 3, unter anderem deshalb, weil in den Unternehmen häufig die Qualität der Daten zu wünschen übriglässt.
Aktuell befindet sich die ISO-Norm 14086 in der finalen Abstimmung. Sie wird deutlich machen, dass über alle drei Scopes gesprochen und die komplette Lieferkette in die Betrachtung mit einbezogen werden muss, wenn über „Klimaneutralität“ gesprochen wird. Dieser Sachverhalt macht das Thema überdies sehr komplex und deutlich aufwendiger in der Erstellung.
Ziel für Industrieunternehmen: Klimaneutralität bis 2045 erreichen
Das Ziel ist von der Politik festgelegt, doch existiert in Unternehmen häufig kein konkreter Plan, wie dieses Ziel erreicht werden soll. Wird es lediglich aus Marketingsicht ausgerufen, beschäftigen sich Führungskräfte meist erst im zweiten Schritt ernsthaft mit dem Thema.
In diesem Kontext hat die Geschäftsführung eine zweifache Aufgabe: Erstens muss sie, ausgehend von der Treibhausgas-Bilanz, zunächst einmal Transparenz schaffen und zweitens den Weg zum Ziel, den „Dekarbonisierungspfad“, aufzeigen. So weit, so gut. Ist der Startschuss gefallen, begehen Unternehmen jedoch häufig den Fehler, „irgendwo“ zu beginnen anstatt richtig. Es ist sehr zu empfehlen, ein gemeinsames Verständnis dafür zu schaffen, was und wie genau bilanziert werden soll. Nicht vergessen werden sollte in diesem Zusammenhang, dass die Bilanzierung nicht den Anspruch hat, den Absolutwert perfekt darzustellen. Schließlich ist die Bilanzwelt nicht dafür da, um Unternehmen A mit Unternehmen B vergleichen zu können, sondern zu erkennen, welches die wesentlichen Emissionsquellen sind. Um dann die richtigen Werte anzusetzen.
Tipp für Treihausgasbilanz: Bei Daten keinen 100%-Ansatz verfolgen
Wer auch immer mit der Erstellung einer Treibhausgas-Bilanz beschäftigt ist: Anstatt einen 100%-Ansatz zu verfolgen, ist es zielführender, Schritt für Schritt zu gehen. Und mit denjenigen Emissionstreibern zu beginnen, die mit einfachen Mitteln und ohne viel händischen Aufwand zu erfassen sind. Daneben können es auch Treiber sein, die aus Imagegründen oder mit Blick auf diverse Stakeholder in diesem Kontext wichtig sind.
Vom Groben zum Feinen gehend gilt es dann, für die wesentlichen Punkte konkrete Maßnahmen zu überlegen, Chancen und Risiken darzustellen sowie die Wirtschaftlichkeit und Energiepreis-Szenarien zu betrachten. Diese Maßnahmen sind anschließend in eine zeitliche Reihenfolge zu überführen: eine Roadmap.
Wenn es um das Thema Umsetzung geht, steht bei KMU vor allem das Ressourcenthema im Zentrum. Denn zusätzlich zu den bereits etablierten Energiethemen kommen nun noch die Nachhaltigkeits- und CO2-Themen mit auf die Agenda. Dabei handelt es sich um ein Aufgabenspektrum, das sich mit einer „5%-Instandhaltungsstelle“ nicht nebenbei bewältigen lässt. In das Thema Umsetzung kommt erfahrungsgemäß dann eindeutig „Zug“, wenn die Geschäftsführung das Thema ernst nimmt, sich selbst involviert und die entsprechenden Ressourcen intern oder extern einstellt.
Die Geschäftsführung sucht sich in der Regel „Erfüllungsgehilfen“, die sich um die operative Umsetzung kümmern und über Maßnahmen, Fortschritte, (Zwischen-) Ergebnisse und andere mehr Bericht erstatten. Auch nach dem Start genügend Druck auf dem Kessel zu lassen ist absolut notwendig, weil andernfalls die Akzeptanz auf Seiten der Mitarbeiter schwierig zu gewährleistet ist.
Dekarbonisierung mit Transformationskonzept und Treibhausgas-Bilanz
Eine wichtige Rolle beim Thema Klimaneutralität spielt ein Transformationskonzept. Dies umzusetzen, gelingt nicht ohne einen professionellen Change-Prozess, da sich das Denken verändern muss. Klimaneutralität ist ein gutes Thema, um Mitarbeiter mitzunehmen, zumal das Interesse gerade bei der jüngeren Generation wächst. Aus diesem Grund ist es empfehlenswert, die Treibhausgas-Bilanz im Unternehmen transparent darzustellen. In diesem Zusammenhang sind Workshops sehr hilfreich, um Mitarbeiter aus verschiedenen Ebenen mit einzubeziehen. Nicht nur aus dem Grund, um Zahlen und Begrifflichkeiten transparent zu machen. Häufig wird auch unterschätzt, wie viele gute Ideen bei den Mitarbeitern auf den unterschiedlichsten Ebenen schlummern. Im Rahmen eines wie auch immer gearteten Vorschlagswesens lassen sie sich dann involvieren, um den Transformationspfad weiterzuentwickeln.
In diesem Kontext macht es durchaus Sinn, von einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess zu sprechen. Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass die Perspektive eine andere ist, da sich Unternehmen ein anderes Ziel setzen müssen. Was ist damit gemeint? Klassisches KVP-Denken bedeutet beispielsweise „3% besser pro Jahr werden“. Beim Thema Klimaneutralität haben Unternehmen jedoch ein absolutes Ziel vor Augen. Es lautet „Wir wollen zum Zeitpunkt X auf Null sein.“ Von daher ist Umdenken angesagt: Raus aus der Energiemanagement-Welt, in der es darum ging, ein paar Prozent einzusparen, und hin zu Absolutwerten, die erreicht werden müssen.
Fakt ist: Auf dem Weg zur Klimaneutralität sind Transparenz und Glaubwürdigkeit von zentraler Bedeutung. Ausgangspunkt ist die Treibhausgas-Bilanz mit einer klar definierten Roadmap und einem kontinuierlichen und systematischen Verbesserungsprozess. Auch wenn es sich beim Thema Dekarbonisierung noch immer um eine diffuse „Nebelwolke“ handelt: Unternehmen müssen sich auf den Weg machen. Und das ist Ingenieursarbeit.
Zum Autor
Prof. Dr.-Ing. Mark Junge ist Geschäftsführer der Limón GmbH, Kassel, und Autor des aktuellen kompakten eBooks „Durchstarten bei der Transformation – Wegweiser für die Dekarbonisierung von Unternehmen“, erschienen im LOG_X Verlag