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Sechs Schritte zur Metall-Substitution

Kunststoffe: Wirtschaftliche Alternative zu Metall
Sechs Schritte zur Metall-Substitution

Eine Vielzahl von Gründen spricht dafür, Metall durch Kunststoff zu ersetzen. Gesenkte Systemkosten stehen an erster Stelle. Doch wie vorgehen, um einen möglichst positiven Substitutionseffekt zu erzielen? Hier ein praktikabler Leitfaden zum Metallersatz.

Der Kunststoffhersteller Sabic Innovative Plastics mit Sitz im niederländischen Bergen op Zoom sieht vier Innovationstreiber für seine Materialien: Den Trend zu „grünen“ Werkstoffen, die schadstofffrei sind und sich weiter- oder wiederverwerten lassen, oder die auf nachwachsenden Rohstoffen basieren. Weiterhin Normen und Gesetze, die höhere Sicherheits- und Umweltstandards fordern, drittens höhere Funktionalitäten und besseres Design zur Produktdifferenzierung und schließlich minimierte Systemkosten.

Vermeintlich teurere technische Kunststoffe können die Kosten für den gesamten Produktherstellungsprozess deutlich senken, wenn ihr Einsatz auf ganzheitlichen Analysen basiert – beispielsweise durch Gewichts- und Materialeinsparung, durch Teile-Integration, Dünnwanddesign oder durch den Wegfall von teuren Nachbearbeitungs- und Montageschritten. Alles Effekte, die Kunststoffe möglich machen, wenn ihr Einsatz auf einer sorgfältigen Analyse basiert. Kunststoffspritzguss kann zum Beispiel Druckguss- oder komplexe Blechkonstruktionen ersetzen. Dabei profitiert der Anwender von deutlich längeren Werkzeugstandzeiten und vom Wegfall von aufwändigen Nachbearbeitungsschritten.
Erfolgreiche Projekte zeigen, dass der Hauptgrund für den Metallersatz fast immer in eingesparten Systemkosten durch Produktivitätsgewinn oder Gewichtsreduktion (Preis pro Volumen) liegt. Besonders hohe Einsparpotenziale bieten bis zu 2 kg schwere Bauteile mit einer jährlichen Stückzahl von über 150 000 und aufwendigen Montage- und Nachbearbeitungsschritten. Werden diese Systeme modular in Kunststoff aufgebaut und durch Integration von Funktionen und Teilen vereinfacht, entfallen zeitaufwendige Fertigungsschritte wie Schrauben oder Schweißen. Doch auch das Verbessern von Produkteigenschaften wie Schlagzähigkeit oder Korrosionsstabilität ist ein wichtiger Grund, um Kunststoff zu verwenden. Die erhöhte Designfreiheit mit Kunststoff nutzen die Entwickler zur Produktdifferenzierung. Und mit reduziertem Gewicht lässt sich der Treibstoffverbrauch von Automobilen und Luftfahrzeugen senken. Bei der Spritzgießfertigung entfällt zudem die spanabhebende Nachbearbeitung im Vergleich zu Druckguss – und das bei verlängerter Werkzeuglebensdauer. Und eingefärbte oder leitfähige Granulate können die spätere Lackierung überflüssig machen.
Sollen Metallersatz-Projekte erfolgreich sein, müssen allerdings Regeln beachtet werden:
  • Ein 1:1-Materialaustausch ohne Teileintegration und Einsparen von Montageschritten ist selten sinnvoll. Die kunststoffspezifischen Vorteile kommen dann nicht voll zur Geltung. Allenfalls bei Druckgussteilen ist ein solches Vorgehen denkbar, wenn das Design dazu leicht angepasst wird (Wandstärken unter 3 mm, Radien anbringen, auf Massenanhäufung verzichten).
  • Metallbauteile sind häufig überdimensioniert. Ein Umsetzen in Kunststoff erfordert daher die genaue Kenntnis der tatsächlichen mechanischen Kurz- und Langzeitbelastung am Bauteil über die gesamte Lebensdauer hinweg. Zum Ziel gelangt man durch Kombinieren von steifen Werkstoffen mit zusätzlichen Verrippungen und mit einem kunststoffgerechten Design.
  • Kunststoffe sind Isolatoren im Gegensatz zu Metallen. Sie lassen sich aber mit Füllstoffen innerhalb gewisser Grenzen thermisch und elektrisch leitfähig sowie abschirmend modifizieren.
  • Die thermische Ausdehnung, Wasseraufnahme und Schwindung von technischen Thermoplasten ist größer als bei Metallen. Dies ist im Produktdesign zu beachten, insbesondere dann, wenn Metall- und Kunststoffbauteile kombiniert werden sollen.
Metallersatz-Projekte sollten im Produktentwicklungsprozess folgende Phasen durchlaufen:
Kundenbedürfnisse definieren: Am Anfang steht die Formulierung der primären Ziele. Dabei helfen kann eine Markttrendanalyse, der Vergleich zum Mitbewerb (Benchmarking) und die schrittweise Demontage (Tear Down) eines existerenden Produkts. Dabei ist es wichtig, dass ein interdisziplinäres Team aus Entwicklern, Werkstoff- und Produktionsspezialisten auch außerhalb der Metallverarbeitung die Funktion, derzeitige Konstruktion, Herstellung, Montage und Nachbearbeitung der diversen Einzelteile analysiert und im Hinblick auf mögliche Einsparungspotentiale bewertet.
Produktkonzept erstellen: Über ein „Brain Storming“ lassen sich Ideen für ein neues Produktkonzept der im Tear Down ermittelten Komponenten sammeln. Dazu gehören Design-Alternativen, Metallersatz, Teileintegration und Funktionskombination sowie verringerte Nacharbeit und Montagevereinfachung. Die gesammelten Anregungen werden anschließend unter Berücksichtigung der Machbarkeit und der Höhe des Einsparungspotenzials gewichtet. Nachdem die Entscheidung für die genauere Betrachtung bestimmter Bauteile gefallen ist, ist nun auch der Zeitpunkt der Kunststoffaufwahl gekommen.
Im Falle von Metallersatz werden aufgrund der Festigkeitsanforderungen in der Regel glas- oder kohlefasergefüllte, technische Thermoplaste betrachtet, was die Zahl der infrage kommenden Möglichkeiten bereits stark einschränkt (amorph/teilkristallin, ungefüllt/gefüllt, Polymer/Copolymer/Blend, flammgeschützt/nicht flammgeschützt…). Darüber hinaus können lubrifizierte Compounds den Abrieb gegenüber anderen Komponenten minimieren. Eine Modifikation mit Stahlfasern kann die Abschirmung gegenüber elektromagnetischer Strahlung (EMI Shielding) verbessern. Und Langglas- oder Kohlefasern können bei fachgerechter Verarbeitung die Materialsteifigkeit und -festigkeit im Vergleich zur Standardfaser noch weiter erhöhen, so dass selbst für Bauteile mit besonders hoher mechanischer Langzeitbelastung eine alternative Kunststofflösung interessant wird.
Damit nicht doch wichtige Materialanforderungen übersehen werden, empfiehlt es sich, die Ermittlung anhand einer Checkliste systematisch vorzunehmen und bei der anschließenden Materialselektion zu berücksichtigen (Eine dafür erstellte Checkliste steht zum Download bereit*). In der Praxis zeigt sich, dass die frühzeitige Auswahl des Materials einen positiven Einfluss auf die Systemkosten hat, weil dann Produktdesign, Werkzeugkonstruktion, Produktions- und Nachbearbeitungsverfahren optimal auf den Werkstoff abgestimmt werden können. Das wird oft unterschätzt.
Konstruktion & Design: Bieten sich ein oder mehrere Materialien für das Designkonzept der Komponente an, kann über CAD ein Modell des Bauteils erstellt werden. Über CAE lässt sich die Werkzeugkonstruktion kunststoffgerecht so ausarbeiten, dass der Materialfluss ins Werkzeug möglichst scherungsarm erfolgt. Für ein kunststoffgerechtes Design sorgen das geschickte Dimensionieren des Angusses, das Einbringen von Radien statt scharfer Kanten, das Vermeiden von Wanddicken-Sprüngen und Masse-Anhäufungen (zum Minimieren von Einfallstellen und Verzug) sowie der Einsatz von Schnappverbindungen, Klipsen oder per Ultraschall eingebrachten Inserts statt Schrauben. Diese Maßnahmen helfen, Prozessschwankungen bei der späteren Verarbeitung zu vermeiden und Spannungen im Bauteil zu minimieren.
Optimieren durch Simulation: Mit den CAD-Daten lassen sich über die Finite-Element-Analyse (FEA) mechanische und thermische Belastungen im Bauteil simulieren und damit die in Frage kommenden Thermoplaste bewerten. Bedingung ist, dass dafür geeignete Materialdatensätze zur Viskosität, thermischen Stabilität und Festigkeit (Stress/Strain Curve) zur Verfügung stehen. Darüber hinaus können das Füllverhalten simuliert und Aussagen getroffen werden über Füllzeit, Einspritzdruck, den zu erwartenden Temperaturanstieg der Schmelze, die benötigte Werkzeugschließkraft sowie die zu erwartende Schwindung und den Verzug in X-, Y-, Z-Richtung. Zuvor müssen allerdings Annahmen getroffen werden für materialspezifische Verarbeitungsparameter wie Werkzeug- und Schmelzetemperatur, Einspritzdauer und -geschwindigkeit sowie Nachdruck. Mit Hilfe des simulierten Füllverhaltens lassen sich verschiedene Anguss- und Wandstärkengeometrien auf ihre Eignung überprüfen. Außerdem können die Fließwege und die Lage von Bindenähten und Lufteinschlüssen (an Orten der Werkzeugbelüftung) abgeschätzt und optimiert werden.
Bauteile testen: An Prüfkörpern ermittelte Materialdaten, die bei der Auswahl der Kunststoffe zu Rate gezogen wurden, dienen immer nur einer ersten Abschätzung und können keine Tests an den Bauteilen ersetzen. Deren mechanisches Verhalten und ihre ästhetische Erscheinung sollten daher geprüft werden, um die Eignung der gewählten Kunststoffe zu bestätigen – real (Zeitbedarf!) oder beschleunigt unter Umwelteinfüssen wie UV, Temperatur, Feuchtigkeit oder Chemikalien.
Industrialisierung: Füllstudien helfen, die Prozessparameter unter Beachtung des vom Hersteller vorgegebenen Vortrocknungs- und Verarbeitungsfensters weiter zu optimieren. Geringe Materialverweilzeiten in der Schnecke, moderate Einspritzgeschwindigkeiten und niedrige Drücke verringern die Materialdegradation und tragen dazu bei, die Bauteil-Lebensdauer zu verlängern. Daneben führt ein vorteilhaftes Füll- und Entformungsverhalten auch zu kürzeren Zykluszeiten und damit zu einer erhöhten Produktivität.
Letztlich zeigt sich nach dem Anlaufen der Fertigung am Endprodukt, ob alle Ziele erreicht und das Einsparpotenzial ausgeschöpft worden ist. Um Ausschuss und Reklamationen auf niedrigem Niveau zu halten, empfiehlt sich eine sorgfältige Dokumentation und regelmäßige Qualitätskontrolle. Nur so lässt sich die Kostenreduktion dauerhaft absichern.
Dr. Martina Lemmrich Leiterin Anwendungsentwicklung bei Sabic Innovative Plastics

Kosteneffizienz
Gesenkte Systemkosten sind der wichtigste Grund, Metall- durch clevere Spritzgießkonstruktionen zu ersetzen. Clever müssen sie schon sein, sonst kommen die kunststoffspezifischen Vorteile nicht zur Geltung wie zum Beispiel Reduktion von Teilezahl, Arbeitsschritten oder Gewicht. Oft finden sich große Vorteile erst in der Betrachtung der Gesamtkonstruktion oder Prozesskette, etwa weil weniger Gewicht den Montageaufwand senkt oder weil Korrosion ausgeschlossen wird.
Industrieanzeiger
Titelbild Industrieanzeiger 6
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