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Moderner Arbeitsschutz beginnt beim Verhalten von Menschen

Der Nutzen einer guten Sicherheitskultur
Moderner Arbeitsschutz beginnt beim Verhalten von Menschen

Moderner Arbeitsschutz beginnt beim Verhalten von Menschen
Nachdem seit Mitte der 90er Jahre die meldepflichtigen Arbeitsunfälle deutlich reduziert werden konnten, stagnieren die Arbeitsunfälle seit 2012 bei rund 870.000 pro Jahr. Bild: Industrieblick/stock.adobe.com
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Wenn die Mehrzahl an Arbeitsunfällen nicht mehr durch Maschinen, sondern durch Menschen verursacht werden, dann lohnt sich ein Blick auf die Ursachen hinter den Ursachen. Hierbei wird deutlich, dass das Safety Mindset entscheidend für eine gute Sicherheitskultur geprägt und somit weniger Arbeitsunfälle ist.

» Stefan Ganzke, Wandelwerker Consulting GmbH, Wuppertal

Eine Produktionsmitarbeiterin bekommt von ihrem Schichtführer den Auftrag, den vollen Staubbehälter der Produktionsanlage zu leeren. Die Mitarbeiterin begibt sich ohne Zeitnot schnellen Schrittes die zehnstufige Stahltreppe hinauf. Oben auf dem Plateau angekommen, entnimmt sie den gefüllten Sack, schnürt ihn zu und packt einen neuen Sack in den Staubbehälter. Nachdem der Staubbehälter wieder ordnungsgemäß gesichert ist, begibt sich die Produktionsmitarbeiterin wieder schnellen Schrittes die Treppe herunter. Auf der fünften Stufe stolpert sie plötzlich. Der panische Griff an den blau gestrichenen Handlauf verfehlt diesen, sie kann das Gleichgewicht nicht mehr halten und stürzt fünf Stufen herunter auf den Betonboden. Die Untersuchung im Krankenhaus ergibt, dass die Produktionsmitarbeiterin neben einer zehn Zentimeter langen Schürfwunde am linken Arm auch eine stärkere Prellung an der linken Schulter davongetragen hat…

Arbeitsunfälle wie dieser ereignen sich täglich mehrfach in Deutschland. Stolpern, Rutschen und Stürzen zählen zu den häufigsten Ursachen von meldepflichtigen Arbeitsunfällen und stehen hier symbolisch für die Herausforderung, vor der sich die Unternehmen heute sehen.

Safety Mindset – der Arbeitsschutz muss sich anpassen

Nachdem seit Mitte der 90er Jahre die meldepflichtigen Arbeitsunfälle deutlich reduziert werden konnten, stagnieren die Arbeitsunfälle seit 2012 bei rund 870.000 pro Jahr. Eine Ausnahme stellt das Pandemie-Jahr 2020 dar, welches jedoch bedingt durch zum Beispiel Homeoffice (mobiles Arbeiten) oder Kurzarbeit besondere Rahmenbedingungen besaß. Die Auswertung von Arbeitsunfällen zeigt sehr deutlich, dass die Unfallursachen heute nur noch selten auf Maschinen zurückzuführen sind. Ein Zeichen dafür, dass die Maschinensicherheit beziehungsweise der technische Arbeitsschutz in den letzten Jahren ein hohes Niveau erreicht hat. Der Hauptanteil von bis zu 90 % der Arbeitsunfälle entsteht durch bewusste beziehungsweise unbewusste Entscheidungen von Menschen. Entscheidungen von Führungskräften und Mitarbeitenden, sich nicht sicher zu verhalten. Das oben geschilderte Beispiel der Produktionsmitarbeiterin zeigt, dass der Unfall mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die Nutzung des Handlaufs sowie langsamen Schrittes hätte vermieden werden können.

Wenn rund 90 % der Arbeitsunfälle durch menschliches Verhalten bedingt sind, dann braucht es in den Unternehmen einen neuen Fokus auf den verhaltensorientierten Arbeitsschutz. Die konventionellen technischen, organisatorischen und personenbezogenen Schutzmaßnahmen haben weiterhin Bestand und sind wichtig, jedoch braucht es den Baustein der verhaltensorientierten Gestaltungsmaßnahmen, um die stagnierenden Unfallzahlen zu reduzieren. Der wesentliche Unterschied zwischen dem konventionellen und dem verhaltensorientierten Arbeitsschutz lässt sich vereinfacht darin finden, dass bei letzterem die Akzeptanz für den Arbeitsschutz und das Sicherheitsbewusstsein bei den Führungskräften und Mitarbeitenden weiterentwickelt wird.

Sicherheitsbewusstsein und Arbeitsunfälle

Der Zusammenhang zwischen dem Sicherheitsbewusstsein von Menschen und der Anzahl der Arbeitsunfälle lässt sich anhand der Bradley Kurve erklären. Anhand dieser Kurve lässt sich erkennen, dass es vier Phasen einer Sicherheitskultur gibt. In der ersten Phase der Sicherheitskultur besitzen die Führungskräfte und Mitarbeitenden den Glaubenssatz, dass Arbeitsunfälle halt passieren und nicht verhindert werden können. Es ist wahrscheinlich keine Überraschung, dass die Arbeitsunfälle bei diesem Glaubenssatz am häufigsten sind. In der vierten Stufe der Sicherheitskultur haben sowohl Führungskräfte und Mitarbeitende die Erwartung, dass keine Arbeitsunfälle eintreten, und sind davon überzeugt, dass jeder Unfall vermieden werden kann. Das bei diesem flächendeckenden Glaubenssatz die Arbeitsunfälle auf einem tiefen Stand sind, lässt sich vermutlich auch ableiten.

Unsere Glaubenssätze sind entscheidend

„Ob Du denkst, du kannst es, oder Du kannst es nicht. Du wirst auf jeden Fall recht behalten“, sagte einst schon Henry Ford. Ein Zitat, das sich an die Glaubenssätze von Menschen anlehnt. Glaubenssätze, die anhand der Bradley Kurve auch nachweislich das sichere Verhalten von Menschen am Arbeitsplatz beeinflussen. Die Herausforderung von Unternehmen ist es also, an den Glaubenssätze beziehungsweise der Haltung zum Arbeitsschutz, auch Safety Mindset genannt, zu arbeiten. Eine Fähigkeit, die insbesondere in den sehr stark technisch geprägten Ausbildungen von Sicherheitsingenieuren und Fachkräften für Arbeitssicherheit noch zu wenig gefördert wird.

In einer chemischen Produktion entsteht plötzlich ein schleifendes Geräusch an einer großen Abfüllanlage. Ein Mitarbeiter der Instandhaltung wird gerufen, der mit seinem geschulten Ohr das Geräusch unterhalb eines Förderbandes lokalisiert. Der routinierte Schlosser nimmt seine schwarze Anstoßkappe in die Hand und legt sie neben sich. Ohne Anstoßkappe kriecht er unter das Förderband, findet gelockerte Schrauben und zieht diese wieder fest. Auf dem Weg zurück hebt er mit Schwung zu früh den Kopf und knallt an eine scharfe Kante unterhalb des Förderbandes. Hierbei zieht sich der Schlosser eine rund sechs Zentimeter lange Platzwunde in der Mitte des Kopfs zu. Im Krankenhaus wird die Platzwunde gereinigt und genäht. In der Unfallanalyse wird der Schlosser gefragt, warum er seine Anstoßkappe beiseite legte und nicht aufsetzte. Der Schlosser schildert vertrauenswürdig, dass er sich dieses Verhalten auch nicht erklären kann.

Unbewusste Entscheidungen

Das Beispiel des Schlossers zeigt eine wesentliche Erkenntnis aus der Neurowissenschaft. Die Entscheidungen von Menschen werden bis zu 99 % unterbewusst getroffen. Als Menschen treffen wir also kaum Entscheidungen bewusst. Unser Unterbewusstsein wird durch Glaubenssätze geprägt, die durch unser soziales, familiäres und kulturelles Umfeld sowie unsere eigenen Erfahrungen geprägt werden. Gerade die eigenen Erfahrungen sind ein wichtiger Faktor, wenn ein förderliches Safety Mindset im Unternehmen erreicht werden soll.

An einer Maschine zur Herstellung von Kunststofffolien kommt es zu einem Problem mit der Folie. Wenn der Mitarbeiter an dieser Stelle bei laufendem Prozess in die Maschine hineingreift und den Fehler behebt, entscheidet die Reaktion seines Umfeldes darüber, welche Erfahrung er sammelt. Wird das Verhalten geduldet, dann entsteht der Glaubenssatz, dass man mal eben in die Maschine fassen kann, weil eh nichts passiert. Wird der Mitarbeiter jedoch bei seiner Handlung von Kollegen unterbrochen oder von seiner Führungskraft mit einem klärenden Gespräch bedacht, in dem Sicherheit als höchstes Gut herausgestellt wird, entsteht ein anderer Glaubenssatz. Die Erfahrungen entscheiden also darüber, welche Glaubenssätze sich bei Menschen entwickeln. Im Wesentlichen kann dieser Prozess in vier Schritten beschrieben werden, dem sogenannten Safety Loop. Im ersten Schritt hat ein Mensch bereits einen Glaubenssatz. Dann kommt es zum Beispiel zu einem Problem an der Maschine und unterbewusst läuft ein Denkprozess ab, der Mensch entscheidet sich für eine Handlung und sammelt so eine Erfahrung. Diese Erfahrung prägt dann wieder die Glaubenssätze. Der Safety Loop wiederholt sich immer wieder und kann dadurch Glaubenssätze zum Arbeitsschutz vertiefen oder verändern.

Hemmende Glaubenssätze gegenüber dem Arbeitsschutz

Hemmende Glaubenssätze gegenüber dem betrieblichen Arbeitsschutz dürften sich wahrscheinlich in jedem Unternehmen wiederfinden. Gängige hemmende Glaubenssätze sind beispielsweise „es ist noch nie etwas passiert“, „wenn ich das so mache, kann ich nicht mehr arbeiten“ oder auch „das machen wir schon immer so“. Entscheidend dafür, wie sicher beziehungsweise nicht sicher Führungskräfte und Mitarbeitende arbeiten, ist die Anzahl und Ausprägung der hemmenden Glaubenssätze.

Der 4-Stufen-Plan zur Lösung hemmender Glaubenssätze

Führungskräfte besitzen eine große Verantwortung im Arbeitsschutz. Dennoch haben auch Sicherheitsingenieure und Fachkräfte für Arbeitssicherheit eine mindestens genauso wichtige Rolle, wenn es um das Lösen von hemmenden Glaubenssätzen geht. Deshalb richtet sich der folgende 4-Stufen-Plan an Sicherheitsingenieure und Fachkräfte für Arbeitssicherheit.

Damit Führungskräfte und Mitarbeitende eine neue Erfahrung sammeln können, müssen Sicherheitsingenieure und Fachkräfte für Arbeitssicherheit vier Schritte einhalten, um eine Verbindung zu dem Gegenüber aufzubauen und um dem Arbeitsschutz einen anderen Stellenwert zu geben. Im ersten Schritt muss der Arbeitsschutzexperte sich bewusst machen, dass es nicht nur seine persönliche Realität gibt, sondern auch eine Realität der Führungskräfte und Mitarbeiter. Die Realitäten unterscheiden sich wahrscheinlich im Stellenwert von Arbeitsschutz und Produktion. In der zweiten Stufe wird eine gemeinsame Basis geschaffen, indem der Sicherheitsingenieur und die Fachkraft für Arbeitssicherheit sich in Führungskräfte und Mitarbeitende „hineinfühlen“, um ehrlich zu verstehen, warum Mitarbeitende und Führungskräfte die jeweiligen und situativen Entscheidungen in der Praxis treffen. Durch dieses Verstehen ergibt sich die Möglichkeit, den hemmenden Glaubenssatz zu erkennen und diesen aufzulösen. Hierdurch können Sicherheitsingenieure und Fachkräfte für Arbeitssicherheit die Führungskräfte und Mitarbeitende abholen und zu mehr Sicherheitsbewusstsein und Akzeptanz für den Arbeitsschutz in einem bestimmten Kontext führen. Abschließend wird ein Commitment mit den Führungskräften und Mitarbeitenden vereinbart, bei dessen Einhaltung es positives Feedback gibt.

Arbeit am Safety Mindset

Wenn rund 90 % aller Arbeitsunfälle sich auf menschliche Entscheidungen und somit menschliches Verhalten zurückführen lassen, dann muss mehr mit den Führungskräften und Mitarbeitenden an deren Sicherheitsbewusstsein gearbeitet werden. Das Sicherheitsbewusstsein wird nachweislich durch die Glaubenssätze der Menschen im Unternehmen zum Arbeitsschutz geprägt.Gerade weil über 90 % aller Entscheidungen unterbewusst ablaufen, ist es von großer Bedeutung, am Safety Mindset einschließlich bestehender Glaubenssätze zu arbeiten. Eine Methode auf dem Weg zum verhaltensorientierten Arbeitsschutz ist der 4-Stufen-Plan, in dem Sicherheitsingenieure und Fachkräfte für Arbeitssicherheit eine wesentliche Rolle spielen. Eine Rolle, in die Arbeitsschutzexperten in den meisten Fällen erst hineinwachsen müssen.

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