Inhaltsverzeichnis
1. Vlies-Produktion könnte auch in Deutschland rentabel sein
2. KI entschlüsselt undurchsichtige Kausalitäten
3. Lernende Maschinen für mehr Recycling
4. Erklärbare KI als neues Kompetenzfeld
Erst durch praxisnahe Anwendung in der Industrie kann KI seine Stärken für Unternehmen voll entfalten. Für diese Sicht tritt die Zuse-Gemeinschaft ein und plausibilisiert sie durch zwei aktuelle Projektbeispiele aus der Zusammenarbeit mit der Industrie. Das erste betrifft die aktuelle Ausnahmesituation: Mit der Corona-Krise sind Vliesstoffe über die Fachwelt hinaus bekannt geworden, denn sie bilden das Ausgangsmaterial für Schutzmasken. Die aufgetretenen Engpässe am Markt 2020 zeigten, wie stark Deutschland hier von Lieferungen aus dem Ausland abhängig ist.
Zugleich ist Deutschland in anderen Vliesstoff-Segmenten und bei Maschinen für die Vliesstoffherstellung eine wichtige Größe auf den Weltmärkten. Damit das so bleibt, arbeitet die Branche an Innovationen. Ein zentraler Baustein dafür: Die Nutzung Künstlicher Intelligenz (KI).
Vlies-Produktion könnte auch in Deutschland rentabel sein
Am ITA Augsburg hat man dafür Grundlagen gelegt, auf denen sich nun aufbauen lässt. Die Vision: Die Maschine zur Vliesstoffproduktion passt die Parameter entsprechend den Erfordernissen im laufenden Betrieb autonom an. Etwaig auftretende Fehler werden von der Maschine selbstständig diagnostiziert, die Drehzahlen entsprechend angepasst.
Im Projekt EasyVlies haben die Forscher gezeigt, wie sich Material- und Energiekosten mit der Nutzung von Daten einsparen lassen. Zusammen mit Partnern aus der Industrie erreichten sie, dass die Maschine zentrale Parameter wie Drehzahlen und Abstände mit dem dafür entwickelten KI-Modell vorhersagen kann – wobei eine große Kombinationsmenge für die gewünschte Produktqualität berücksichtigt werden muss. „Die Abstände der bis zu 40 Arbeitselemente in der Maschine bestimmen dabei kombiniert mit den Drehzahlen der Walzen die Öffnung der Faserflocken bis zur Einzelfaser und zur Bildung des Vlieses“, erläutert ITA-Augsburg Geschäftsführer Prof. Stefan Schlichter.
KI entschlüsselt undurchsichtige Kausalitäten
Die naturwissenschaftlichen Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen den Drehzahlen und den Qualitätsparametern der Vliesstoffproduktion sind nicht eindeutig bekannt. Gerade deshalb kann KI hier seine Vorteile ausspielen. „Denn Künstliche Intelligenz kann auch diffuse Zusammenhänge modellieren und simulieren“, betont Schlichter.
Die Algorithmen dafür hat Maschinenbauingenieur Dr. Frederik Cloppenburg aus dem Aachener ITA-Stammhaus entwickelt, 280 Versuche wurden im Zusammenspiel mit der KI-Entwicklung durchgeführt. In der unternehmerischen Praxis lernen die Algorithmen nun hinzu. Das zeigt bei einem Vliesstoffbetrieb der Fahrzeugbranche bereits erste Erfolge in der betrieblichen Praxis.
Im nächsten Schritt arbeiten die ITA-Forschenden daran, Messtechnik wie Kamerasysteme und strahlungsbasierte Messsysteme für die Gleichmäßigkeit des Vliesstoffs in die Maschinen zu integrieren. Ziel: Fehler so prognostizieren, dass sie gar nicht erst auftreten. Das Aufkommen an Vliesstoff-Ausschuss soll so um 30 bis 50 % sinken. Angesichts von bislang jährlich allein in Deutschland anfallender Ausschussware im Wert von 150 Mio. Euro, das entspricht 10 % des Branchenumsatzes, ein erheblicher Anreiz. „Die hoch qualifizierten Facharbeiter beaufsichtigen sozusagen die lernende Maschine“, erklärt Schlichter.
Lernende Maschinen für mehr Recycling
Industrie 4.0 wird in der Kunststoffbranche künftig auch benötigt, um das Ziel höherer Recyclingquoten zu erreichen. Denn eine weniger einheitliche Rohstoffbasis macht lernende Maschinen noch wertvoller. Das ist auch Ausgangspunkt des vom Bundesforschungsministerium (BMBF) geförderten Verbundprojekts Cyclops des Kunststoff-Zentrums SKZ und namhaften Partnern aus Wissenschaft und Wirtschaft. Durch den Einsatz von KI sollen Materialströme automatisiert klassifiziert werden, damit sie sich optimal verwenden lassen.
„Die Maschinen sollen künftig eigenständig erkennen, in welche Anwendungen produzierte Materialien eines bestimmten Typs gehen können“ erläutert SKZ-Gruppenleiter Digitalisierung, Christoph Kugler. Ein Faktor: Die Fließfähigkeit des Kunststoffs, seine Viskosität. Je kürzer die Polymerketten des Materials, desto größer, vereinfacht gesagt, ihre Fließfähigkeit. Für diese Fließfähigkeit spielt andererseits auch das Druckniveau in der Maschine eine Rolle.
Hier kommt wiederum die KI ins Spiel: „Durch Künstliche Intelligenz können Materialeigenschaften und selbstlernende Maschinensteuerungen sehr gut ineinanderwirken, so unsere Erwartung“, erklärt Kugler. Grundlage für die angewandte Forschung in Cyclops sind sowohl Prozessdaten aus den Maschinen, welche die Materialqualität beschreiben können, als auch Daten entlang des Lebenswegs von Material und Produkt. Im Rahmen des Projektes werden damit die Transparenz und Informationsdichte erhöht, die nach wie vor zu den größten Hemmnissen der Kreislaufwirtschaft gehören.
Erklärbare KI als neues Kompetenzfeld
Das SKZ baut mit dem Projekt auf KI-Expertise auf, die über abgeschlossene und noch laufende Projekte erarbeitet wurde. In der Vergangenheit lag der Schwerpunkt bei sogenannten Softsensoren aus Prozessdaten, um komplexe Qualitätskennwerte wie die Viskosität oder den Vernetzungsgrad des Kunststoffs zu berechnen. Durch die Weiterentwicklung der Technologie werden neue Expertisefelder erschlossen, so etwa das Optimieren der Prozessmodelle durch KI, die Prognose des Materialverhaltens unter Last oder auch erklärbare KI (XAI). Sie beschreibt den Weg, auf dem Algorithmen zu ihren Ergebnissen gelangen.
In den letzten Jahren wurde ebenfalls der Einsatz von digitalen Technologien und KI im Kontext der Kreislaufwirtschaft am SKZ forciert, so in den noch jeweils bis ins nächste Jahr hinein laufenden Projekten Di-Plast und DiLinK. Während Di-Plast ein EU-Projekt ist, wird DiLink ebenfalls vom BMBF gefördert. Mit dem FIR e.V. ist ein weiteres Institut der Zuse-Gemeinschaft im DiLink-Projektkonsortium vertreten, mit dem Fokus auf dem Thema Geschäftsmodelle. Denn diese verändern sich durch das Vordringen der KI in immer mehr Aspekten des Maschinenbaus. (os)
Über die Zuse-Gemeinschaft
Die Zuse-Gemeinschaft vertritt die Interessen gemeinnütziger, privatwirtschaftlich organisierter Industrieforschungseinrichtungen. Dem technologie- und branchenoffenen Verband gehören bundesweit 77 Institute an. Als praxisnahe Ideengeber des deutschen Mittelstandes übersetzen sie die Erkenntnisse der Wissenschaft in anwendbare Technologien und bereiten so den Boden für Innovationen, die deutsche Mittelständler weltweit erfolgreich machen.