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Die individualisierte Brille

Der 3D-Druck verändert einen Massenmarkt
Die individuelle Brille

3D-Druck | Sie scheinen wie geschaffen dafür, additiv nach Maß gefertigt zu werden: Brillengestelle. Doch das Ziel, individuelle Gesichtszüge und Design in perfekten Einklang zu bringen, ist höchst ambitioniert. Nach Jahren intensiver Entwicklungen beginnen 3D-gedruckte Modelle nun, dem Massenmarkt neue Konturen zu geben.

Olaf Stauß

Die Industrie- und Wengerter-Stadt Fellbach grenzt direkt an Stuttgart in östlicher Richtung an. Auf 500 m Luftlinie gibt es fünf Optikerläden, die um Kunden werben. „Da braucht man schon seine Nische, um sich abzuheben“, sagt Axel Trupke, zusammen mit seiner Frau seit über 20 Jahren selbständig, davon sieben Jahre in Fellbach. Beide haben den Optiker-Meisterbrief. Ihren Stil nennen sie „eyemotion“. Sie suchen das Individuelle im Menschen zu betonen mit „Independant-Marken“, mit Kollektionen, die nicht jeder hat, aber dennoch nicht schrecklich teuer sein müssen.

Trupke bietet zum Beispiel Brillen an, die aus 14 Pappelholz-Schichten gearbeitet sind. Holzbrillen, die in Naturfarben eingelassen sind und andere, die eine Schiefer- oder eine Quarzbeschichtung haben. Gerne präsentiert er den edlen Schließmechanismus. Über die Technik kann er ins Schwärmen kommen. Sie schaut auf das Stilistische. „Mein Herz schlägt schon mehr fürs Extravagante“, bekennt Anke Trupke-Schneider. Im Januar 2017 entdeckte sie auf der Fachmesse Opti in München eine Kollektion des Start-ups You Mawo, die ihr spontan gefallen hat und die sie „gerne verkaufen würde“ – gefertigt im 3D-Druck durch Lasersintern, individuell anpassbar ans Gesicht.

Ihr Mann inspizierte die Brillen und gab grünes Licht: Das Gewicht des Gestells aus einem speziellen Polyamid war minimal, die Belastbarkeit noch höher als bei anderen Brillen. Im Laden führt Trupke es vor: Er biegt die elastischen Bügel eines lasergesinterten Gestells hin und her, als wollte er sie abbrechen. Sie brechen aber nicht und behalten ihre Form. „Die Technik und die Tragbarkeit stimmen. Dass sich durch den Gesichtsscan noch eine individuelle Brille für den Kunden bestellen lässt – das war das i-Tüpfelchen für unsere Entscheidung.“

13 variable Parameter fließen ins Brillenmodell ein

Seither steht im Fellbacher Optikergeschäft „Troop Eyemotion“ ein Bildschirm, der den Kunden erklärt, wie der Prozess funktioniert. Das Video zeigt, wie das Gesicht gescannt und in ein Polygonnetz verwandelt wird. Wie dann das Brillendesign bei You Mawo angepasst wird und wie schließlich die Bauplattform hochfährt und jemand die lasergesinterte Fassung vom Restpulver befreit. 13 Parameter fließen in das digitale Brillenmodell ein – Werte wie Pupillenabstand, Fassungsneigung, Bügellänge und Nasenflanken. „In 90 bis 95 % der Fälle sitzt das Standardgestell sehr gut, dann lassen wir das so“, meint Trupke. „Bügellänge oder Neigung können wir in den anderen Fällen auch selbst bestimmen. Aber wenn jemand eine besondere Nasenflanke hat, dann wird das Scannen sinnvoll.“ You Mawo erhält die Daten zugeschickt und sendet auf Wunsch einen Prototypen zurück, den der Optiker am Kunden testen kann. Sobald die finale Fassung lasergesintert und ausgeliefert ist, passt der Optiker die Gläser ein. Die Trupkes messen bisher manuell, wie üblich, doch demnächst beziehen sie auch eine Scan-Einrichtung der jungen Marke aus Konstanz.

 

Noch keinerlei Reklamation habe es bisher gegeben, betont der Optikermeister. „Wir haben in Fellbach einen Steinmetz, einen riesigen Kerl, der kürzlich seine Parameter-angepasste Brille abgeholt hat. Er war hochzufrieden.“ Weiter erzählt er von einer Kundin, die ein ganz zierliches Gesicht hat und bisher nirgendwo fündig wurde. Sie entschied sich für das kleinste Damen-Gestell der Marke und ist vorgemerkt für den ersten Gesichtsscan. „Diese Individualisierungsmöglichkeiten kenne ich bisher nur von You Mawo.“

Riesiges Interesse in der Optikerbranche

You Mawo ist zur Opti 2016 im Januar in den Markt eingetreten. Das war ziemlich hemdsärmelig. „Wir sind mit gerade mal 20 lasergesinterten Prototypen nach München gefahren“, erzählt Sebastian Zenetti, einer der vier Gründer und heute Geschäftsführer. „Drei Monate später wollten wir lieferfähig sein. Wir hatten keine hohen Erwartungen. Doch das Echo war brutal.“ Schon am zweiten Tag mussten sie bremsen. Sie malten ein Plakat mit der Aufschrift „Sorry, sold out“. „Das war die krasseste Marketingaktion, die es je gegeben hat – obwohl unbeabsichtigt. Die Presse stürzte sich auf uns und wollte wissen, wer diese vier Jungs waren, die nach einem Tag ausverkauft sind.“ Aus Vorsicht starteten sie dann mit nur 50 Kunden (Optikern) – heute sind es schon 450.

So leicht, wie es aussieht, war es aber nicht. Es gingen Jahren schwieriger Entwicklungsarbeit voraus. „Wir sehen uns als Nerds unter den Optikern“, sagt Zenetti, selbst Optikermeister. „Sind wir für etwas begeistert, lassen wir uns von Schwierigkeiten eher anstacheln, sind vielleicht auch ein bisschen größenwahnsinnig. Und dann sind immer wieder die richtigen Leute zu uns gestoßen und haben mit ihrem Können die scheinbar unüberwindlichen Hindernisse beseitigt.“

Die Schwierigkeiten: Es ist nicht einfach, so filigrane Gebilde wie Brillen, die höchst präzise sein müssen, reproduzierbar zu lasersintern. Weiter braucht es einen durchgängigen Datenfluss vom Scannen beim Optiker über das Simulieren bei You Mawo bis in die Lasersinter-Produktion beim Zulieferer hinein. Und die Scanner müssen genau und dennoch bezahlbar sein. Denn kaum ein Brillenoptiker wollte Summen wie 20.000 Euro investieren, nur einer Marke wegen. Dieses Problem lösten die „Nerds“ so: Im US-Markt entdeckten sie einen neuen Infrarot-Scanner für die Innenarchitektur, der auf 0,1 mm genau arbeitete und erschwinglich war. Um ihn für die Nähe zu nutzen, strickten sie eine eigene Software. Die angeschlossenen Optikern können die IR-Hardware heute als aufclipsbaren Aufsatz auf die iPad-Kamera beziehen.

Die Herausforderung: Perfekter Sitz und Ästhetik zugleich

Die größte Herausforderung aber war die Gesichts-Topologie selbst. Menschen sind sehr unterschiedlich. „Du willst als Optiker den anatomisch perfekten Sitz und den ästhetisch perfekten Sitz – und beides ist konträr“, hält Zenetti fest.

Sie schrieben die Aufgabe weltweit aus, aber niemand schaffte die Lösung. „Dann kam wieder der magische Moment und wir trafen jemand, der es doch konnte.“ Es entstanden Algorithmen für ein digitales Brillenmodell, dessen Maße sich individuell an den Träger anpassen. Wobei You Mawo darauf Wert legt, dass nicht alles automatisch geschieht. Entscheidet sich ein Endkunde für ein Design, bei dem die Standardmaße nicht zum Gesicht passen, dann macht der Optiker einen Scan und ergänzt noch subjektive Angaben, beispielsweise Tragegewohnheiten oder persönlichen Stil. Aus diesen Daten errechnet die Simulation „die perfekte Brille“, wobei in Konstanz immer noch ein Optiker darüber geht und bei Bedarf nachjustiert. In kritischen Fällen empfiehlt You Mawo, das Ergebnis mit einem Lasersinter-Protoypen zu testen. Das könnte zum Beispiel sein, wenn jemand Sportverletzungen hat und die Nase schon einmal gebrochen war – so wie bei Sebastian Zenetti selbst.

„You Mawo“ steht für „Your Magic World” – und folgt dem Trend, die Persönlichkeit wirken zu lassen. Schon früh hatten die vier Gründer aber noch ein stärkeres Motiv. Einer von ihnen hat einen Bruder mit Down-Syndrom. Bei ihm weicht die Gesichtsform ebenfalls vom statistischen Mittel ab. „Wir sagten uns: Bekommen wir eine Brille hin, die für seine Verhältnisse gut sitzt, dann haben wir einen echten Mehrwert geschaffen.“

Und das hat funktioniert. 42 Mitarbeiter beschäftigt You Mawo heute. Seit dem Marktauftritt 2016 haben die Newcomer einige Innovationspreise eingeheimst. Noch mehr Freude bereitet es aber, so Zenetti, wenn Endkunden sich in persönlichen Mails bedanken. Die Mutter eines Menschen mit Down-Syndrom habe geschrieben: „Tolle Brille. Die erste, die nicht nach zwei Wochen gleich wieder kaputt ist.“

Der 3D-Druck ist in der Brillenindustrie angekommen. Die Ersten waren die Leute von You Mawo aber nicht, auch nicht mit der Idee zur Mass Customization. Rund zehn Jahre zuvor, etwa 2007, als noch niemand an 3D-gedruckte Brillen dachte, ging ein Anruf bei Stephan Kegelmann ein. Kegelmann ist ein Pionier im 3D-Druck. Er kann von sich sagen, den fünften 3D-Drucker Europas überhaupt erstanden zu haben. Vor 30 Jahren hatte er als Modellbauer das Potenzial der additiven Technik gesehen, stieg ein und gründete die Kegelmann Technik GmbH. Nun stand der Berliner Hersteller von Designerbrillen, Mykita, vor der Tür und wollte die Technologie des selektiven Lasersinterns erschließen. Per Handschlag beschlossen sie eine exklusive Partnerschaft.

2011 kamen die ersten 3D-gedruckten Brillen auf den Massenmarkt

Sie arbeiteten hinter den Kulissen daran, Gestelle aus Polyamid zu lasersintern. „Vier Jahre lang haben wir Brillen gebaut, haben sie geschliffen, oberflächenbehandelt, geätzt, eingefärbt und alles Mögliche getan, bis wir einen robusten Prozess hatten“, sagt Kegelmann. 2011 brachte Mykita die ersten im industriellen Rahmen lasergesinterten Brillen auf den Markt – die Kollektion „Mylon“ mit Anklang an den geläufigen Begriff „Nylon“. Auf Sonnenbrillen folgten sieben Modelle optischer Brillen.

Inzwischen ist die Kollektion um ein Vielfaches gewachsen und umfasst mit der Unterkollektion Mykita Mylon Hybrid auch Modelle, die aus einem Materialmix zwischen Mylon und Edelstahl bestehen. Pro Monat verlassen bis zu 2500 Mylon-Fassungen verschiedener Designs die Lasersinter-Produktion im hessischen Rodgau. In Berlin werden sie in einem von Mykita patentierten Verfahren oberflächenveredelt und in Handarbeit zur Brille fertigkonfektioniert. Der Berliner Brillenhersteller beschäftigt inzwischen knapp über 400 Mitarbeiter weltweit.

Mykita verweist darauf, dass sich Mylon sehr gut individuell anpassen lässt – viel besser als jeder traditionelle Brillenwerkstoff. Das Polyamid wird dazu gleichmäßig erwärmt, damit es sich in Form bringen lässt. Nach dem Biegen über die gewünschte Form hinaus wird die Komponente, zum Beispiel ein Bügel, einige Sekunden gehalten und federt dann nur minimal zurück – die Brille behält ihre neue Form. Doch auch ein Individualisierungskonzept mit Scan hat Mykita entwickelt. Das Technologieprodukt „My Very Own“ erhielt sehr viel positive Rückmeldung, betont das Unternehmen. Auch Stephan Kegelmann trägt ein solches Modell. An den Markt will Mykita damit aber erst gehen, wenn eine Weiterentwicklung in der Prozessstrecke vor dem 3D-Druck stattgefunden hat – man wird von den Berlinern noch hören.

In der Branche sind Veränderungen spürbar. 3D-gedruckte Brillen drücken in großem Stil in den Markt. Die Entwicklung erinnert an die „Demokratisierung der Produktion“, die Visionäre im 3D-Druck kommen sahen. Vor allem junge Designer nutzen die Chance, ihre Ideen mithilfe der additiven Technologie umzusetzen. Doch es gibt auch Befürchtungen, dass die Qualität leiden könnte, gerade bei so anspruchsvollen Produkten wie optischen Brillen. Sebastian Zenetti von You Mawo findet, dass es im Markt „durchaus 20 gute Anbieter geben kann, ja sollte“, die das Konzept überzeugend umsetzen. Als Gefahr sieht er, dass der 3D-Druck ein schlechtes Image bei Optikern bekommen könnte, sollten sie mit unzureichender Qualität konfrontiert werden.

Gläserlieferant Hoya kreiert offene Plattform für alle Marken

Spannend ist hier, dass sich mit Hoya ein weiterer Renommierter auf den Weg gemacht hat. Der Lieferant hochwertiger Gläser launchte mit „Yuniku“ (von „unique“) eine offene digitale Plattform, um Brillen zu personalisieren. Den Schwerpunkt beim 3D-Scannen und Parametrisieren legt die japanische Linsenschmiede darauf, die vom Endkunden gewählten Gläser optisch ideal in der Fassung zu positionieren, die additiv gefertigt wird. Materialise ist Lasersinter-Partner. Die Plattform steht allen Brillenmarken offen. Die italienische Marke Safilo hat sie im Sommer letzten Jahres genutzt, um ihre futuristisch anmutende Kollektion Oxydo 2017 in den Markt zu stellen. Yuniku ist wieder eine neue Idee, den 3D-Druck in die Welt der Brillen zu tragen. Man darf gespannt sein, wie sie sich verändert.

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