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Industrie 4.0 Serie: Der Mehrwert von Start-ups für Industrie 4.0

Serie
Der Mehrwert von Start-ups für Industrie 4.0

Firmen im Artikel
Während sich die F&E-Abteilungen etablierter Unternehmen traditionell auf die Weiterentwicklung bestehender Lösungen konzentrieren, arbeiten Start-ups typischerweise an innovativen Produkten. Beide Ökosysteme sind aufeinander angewiesen und profitieren voneinander.

Michael Grupp
freier Journalist in Stuttgart

Die wachsende Bedeutung von Start-ups als Enabler von innovativen oder sogar disruptiven Lösungen für Industrie 4.0 lässt sich treffsicher an der Zahl der aktuellen Finanzierungsrunden festmachen. Diese stiegen in Deutschland von insgesamt 15 im Jahr 2012 auf mehr als 150 in 2018. Ein internationaler Trend, in Summe wurden 2019 bis dato gut 34 Mrd. Dollar in europäische Newcomer investiert – knapp 40 % mehr als 2018.

Dabei konnten London und Berlin die Konkurrenten in Singapur und Silicon Valley locker einholen. Sprich: In der Start-up-Welt führt inzwischen Europa vor Asien und den USA. Zu diesem überraschenden Ergebnis kommt die Studie „The State of European Tech“ des Londoner Investors Atomico (Stand: November 2019). Das meiste Risikokapital fließt demnach in britische Start-ups (10 Mrd. Dollar), gefolgt von Deutschland (knapp sechs Mrd. Dollar) und Frankreich (4,8 Mrd. Dollar). Die Studie räumt mit einem weiteren Vorurteil auf: Die Newcomer finden sich nicht nur in Metropolen, sondern vor allem in der Nähe von Industriekonglomeraten. Start-ups mit Industrie 4.0-Fokus vereinnahmen weltweit immerhin 5,9 Mrd. Dollar, so eine Studie der weltweit tätigen Investmentbank GP Bullhound. Diese Summe ist in den vergangenen fünf Jahren um das 14-fache gestiegen.

Old und New Economy

Eine Zusammenarbeit bietet sowohl etablierten Unternehmen wie auch den Nachwuchskräften beiderseitige Chancen. Eine Umfrage des BDI und der Deutschen Bank belegt, dass mittlerweile rund jedes zweite große Familienunternehmen mit Start-ups kooperiert. Die Bandbreite der Projektziele reicht dabei von inkrementellen Prozessinnovationen bis hin zu gänzlich neuen Geschäftsmodellen, welche die tradierte Geschäftslogik eines Unternehmens komplett auf den Kopf stellen kann. Auch die ganz Großen nutzen inzwischen die externen Innovationspotenziale: In der weltweiten Top Ten der strategischen Kooperationen mit Industrie-Start-ups liegt Siemens mit 43 Invests immerhin auf Platz drei, Bosch auf Platz fünf (36 Invests). Ansonsten dominieren Tech-Firmen wie Alphabet, Intel, Cisco, Qualcomm oder Microsoft diese Liste. Ein Indiz dafür, dass die Welten von Maschinenbau und Software zunehmend verschmelzen.

Vorteile und Nachsehen

Neben neuen Ideen und unkonventionellem Auftreten unterscheiden sich Start-ups auch in ihren Prozessen und Strukturen von ihrer potenziellen Klientel. Diese Charakteristika ist nicht per se besser oder schlechter, sondern allenfalls typisch für neu gegründete Unternehmen. Etablierte Marken sollten sich deshalb auf unkonventionelle Handlungsweisen einstellen. Das betrifft nicht nur die fehlende Krawatte beim Präsentations-Meeting, sondern vor allem auch eine andere Arbeitskultur. So agieren die meisten Newcomer zwar auf Basis eines (vom Business Angel, Geldgeber oder der Bank geforderten) Businessplans, sind aber agil (mutig, leichtsinnig, flexibel …) genug, ursprünglich geplante Vorgehensweisen zeitnah über Bord zu werfen, wenn sie sich als nicht markttauglich erweisen. In tradierten Unternehmen hingegen hält man im Rahmen einer Jahresplanung auch dann noch an laufenden Projekten fest, wenn ein Scheitern bereits absehbar ist. Bei Start-ups sind darüber hinaus Ressourcen in Form von Zeit, Geld und Mitarbeitern begrenzt. Unnötige Meetings, aufwendige Dokumentationen und die Bürokratie klassischer Organisationen werden dort deswegen wenig geschätzt. Und nicht zuletzt denken die Neuen meist konsequent vom Markt her: Sie beobachten ihre Kunden und reden mit ihnen. Frische Erkenntnisse fließen unmittelbar in Entwicklungen ein. In traditionellen Unternehmen hingegen entwickeln die eigenen Ingenieure oft Lösungen, die erst in der Rückschau mittels Kundenbefragungen validiert werden können. Auch die unterschiedlichen Entscheidungs-Hierarchien können zu beiderseitigen Irritationen führen. So haben Start-ups tendenziell kein Verständnis für die Dauer der Entscheidungsfindung ihrer Partner, die fest implementierte Stationen durchlaufen muss. Dabei ist dieser Aspekt ein Pluspunkt für KMUs und inhabergeführte Unternehmen bei der Kooperation mit New Economy-Firmen. Beide Partner können sich schnell und effizient im Rahmen flacher Hierarchien verständigen. In dieser Konstellation treffen oft auch Unternehmerpersönlichkeiten aufeinander, die eine ähnliche Sprache sprechen und gleiche Wertvorstellungen teilen, was ebenfalls zum Kooperationserfolg beitragen kann.

Kooperationsformen

Bei allen Herausforderungen überwiegen unter dem Strich die Vorteile. Das belegt die Studie des Instituts für Mittelstandsforschung „Kooperationen zwischen etabliertem Mittelstand und Start-ups“. Danach würde nahezu jedes KMU mit Kooperationserfahrung in Zukunft wieder eine solche Zusammenarbeit eingehen. Als wichtigster Grund wird dabei die Lösung für ein spezielles technisches Problem genannt, das bis dato nicht im Markt verfügbar war beziehungsweise mit dem eigenen Team nicht effizient oder schnell entwickelt werden kann. Als zweiter Pluspunkt wird die zunehmende Wettbewerbsfähigkeit im Rahmen der digitalen Transformation aufgeführt, die bis zur gemeinsamen Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen führen kann. Aber auch die Start-ups profitieren: Sie erhalten Zugang zu mehr Ressourcen – zum Beispiel zu spezifischem Fach- und Branchenwissen und zu den Netzwerken ihrer Kunden. Damit können sie ihre eigenen Lern- beziehungsweise Entwicklungsprozesse beschleunigen. Und natürlich spielen materielle Aspekte wie etwa Kapital, Produktionsanlagen und Produktionsmittel eine entscheidende Rolle für die Kooperation.

Wer sich auf dieser Basis zusammenfindet, muss sorgfältig die Art der Zusammenarbeit vorbereiten. Die Bandbreite der möglichen Kooperationsformen ist groß und sollte primär vom jeweiligen Projektziel abhängen. Sie reicht von der Bereitstellung von Ressourcen, über gemeinsame Projekte bis hin zu Inkubatorprogrammen. Dabei stellt das Unternehmen für eine bestimmte Zeitdauer alle benötigten Geld- und Produktionsmittel zur Verfügung und erhält im Gegenzug zumeist Unternehmensanteile. (Solche Programme bieten nicht nur Unternehmen, sondern auch mehrere Bundesländer und Kommunen an.) Die teilweise oder gesamte Übernahme wird durch die Gewährung von Corporate Venture Capital oder die komplette Akquisition besiegelt. Dabei ist zu beachten, dass klassische Übernahmen regelmäßig an der Inkompatibilität der Kulturen scheitern. Wird das junge Unternehmen einfach gekauft, vereinnahmt und in den „normalen“ Rahmen gepresst, lähmen ungewohnte Abstimmungsprozesse, Planungsrunden, Kompetenz-Wirrwarr, vertagte Entscheidungen und nicht zuletzt die omnipräsenten Bedenkenträger die Kraft und den Mehrwert der „jungen Wilden“. Besser ist es deshalb, Start-ups von Anfang an wie externe Berater einzubinden und mit eigenen Ressourcen auszustatten. Zudem müssen gerade Mittelständler ihre Sicherheitsbedenken ablegen und eine innovationsfreundliche Kultur verankern, die Rückschläge toleriert und nicht bestraft.

Gezielte Brautschau

Trotz der Vorteile oder wegen der Nachteile: Laut einer VDMA-Studie arbeitet aktuell erst rund die Hälfte aller VDMA-Mitglieder (55 %) mehr oder weniger eng mit Start-ups zusammen – fast drei Viertel möchten in den nächsten Jahren damit beginnen. Im Gesamtmarkt kooperieren nur knapp ein Drittel aller produzierenden Unternehmen mit Start-ups. Mehr als zwei Drittel der Befragten halten die Newcomer als strategisch relevant für ihre Branche. Die Gründe für die bislang verhaltene Kooperationsbereitschaft sind überraschend: So gab jeder zweite der insgesamt 606 befragten Geschäftsführer (53 %) an, keine Zeit für Start-up-Kooperationen zu haben. Und rund drei Viertel (73 %) berufen sich auf fehlende Kontakte zu Start-ups. Kein Wunder: Nur ein Viertel der KMUs engagiert sich aktiv im Bereich Start-up-Scouting.

Mit dem „Start-up-Radar“ will der VDMA in Zusammenarbeit mit AtomLeap in diesem Bereich Abhilfe schaffen. Dieses Panel bietet einen Gesamtüberblick über die globale Start-up-Szene für den Maschinenbau. Es analysiert weltweit die Technologie- und Produktfelder von innovativen Jungunternehmen und entdeckt frühzeitig Trends und potenzielle Kooperationspartner. Aktuell stehen auf der Longlist mehr als 3000 Start-up-Kontakte mit Maschinenbaurelevanz – gute Voraussetzungen für kooperationswillige Unternehmen.


Serie Industrie 4.0

Wir begleiten Sie mit dieser Serie auf dem Weg zur Digitalisierung. In dieser Ausgabe beleuchten wir das Thema Start-ups im Industrie-4.0-Umfeld. Alle Beiträge finden Sie online auf www.industrieanzeiger.de.


Beispielhafte Industrie 4.0-nahe Start-ups

Wandelbots

Eine Sensorjacke ersetzt die manuelle Programmierung von industriellen Robotern durch die Datenerfassung. Die Methode soll bis zu 20mal schneller und zehnmal günstiger sein.

Proglove

In diesem smarten Handschuh sind ein Scanner und Sensoren verbaut, die überflüssige oder falsche Handgriffe erkennen und per Warnton mit dem Arbeiter kommunizieren.

Bigrep

stellt mit überdimensionalen 3D-Druckern beispiels-weise Rotoren für Windturbinen oder Karosserieteile von Bussen her. Zu den Kunden zählen inzwischen Airbus, Deutsche Bahn und BMW.

Relayr 

Retrofitkits ermöglichen die kostengünstige Umsetzung von übergreifenden Industrie 4.0-Konzepten. Zum Beispiel ein schnittstellenfreier digital Workflow inklusive Predictive Maintenance.

Kinexon
Sensoren für Prozessautomatisierung und Qualitätsverbesserung inklusive Hardware und Dienstleistungen wie Wearables, Analyse-Software und cloudbasierte Webdienste.

Robozän

Die weltweit erste Personal- und Zeitarbeitsvermittlung für Roboter.


@

Eine Longlist mit 3000 industrienahen Start-ups kann von VDMA-Mitgliedern bei future@vdma.org angefordert werden.

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