Die Auftragsbücher füllen sich deutlich schneller als die Lager. Drehteileherstellern fehlt der Nachschub mit Vormaterial. Jetzt sind Organisationstalent und ein gutes Netzwerk gefragt.
Waldemar Leib telefoniert mittlerweile jede Woche mit seinen Lieferanten. Er sucht immer wieder neue Auswege aus der prekären Versorgungslage beim Vormaterial Stahl. „Selbst auf Standardware warten wir statt der üblichen zwei bis vier Wochen über drei Monate – oder länger“, erklärt Leib, der den Einkauf bei der Hugo Karrenberg & Sohn GmbH & Co. KG leitet.
„Die Verbindlichkeit ist weg, was für uns organisatorisch einen deutlichen Mehraufwand bedeutet“, ergänzt Thilo Karrenberg, technischer Leiter des Unternehmens, das präzise Drehteile unter anderem für die Automobil- und Elektroindustrie fertigt.
Damit ist er nicht alleine: „Die Lage ist angespannt. Ob wir spontane Zusatzbedarfe geliefert bekommen, ist eher eine Glücksfrage. Konkrete Preise werden uns für längerfristige Bedarfe teilweise gar nicht mehr genannt, und es herrscht eine große Unsicherheit in Bezug auf Lieferzeiten und -mengen“, bestätigt Stefan W. Schauerte, Geschäftsführer der Wilhelm Schauerte GmbH & Co. KG, Hersteller von Präzisionsdrehteilen aus metallischen Werkstoffen aller Art.
„Am Ende geht es um die Frage der Versorgung und nicht um den Preis“, ergänzt Leib. Genau das bringt die Drehteilehersteller und andere stahlverarbeitende Betriebe in Bedrängnis. Denn die Preise sind in den vergangenen Monaten um bis zu 70 % gestiegen, rechnet der Chef-Einkäufer vor.
Kein Einzelfall
Materialengpässe und damit deutliche Preissteigerungen betreffen derzeit viele Branchen – Bauholz fehlt ebenso wie Kunststoff. „Die Märkte sind im Ungleichgewicht,“ kommentiert Andreas Schneider, Unternehmensberater der StahlmarktConsult in seinem Vortrag vor den Mitgliedern des Verbands der Deutschen Drehteile-Industrie.
Die Gründe sind vielfältig: Konjunkturpakete und eine weltweit expansive Geldpolitik, ein starker chinesischer Markt, der zudem weniger exportieren will als vor der Krise, leere Lager auf der Verbraucher- und eine inflexible Produktion auf der Herstellerseite.
Überraschende Entwicklung im vierten Quartal
„Die Erholung der Industrienachfrage kam schneller und stärker als erwartet“, resümiert Schneider. Die Hersteller produzieren schon seit Jahren immer weniger Stahl – entsprechend der schwächelnden Konjunktur. Die Corona-Pandemie wirkte hier wie ein Brennglas: Produktionen standen still, und metallverarbeitende Unternehmen leerten radikal ihre Lager, um sich Liquidität zu sichern – die Nachfrage brach nochmal deutlich ein.
Das war bis Mitte 2020 kein Problem. Als sich jedoch im vierten Quartal die Wirtschaft erholte, waren die Stahlhersteller darauf nicht vorbereitet. Der Aufholeffekt – die Lager wollen gefüllt werden – potenziert die Nachfrage.
Verband der Deutschen Drehteile-Industrie blickt auf 2020 zurück
Einen generellen Stahl-Boom sieht Schneider hier jedoch nicht. Er vergleicht die Auftragseingänge wichtiger Hauptabnehmergruppen, wie Maschinenbauer und Automobilzulieferer, mit denen der Blankstahlhersteller und bemerkt: „Die erste Verarbeitungsstufe bekommt unheimlich viele Aufträge, deutlich über dem Niveau der metallverarbeitenden Branchen.“
Die Frage, wohin der Stahl geht, kann er dagegen nicht eindeutig beantworten. Er vermutet Doppelbuchungen, Bestandsauffüllung und Nachholeffekte. Einen Sprung im realen Mehrbedarf sieht er nicht. „Ich erwarte, dass der Stahlverbrauch insgesamt in der EU und in Deutschland im Jahr 2021 ungefähr genauso hoch sein wird wie 2019.“ Der lag laut Eurofer (The European Steel Association) bei etwa 154 Mio. t.
Ausgleich bleibt noch aus
„Das Problem ist nicht die Nachfrage, sondern die Erzeugung. Und da die Stahlpreise nicht rohstoffgetrieben sind, werden sich diese wieder normalisieren, sobald die Nachfrage erfüllt ist“, sagt Schneider. Die Frage ist nur, wann das genau sein wird. Denn noch ist der Auftragsüberhang vom Vorjahr bei den Stahlherstellern nicht abgebaut.
Drehteileherstellern wie Karrenberg und Schauerte hilft das zunächst wenig. Ihr Alltag ist geprägt von Unsicherheit und einem hohen organisatorischen Aufwand. Laufende Verträge werden nicht erfüllt, und die Materialien kommen in zu geringen Mengen oder abweichenden Qualitäten an: Nicht immer stimmen Durchmesser oder Materialgüten mit den gewohnten Lieferungen überein.
„Qualitätsthemen, die wir lange nicht hatten, tauchen plötzlich wieder auf“, kommentiert Thilo Karrenberg. Er versucht, flexibler zu werden und Zugeständnisse dort zu machen, wo er es verantworten kann. Dabei bleibt er auf den Mehrkosten sitzen.
Auch Schauerte hat das Nachsehen: „Wir rüsten Maschinen in der Erwartung, das erforderliche Material mit der nächsten Lieferung zu erhalten. Fehlt es, müssen wir umrüsten. Das bindet Personal und bedeutet für uns zusätzliche Nebenzeit und damit mehr Kosten.“ Auch die vielen Gespräche mit den Lieferanten, die Leib deutlich häufiger als früher führt, kosten Zeit und Aufwand. Hinzu kommen Sonderfahrten zu Kunden und Unterlieferanten.
Aktiv werden, wo es geht
Die Situation einfach aussitzen ist für Karrenberg und Schauerte keine Option. Die Drehteilehersteller bauen ihre Lieferantennetzwerke aus, stärken die interne Kommunikation zwischen Ein- und Verkauf. „Wir versuchen die Last auf mehrere Schultern zu verteilen“, erklärt Stefan Schauerte.
Und sie kommunizieren offen mit ihren Auftraggebern. Diese sind wenig überrascht, aber nicht immer verständnisvoll – sowohl gegenüber den höheren Materialpreisen als auch bei Lieferverzögerungen. „Kunden wollen es bis zum Jahresende aussitzen und bestehen auf die verhandelten Rahmenverträge. Die Mehrkosten von teilweise 70 % müssen wir dann selbst tragen“, berichtet Karrenberg und ergänzt: „Andere Kunden kommen uns mehr entgegen. Es ist aber immer mit Diskussionen verbunden.“
Stefan Schauerte rechnet, wie auch Stahlmarktexperte Andreas Schneider, mit einer Entspannung im späteren Verlaufe des Jahres. Die aktuellen Zahlen der Wirtschaftsvereinigung Stahl geben ihnen Recht. In der Aprilmeldung heißt es, dass die Rohstahlproduktion in den ersten vier Monaten des aktuellen Jahres im Vergleich zu 2020 um rund 9 % zugelegt hat.
Haupttreiber waren vor allem die Monate März und April, die ein Plus von 15 und 30 % verzeichnen. Bis sich das jedoch bei den Zerspanern niederschlägt, bleibt die Lage angespannt. Nach einigen Telefonaten mit seinen Kontaktleuten geht Leib von einer weiteren Preiserhöhung aus. (bec)
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