Alexandra Mertel, Projektmanagerin bei Linde Material Handling, kennt die Risiken: „Die größten Gefahren in den Industrie- und Lagerhallen lauern immer genau da, wo Menschen und Fahrzeuge aufeinandertreffen.“ Das bestätigt auch eine Studie der Europäischen Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz. 68 % der europäischen Unternehmen geben an, dass immer noch ein hohes Unfallrisiko bei der Arbeit mit Fahrzeugen bestehe. Zwar piept und blinkt es bereits in vielen Produktionswerken und Lagerhallen, um Fußgänger und Gabelstapler voreinander zu warnen und so folgenreiche und kostspielige Unfälle zu vermeiden. Das Problem ist jedoch nach wie vor, dass diese Assistenzsysteme alle Fußgänger im Umkreis pauschal warnen. Die Folge ist eine Reizüberflutung an Signalen, die irgendwann nicht mehr vollständig wahrgenommen werden.
Das neue Assistenzsystem Linde Safety Guard von Linde Material Handling warnt dagegen nur, wenn wirklich Gefahr droht, denn das Konzept basiert auf der Ortung von Fahrzeug und Fußgänger. „Mit dieser Technik gelingt eine punktuelle Warnung mit einer Genauigkeit von zehn Zentimeter“, sagt Mertel. Was dahinter steckt ist eine 12 x 7,5 cm große, fest installierte Einrichtung am Fahrzeug (Truck Unit) und eine mobile Einheit (Portable Unit), die der Fußgänger am Körper trägt. Der Clou dabei ist, dass der Fußgänger die Gefahrt sogar spürt, denn das mobile Gerät warnt ihn nicht nur akustisch und optisch, sondern zusätzlich mit einer Vibrationen. Auch für den Fahrer gibt es einen Mehrwert. Neben der Warnung zeigt ihm das Display an, wie viele Personen sich in der Warnzone befinden und aus welcher Richtung dsie sich dem Fahrzeug nähern.
„Ein großer Vorteil ist, dass das System durch Wände, Regale und Tore hindurch sehen kann“, sagt Mertel. In der Praxis ist das ein wichtiger Punkt, denn oft werden Gebäude nach und nach erweitert und sind daher verwinkelt. Und nicht selten liegen Fahrwege direkt neben Türen. Dank der Ultra-Breitband-Technik im 4-Gigahertz-Bereich geht das Signal durch Mauern hindurch, sodass ein Fußgänger noch vor dem Öffnen der Tür vor dem herannahenden Flurförderzeug gewarnt wird. Andere Netzwerke wie zum Beispiel WLAN, Bluetooth oder RFID werden dabei nicht gestört.
Ein Grund dafür, dass es in manchen Bereichen häufig zu Unfällen kommt, ist erhöhte Geschwindigkeit. „An unübersichtlichen Kreuzungen und Ecken, aber auch in Bereichen, wo Personen häufig den Weg kreuzen, beobachten wir ein erhöhtes Unfallrisiko“, sagt Elke Karnarski, Produktmanagerin Service bei Linde Material Handling. Mit dem Safety Guard lassen sich über den so genannten „Zone Marker“ Bereiche definieren, in denen langsamer gefahren werden soll. Fährt ein Stapler in eine solche Zone ein, reduziert das System automatisch auf die maximal erlaubte Geschwindigkeit.
Der Safety Guard funktioniert aber nicht nur zwischen Person und Stapler, sondern auch zwischen Stapler und Stapler. Wenn sich die Situation anbahnt, dass sich zwei Fahrzeuge kreuzen, werden beide Fahrer durch ihre Truck Unit gewarnt und erhalten zeitgleich die Information, aus welcher Richtung sich der andere Stapler nähert.
Das System der Spezialisten aus Aschaffenburg ist modular aufgebaut und lässt sich daher einfach und in kurzer Zeit installieren. Auch die Warnzonen kann der Anwender individuell konfigurieren. Künftig soll die Technik als Serienoption für Neufahrzeuge und als Lösung zum Nachrüsten angeboten werden.
Ebenfalls neu im Programm der Aschaffenburger ist das Umgebungs-Kamerasystem Surround View, mit dem der Fahrer einen 360-Grad-Blick rund um sein Fahrzeug bekommt. Die Technik soll vor allem den toten Winkel eleminieren, in den die Fußgänger immer wieder geraten. Dann wird es gefährlich, denn der Fahrer sieht die Person zu spät oder gar nicht und es kommt schnell zum Unfall. Solche brenzligen Situationen sollen dank der neuen Technik erst gar nicht entstehen.
Im Automobilbereich bieten viele Hersteller sogenannte Bird-View-Lösungen als videobasierte Einparkhilfe an. Das System setzt sich aus mehreren Kameras zusammen, deren Einzelbilder per Software zu einem Gesamtbild zusammengesetzt werden. In dieses Bild platziert der Bordcomputer dann die Konturen des Fahrzeugs und zeigt es dem Fahrer als virtuelle Vogelperspektive an. Das Lösung von Linde geht einen Schritt weiter. Die Bilder basieren zwar ebenfalls auf den Live-Daten der Kameras, die rund um den Stapler montiert sind. Statt eines Gesamtbildes werden jedoch ein vorderer, zwei seitliche und ein hinterer Sichtbereich erzeugt. Die Kameraansichten werden als Splitscreen auf dem Monitor am Fahrerarbeitsplatz angezeigt. Eine verzerrte und möglicherweise undeutliche Darstellung der Kamera-Überschneidungsbereiche wie beim Bird-View-System wird vermieden. Befindet sich eine Person im Überschneidungsbereich von zwei Kameras, wird sie in beiden Sichtbereichen angezeigt.
Bei Vorwärtsfahrten sind standardmäßig alle vier Sichtbereiche im Display zu sehen. Bei Rückwärtsfahrten wechselt die Anzeige auf den hinteren und die beiden seitlichen Sichtbereiche. Der Fahrer erkennt also frühzeitig mögliche Kollisionsgefahren. Auch Beschädigungen von Waren, Regalen und am Stapler selbst lassen sich durch den erweiterten Blick vermeiden.
Die erweiterte Sicht bedeutet auch höhere Produktivität, denn der Fahrer kann effizienter arbeiten. Beispielsweise sieht er beim Einlagern, was vor den Gabelzinken passiert – auch wenn die Last die Sicht behindert. „Die neue Option wird zunächst für alle Frontstapler-Modelle ab vier Tonnen Tragfähigkeit angeboten“, sagt Frank Bergmann, Produktmanager Frontstapler bei Linde Material Handling. Gerade in engen Arbeitsbereichen und bei Rangiervorgängen sei die Option ein Gewinn, so Bergmann: „Jeder Winkel um das Fahrzeug wird für den Bediener einsehbar und das ist für die Sicherheit entscheidend.“ (ub)