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Fertigung: Digitalisieren in der spanenden Bearbeitung

Fertigungstechnik
Digitalisieren in der spanenden Bearbeitung

75 % der industriellen Metallbearbeitung in Deutschland erfolgt spanend oder abtragend. Die Digitalisierung ist auch hier auf dem Vormarsch – in Form schlanker Produktionsprozesse, Predictive Maintenance, neuer Geschäftsmodelle und begleitender Services. ❧

Michael Grupp

Bei der spanabhebenden Bearbeitung wird nicht nur am Werkstück Material entfernt, auch das Werkzeug verändert sich und verliert an Bearbeitungseffizienz. Klassische Fertigungskonzepte setzen auf fest definierte Standzeiten bis zum Austausch oder Nachschliff. Diese berücksichtigen allerdings nicht besondere Belastungen oder andere Einflüsse, denen das Werkzeug ausgesetzt ist: zum Beispiel die jeweils spezifische Schneidtätigkeit oder das Material der Werkstücke. Zwar lassen sich auf Basis von Erfahrungswerten charakteristische Werkzeugparameter festlegen und Standzeiten prognostizieren, aber bereits die jeweilige Maschineneinstellung führt zu nicht vorhersagbaren Beeinflussungen. Weitere Abweichungen können durch das thermische Verhalten oder über die Werkzeugabnutzung entstehen. In Folge schwanken die tatsächlichen Standzeit um circa 25 %. Um Stillstände und Werkstückschäden vorzubeugen, müssen Werkzeuge tendenziell zu früh gewechselt werden. Material- und Wartungskosten können damit insgesamt um bis zu 50 % steigen.

Kennzeichen von Industrie 4.0-Konzepten ist die virtuelle Identität von Produkten, Maschinen, Fahrzeugen, Fertigungsanlagen oder Sensoren im Internet. Der digitale Zwilling und sein reales Pendant verschmelzen zu einem cyberphysischen System (CPS). Beide können Informationen und Erfahrungen austauschen, Vorgänge auslösen und sich an spezifische Aufgaben und veränderte Parameter anpassen – vor allem aber erlaubt das CPS genaue Prognosen über Status und Zukunft von Werkzeug und Werkstück. In der Folge avancierte Predictive Maintenance zum führenden Einsatzgebiet von Industrie 4.0 gerade auch in der spanenden Industrie.

Vorausschauende Wartung als Vorreiter

Solche Ansätze haben in der Produktionstechnik zu nachweisbaren Kostensenkungen geführt. Erstens weil der Servicetechniker nicht wegen jeder Störung ausrücken muss, zweitens weil auf diese Weise störungsbedingte Stillstandszeiten minimiert werden können. Mit Predictive Maintenance folgt die Wartung nicht festgelegten Zyklen, sondern findet idealerweise erst kurz vor dem realen Funktionsverlust eines Bauteils statt. Das führt zu weiteren Ressourceneinsparungen, weil die optimal mögliche Standzeit von Teilen tatsächlich ausgenutzt wird und dabei gleichzeitig unvorhergesehene Ausfälle vermieden werden. Gerade in der Zerspanung mit langen Zykluszeiten ist die Ausfallsicherheit ein wichtiger Kostenfaktor.

Dazu muss das cyberphysische System jederzeit über den eigenen Status Bescheid wissen. Das erfordert den Einsatz zahlreicher und vielfältiger Sensoren. Die eigentliche Herausforderung liegt allerdings weder in der Sensorik, noch in der durch sie produzierten Datenmenge. Entscheidend für den Erfolg des Systems ist die Intelligenz der Auswertung, sprich die Interpretation der Daten. In der Zerspanung geht es zum Beispiel um die Identifikation von Fertigungsaufgaben, um die Vermeidung von Betriebszuständen mit Schwingungen oder um die Kühlschmiermittelpflege.

Besonderes Augenmerk legen Industrie 4.0-Ansätze dabei auf die Restlebensdauer der Werkzeuge. Dazu kommen erfahrungsbasierende Lebensdauermodelle zum Einsatz. Die dafür eingesetzte Datenbasis wird häufig in Zusammenarbeit zwischen Maschinenhersteller und Maschinenbetreiber definiert. Dabei kommt der Steuerung eine entscheidende Funktion zu. Sie liefert die aussagestärksten Informationen über das Verhalten aller Achsen sowie der eingebundenen Sensoren und Komponenten. Sie kennt die Betriebszustände der Maschine und liefert den Kontext zu den aktuellen Daten: ob die Maschine beispielsweise im Leerlauf steht oder unter voller Last fräst.

Wirtschaftlicher Werkzeugwechsel

Mit einer belastbaren Datenbasis und genauen Steuerungsinformationen können der optimale Austauschzeitpunkt oder der Wechsel auf Schwesterwerkzeuge vorhergesagt werden. Auch lässt sich zuverlässig bestimmen, ob ein Auftrag noch erfolgreich mit dem alten Werkzeug abgearbeitet werden kann. Der Werkzeugbereich bietet weitere Industrie 4.0-Einsatzmöglichkeiten: Im Rahmen einer umfassenden Datenintegration und mit Einsatz von entsprechenden Planungstools kann die jeweilige Maschine für die anliegenden Aufgaben selbstständig den Werkzeugbestand optimieren. Das kann die Anzahl der auf der Maschine befindlichen beziehungsweise aller im Umlauf befindlichen Werkzeuge massiv reduzieren.

Neben dem eigentlichen Werkzeug sind auch die Spindel sowie die Spannvorrichtungen als Datenlieferant geeignet. Hier können in Echtzeit vielfältige Prozessdaten wie Kräfte, Schwingungen, Körperschall oder Kühlschmiermittelanalysen erfasst und kontinuierlich mit dem CAM-System beziehungsweise der Maschinensteuerung auf Abweichungen untersucht werden. Auch diese Daten können zusammen mit anderen Informationen aus der Maschine zur Prozess- und Werkzeugdiagnose eingesetzt werden. Das allerdings erfordert die Datenintegration von Spannvorrichtung, Spindel, Werkzeug und Maschine.

Vertikale Datenintegration im Betrieb

Oberhalb der Maschinenebene ermöglicht eine Industrie 4.0-Architektur, dass ein Produkt seine eigene Fertigstellung steuert. Dabei kommuniziert das CPS-Werkstück mit dem übergeordneten ERP-System. Dabei kann es die nächste geeignete Maschine auswählen und gleichzeitig die Produkteigenschaften, Bauabweichungen und den Bauzustand aus den vorgelagerten Prozessen kommunizieren. Damit kann das Bearbeitungszentrum beispielsweise die Schnittparameter auf veränderte Materialeigenschaften umstellen oder den Abnutzungsgrad und damit die reale Schneidleistung des Werkzeugs berücksichtigen. Unter dem Strich lässt sich so die Zerspanungsleistung dichter an die machbare Grenze führen, was die Produktivität erhöht. Industrie 4.0-Konzepte setzen allerdings schon weit vor der eigentlichen Maschinenebene ein. Sie basieren auf der engen Verknüpfung zwischen Unternehmen, Geschäftsmodell und Technologie. Der digitale Zwilling beeinflusst im Endausbau von Industrie 4.0 maßgeblich die Auftragsvergabe, Maschinenauswahl und -vorbereitung, die Festlegung und Bestellung von Material und Halbzeugen, die Prozessplanung und nicht zuletzt die Bestellung von Spannmitteln und Werkzeugen.

Horizontale Integration im Markt

Solche Ansätze können über die Unternehmensgrenzen hinausreichen. Sie ermöglichen es, über digitale Portale freie Maschinenkapazitäten anzubieten oder Aufträge zu platzieren. Solche Marktplätze werden die Beziehungen zwischen der metallbearbeitenden Industrie und ihren Kunden grundlegend verändern. Allerdings wächst mit der zunehmenden Vernetzung auch die Transparenz zwischen den Marktpartnern. Ein Trend, der gerade mittelständischen Unternehmen nicht immer gefällt.

Auch die Betreiber- und Finanzierungs-Modelle werden sich wandeln. In manchen Branchen wie zum Beispiel in der Luft- und Raumfahrtindustrie ist es heute bereits üblich, dass Bearbeitungsmaschinen gegen eine vergleichsweise geringe Grundgebühr geliefert werden. Der Maschinenbetreiber bezahlt in Folge zusätzlich die tatsächlich anfallenden Fertigungsstunden. Solche Modelle erfordern aber auf beiden Seiten genügend Erfahrungen beziehungsweise Betriebsdaten, mit denen zuverlässig das Verfügbarkeitsrisiko berechnet werden kann.

Welche Geschäftsmodelle, Programme und Tools auch zum Einsatz kommen: Für den Erfolg einer zukunftsorientierten Digitalisierung ist wichtig, die Datenmodelle ständig zu aktualisieren und zu verbessern. Dies erfolgt über Fleetlearning. Dabei werden die Daten und Parameter verschiedener im Feld befindlicher Maschinen ausgewertet. Die Zusammenfassung und Konzentration aller Daten beschleunigen Lernvorgänge deutlich. Das macht die Frage nach der Verknüpfung und Analyse von Datenreihen und -modellen zu einem der wichtigsten Forschungsfelder von Industrie 4.0.

Forschung und Entwicklung

So arbeitet beispielsweise das Fraunhofer-Institut für Mikroelektronische Schaltungen und Systeme IMS in Duisburg daran, die Produktivität, Qualität, Durchlaufzeit und den Bestand von Bohrern oder Fräsern bei Betrieben mit spanender Bearbeitung im Industrie 4.0-Umfeld zu optimieren. Im Rahmen des Projektes „Cute Machining“ wollen die Forscher die maximal mögliche Standzeit jedes einzelnen Werkzeugs nutzen und damit Wartungszeiten und -kosten minimieren. Dazu legt das Projektteam eine individuelle „Lebenszyklusakte“ für jedes Werkzeug an. Die Daten stammen automatisiert direkt vom Werkzeug. Dafür nutzt das Fraunhofer-Institut RFID-Technologie. Die dabei eingesetzten Transponder arbeiten im Frequenzbereich von 5,8 GHz und können auch in komplexen metallischen Umgebungen störungsfrei aus bis zu 1 m Entfernung ausgelesen werden. Da der RFID-Transponder nur eine Fläche von weniger als 5 mm² beansprucht, kann er leicht auf die Oberfläche von Werkzeugen platziert werden. Der Vorteil der automatisierten Übertragung gegenüber dem manuellen Auslesen besteht darin, dass hierfür nicht der Betrieb unterbrochen werden muss und auch Werkzeuge an unzugänglichen Orten erfasst werden können. Das senkt nicht nur die Wartungskosten: „Ein großer Aspekt der Industrie 4.0 ist das Erfassen von Daten, um einen möglichst transparenten Produktionsprozess zu erreichen. Unsere Lösung weist genau in diese Richtung“, bestätigt auch
Dr. Gerd vom Bögel, Leiter des Geschäftsfelds Wireless & Transponder Systems beim Fraunhofer-Institut IMS. „Zwar geht es im ersten Schritt um die Identifikation des Werkzeugs, im weiteren Projektverlauf können die Sensoren dazu dienen, nicht nur werkzeugbezogene Daten zu liefern, sondern auch Informationen über die Umgebung des Werkzeugs zu erfassen. Dadurch wird es möglich, den Prozess in Echtzeit zu überwachen, ihn transparenter zu gestalten und weiter zu optimieren.“

Multifunktionale Sensoren

Von diesem technologischen Ansatz profitiert nicht nur die spanende Industrie, der Einsatz dieser Technologie ist auch in anderen Bereichen möglich. Prinzipiell können alle Assets der untersten physikalischen Ebene wie Werkzeuge, Werkstücke, Maschinen oder Fahrzeuge mit solchen RFID-Tags ausgestattet werden. Im Projektkonsortium arbeiten neben dem Fraunhofer IMS auch die Technologieunternehmen Cimsource und Prometec Gesellschaft für Produktions-, Mess- und Automatisierungstechnik, der RFID-Spezialist ID4US, das Heinz Nixdorf Institut der Universität Paderborn sowie der Anwendungspartner Sandvik Coromant Deutschland.

Mehrstufige Strategie

Während sich das Projekt „Cute Machining“ auf die Sensorebene konzentriert, haben die meisten Anbieter von Werkzeugmaschinen mehrstufige Angebote für die Einführung digitaler Prozesse entwickelt. Ein Beispiel dafür ist Trumpf. Die Digitalisierungsstrategie der Schwaben basiert auf drei Säulen: erstens auf der digitalen Vernetzung innerhalb des eigenen Unternehmens. Dabei werden die Daten nicht nur im Produktionsumfeld ausgewertet, sondern fachbereichsübergreifend genutzt. So werden auch die Abteilungen Entwicklung, Sales und After Sales eingebunden. Damit soll der gesamte Order-to-Cash-Prozess optimiert werden.

Die zweite Säule wird von der Axoom GmbH in Karlsruhe realisiert. Diese Trumpf-Tochter bietet eine ganzheitliche Lösung für die horizontale und vertikale Vernetzung der Prozesse in produzierenden Unternehmen. Die Komplexität der Aufgabe wird durch die Vielzahl der Angebots-Module dieser Geschäftsplattform deutlich. Axoom optimiert die Informationsströme zwischen Maschinenherstellern und produzierendem Gewerbe in vier relevanten Bereichen: Das Connection Center unterstützt erstens Maschinenhersteller dabei, Geräte im Feld anzubinden und zu verwalten. Condition Monitoring überwacht gleichzeitig die Produktionsprozesse beim Endkunden und macht sie transparenter und vorhersehbarer. Remote Services sorgen aus der Ferne durch proaktive Software- und Maschinen-Updates für einen geringeren Instandhaltungsaufwand. Und viertens hilft Data Analytics bei der Auswertung aller erhobenen Daten. Damit können die Leistungen aller eingebundenen Anlagen unter realen Produktionsbedingungen analysiert und die gewonnenen Ergebnisse zur Produktoptimierung genutzt werden.

Der dritte Lösungsansatz besteht aus „TruConnect“. Darunter versteht Trumpf die individuelle Einführung von Industrie 4.0-Prozessen und -Produkten auf Basis verschiedener Beratungsangebote – beispielsweise die automatisierte Angebotserstellung, eine effiziente Arbeitsvorbereitung, vernetzte Produktion, eine optimierte Intralogistik inklusive Versand und Auftragsabschluss.

Dreifache Innovation aus Nürtingen

Einen ähnlichen Weg geht der Anbieter Heller mit seinen Maschinen und Services rund um die spanende Metallbearbeitung. Heller konzentriert sich dabei auf eine höhere Maschinenproduktivität plus die Unterstützung durchgängiger Engineering-Ketten. Kernaspekte sind ergänzende Maschinenfunktionalitäten, Dienstleistungen „on demand“ und erweiterte Servicemöglichkeiten. Auch die Nürtinger bieten dazu ein dreigeteiltes Portfolio: Heller4Operation unterstützt eine bedienerorientierte Benutzeroberfläche der Maschinen. Dazu kommen Touch-Bedienungen im Bereich des Werkzeug-/Werkstück-Rüstplatzes zum Einsatz. Sie ermöglichen eine schnelle und robuste Bedienung.

Die digitalen Dienstleistungen sind im zweiten Bereich Heller4Services zusammengefasst. Das dazugehörende Interface optimiert die Transparenz in Fertigungs- und Instandhaltungsprozessen. Das Modul bildet die Basis für Auswertungen und Statistiken und soll so Maschinenausfallzeiten minimieren. Darüber hinaus können gezielt Informationen wie der Zustand von Achsen, Spindeln oder weiteren Baugruppen ermittelt und angezeigt werden. Sie sind die Ausgangsbasis für präventive Maßnahmen zur Vermeidung ungeplanter Stillstände.

Der dritte Bereich Heller4Performance umfasst schließlich die Maschinenanalyse für eine Prozess- und Performance-Optimierung, eine zeitsynchrone Auskopplung von Echtzeitdaten ins Internet sowie die Auswertung und Darstellung über eine externe Cloud-Plattform.


Serie Industrie 4.0

Wir begleiten Sie auf dem Weg zur Digitalisierung: In dieser Ausgabe beleuchten wir das Thema „Spanende Fertigung im Industrie 4.0-Umfeld“. Wenn Sie tiefer in die Materie einsteigen möchten, finden Sie in unserer Schwesterzeitschrift „Elektro Automation“ ergänzende Informationen.


Prozesswissen bleibt Wettbewerbsfaktor

Um Fertigungsprozesse effizient und erfolgreich zu gestalten, reicht es nicht, jede Menge Daten zu sammeln. Entscheidend bleibt das Know-how, die wichtigen Informationen herauszufiltern und diese richtig zu bewerten. Wer dazu in der Lage ist, der kann neue Geschäftsmodelle zielsicher entwickeln und schnell umsetzen. Die richtige Geschäftsidee vorausgesetzt, ist ihr Expertenwissen auch künftig eine große Chance für deutsche Produktionstechniker.

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