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Leichtbau bionisch – aber mit System

Tiefsee-Institut AWI bietet Industrie die Leichtbau-Methode ELiSE an
Leichtbau bionisch – aber mit System

Bionik | Wenn die Natur im Leichtbau hilft, dann mit System: Das Alfred-Wegener-Institut recherchiert bei Kieselalgen und Airbus lässt sich von Riesenseerosen zu „gedrucktem Blech“ inspirieren. §

Autor: Olaf Stauß

Gewichtsreduktionen von über 50 % stellt das Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Aussicht, wenn das Verfahren „Evolutionary Light Structure Engineering“ zum Einsatz kommt. „ELiSE“ ist ein bionischer Produktentstehungsprozess, der an dem Meeres- und Polarforschungsinstitut in Bremerhaven entwickelt wurde. Er mündet zunehmend in Industrieprojekte. Firmen wie Miele, Diehl und Faurecia gehören zu den Partnern. Aber auch Mittelständler, wie die Website www.elise.de mit ihrer Referenzliste zeigt.

Die ELiSE-Methode basiert auf den außergewöhnlichen Leichtbau-Eigenschaften von Kieselalgen. Diese Plankton-Organismen mit glasartigen Schalen (SiO2) halten Lasten von 800 t/m² stand – so viel, als müssten Kanaldeckel das Gewicht von 150 Mittelklassewagen stemmen. Durch ihre leichten und stabilen Strukturen konnten sich die zwischen 2 und 1000 µm kleinen Tierchen gegen ihre Feinde in den obereren Meeresschichten behaupten – eine Errungenschaft der Evolution.
Vor allem die Kanten- und Flächenversteifungen der Schalen lassen sich gut auf technische Anwendungen übertragen. Das AWI hat 90 000 solcher Strukturen in seiner Datenbank gesammelt. Beflügelt durch das Interesse der Industrie sind die Forscher dabei, die Daten nach technischen Gesichtspunkten zu kategorisieren und die ELiSE-Methode immer weiter zu automatisieren. „Noch müssen wir viel Gehirnschmalz reinstecken“, sagt Robert Naguschewski vom AWI, „aber das verbessert sich mit jedem Projekt, weil die Ergebnisse wieder in unsere Algorithmen einfließen.“
Da viele Industrieprojekte unter Geheimhaltungspflicht stehen – darunter eine B-Säule, ein Yacht-Rumpf und ein Auslösemechanismus für Feuermeldeanlagen – entwickelten die Bremerhavener eine eigene Referenzanwendung: das Bionic Bike. Seit es im April auf der Hannover Messe vorgestellt wurde, ist es das Vorzeigebeispiel für ELiSE. Das Faltrad, dessen Alu-Rahmen die Citim GmbH durch Lasersintern fertigte, demonstriert die bionischen Entwicklungsmethoden für den Leichtbau, kombiniert mit den Vorteilen des 3D-Drucks. Der bionische Rahmen wiegt nur 2,1 kg gegenüber 4 bis 5 kg bei konventionellen Falträdern.
In hochbelasteten Zonen wie dem Tretlager wird das Bionic Bike zum Beispiel mit belastungsgerechten Gitterstrukturen versteift. Hohlstrukturen wurden punktuell an lokale Lasten mit optimierten Querschnitten und Dicken angepasst. Dafür gibt es eigens entwickelte Algorithmen. Die additive Herstellung ermöglicht zudem die Funktionsintegration, zum Beispiel bei LED-Beleuchtung und Kabelführung. Ergebnis: eine Gewichtseinsparung von insgesamt 60 %.
Die Geometrieauslegung für eine Herstellung im 3D-Druck ergänzt das bisherige ELiSE-Angebot. Die additive Fertigung könnte eine Option sein, wenn bionische Produkte nur in geringen Stückzahlen benötigt werden, oder eben eine Zwischenstufe, an die sich ein Suchen nach konventionellen Fertigungsmethoden anschließt. Damit ist das Angebotspaket rund. Mit diesem Dienstleistungsportfolio bereitet das AWI derzeit die Ausgründung der ELiSE GmbH als Spin-off vor.
Wie läuft ein ELiSE-Projekt ab? In fünf Phasen. Es beginnt mit der Bauteilanalyse, in der die Randbedingungen spezifiziert und ein Lastenheft definiert werden. In der anschließenden Screening-Phase suchen die Bioniker nach passenden biologischen Strukturen in der AWI-Datenbank.
Es folgt die Abstrahierung: aus den gefundenen Vorbildstrukturen werden technische Bauteilentwürfe. Das Ergebnis sind parametrische CAD-Entwürfe. In diese dritte Phase von ELiSE investieren die Forscher derzeit noch viel grundlegende Arbeit, um sie künftig weitgehend computergestützt durchführen zu können.
In der vierten Phase erfolgt die Optimierung. Sie findet mit klassischen wie auch mit Methoden statt, die „bei der Evolution abgeguckt“ sind, so Naguschewski. „Wir betrachten die Entwürfe als Genpool und simulieren alle naheliegenden Varianten durch. Die besten dürfen sich fortpflanzen: sie werden miteinander gekreuzt“ – und so zu einem Optimum verbunden. Auf Basis dieses Ergebnisses entsteht dann, Phase 5, die endgültige Konstruktion des Produkts.
Bionisches Blech: Inspiration durch Seerosen
Auch Airbus als Anwender setzt ganz stark auf Bionik in Verbindung mit 3D-Druck. Der Flugzeugbauer hat ein „Bionics Netwerk“ gegründet, in dem sich 3D-Druck-Experten des Konzerns mit Wissenschaftlern aus den universitären Bereichen der Bionik austauschen. Als Novum präsentierte Airbus auf der Hannover Messe ein Muster für „3D-gedrucktes Blech“.
Gedrucktes Metallblech, wozu das? Airbus-Strukturdesigner Dirk Elbracht nannte es auf der Messe eine Option für Steuerungselemente wie Klappen und Spoiler. Sie ließen sich additiv günstiger und mit weniger Gewicht produzieren als aus GFK oder CFK. Vor allem aber gestalte sich die Krafteinleitung „viel einfacher“. Denn um die Kräfte einzuleiten, müssten bei Composites eigens Fittings einlaminiert werden.
Bionisches Vorbild ist die Riesenseerose. Sie ist bekannt dafür, dass sie schwere Lasten trägt. Sie hält auch das Gewicht eines Kleinkindes, ohne unterzugehen. „Wir haben die Seerose abfotografiert, ihre Struktur abstrahiert und iterativ gelernt, was sie so stark macht“, erklärt Elbracht – Thema eines laufenden Forschungsprojekts.
Im Airbus-Magazin „Forum“ vom März 2015 erläutert Peter Sander, zuständig für Emerging Technologies and Concepts: „Wir fanden eine Art Wabenstruktur, ähnlich wie bei Flugzeugkomponenten. Die neue Struktur war aber unregelmäßiger und die größeren Lücken bedeuteten, dass uns das richtige Material ein leichteres Konstrukt verschaffen würde.“ Erste Prototypen-Strukturen sind bereits gedruckt, auch aus Metall. •
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