Startseite » Technik » Entwicklung »

Stahl zehrt sich für die Sicherheit auf

Werkstofftechnik: Superdehnbare Twip-Stähle treiben den Leichtbau voran
Stahl zehrt sich für die Sicherheit auf

Eine neue Stahlsorte steht vor dem kommerziellen Einsatz: Gut umformbare Twip-Stähle, die sich beim Crash verfestigen und so die Sicherheit erhöhen. Die Salzgitter AG wird sie ab 2010 unter dem Signum „High Strength and Ductility“ produzieren.

Bei der Beschreibung der neuen Twip-Stähle stechen sich die Attribute gegenseitig aus: hochfest, superduktil, mit hervorragenden Leichtbaueigenschaften durch hohe Anteile an Mangan, Aluminium und Silizium.

Da kommt sogar Prof. Georg Frommeyer ins Schwärmen. „Eine solche Dehnbarkeit erreicht nicht einmal Gold, das als ausgesprochen duktil gilt. Bei 60 Prozent ist dort Schluss“, sagt der Leiter der Abteilung Werkstofftechnik des Max-Planck-Institut für Eisenforschung (MPIE) in Düsseldorf. „Doch unseren Twip-Stahl können wir um 90 Prozent in die Länge ziehen, ehe er reißt.“ Frommeyer ist „Erfinder“ der hochfesten Twip-Stähle. Seit Jahren forscht er an Legierungen, die hohe Formbarkeit und Festigkeit gleichermaßen bieten.
Ein edles Ziel, denn jedes Jahr ereignen sich mehr als 2,5 Millionen Autounfälle in Deutschland. Die Autohersteller versuchen mit hohem Aufwand, die Insassen zu schützen. Die Werkstoffhersteller arbeiten mit Hochdruck daran, die dafür nötigen Stähle großserientauglich zu machen. Mit den Twip-Stählen scheint ein Schritt dazu getan. Das bescheinigt den Twip-Stählen auch Prof. Hans Ferkel, Leiter der Konzernforschung Werkstoffe bei Volkswagen. „Aufgrund ihrer hohen Festigkeit und des hohen Energieaufnahmevermögens haben diese Mangan-Stähle ein hohes Potenzial im Bereich Crash-Performance und Leichtbau“, bekräftigt er – will sie aber nicht als künftigen Universalwerkstoff sehen. Der Schlüssel bleibe ein vernünftiger Mix. „Der richtige Werkstoff am richtigen Platz ist die Voraussetzung, um die wirtschaftlichen und technischen Herausforderungen an den Leichtbau zu erfüllen.“
Anwendungen für Twip-Stähle sieht Max-Planck-Forscher Frommeyer nicht nur bei Karosserieblechen mit maximaler Energieabsorption. Er hält auch Space-Frame-Konstruktionen mit Twip-Stählen für möglich – „wie man sie in Aluminiumguss bei Audi kennt“. Zudem gebe es Potenzial für die Konstruktion von leichten, sehr festen Motorradkonstruktionen. Sie können aus Gitterrohr- oder Profilrahmen bestehen. Und nicht zuletzt lässt der Werkstoffexperte seinen Blick noch weiter schweifen bis auf Stahlbrücken in erdbebengefährdeten Gebieten. „Hier sind hohe Biege- und Knickfestigkeiten im elastoplastischen Bereich gefordert“.
Prof. Frommeyer entwickelt seit 15 Jahren neue Legierungskonzepte auf der Basis hochmanganhaltiger Stähle mit definierten Gehalten von Aluminium (Al) und Silizium (Si) sowie Al und Kohlenstoff (C). Gewünschte Verformungs- und Verfestigungsmechanismen lassen sich durch Wählen von Legierungselementen einstellen, zum Beispiel auch in Abhängigkeit von Temperaturverläufen. „Es sind nicht nur Erfahrungswerte, die uns am MPIE neue Wege gewiesen haben, sondern auch thermodynamische Berechnungen und Konstitutionsüberlegungen anhand von Phasendiagrammen.“
Die Grundlinien: Aluminium und Mangan stabilisieren in unterschiedlichem Maße die kubisch-raumzentrierten und kubisch-flächenzentrierten Phasen des Eisens. C wirkt verfestigend, also auch versprödend. Si steigert die Härte, verschlechtert damit aber die Kaltumformung. „Die richtige Rezeptur zu finden war langwierig“, blickt Frommeyer zurück. Der neue Stahl sollte zwei Eigenschaften in sich vereinen: Zum einen sollte er sehr dehnbar sein, um einen möglichst großen Anteil der Aufprallenergie in Verformung umwandeln zu können, zum anderen sollte er trotzdem ausreichend fest sein, um die Fahrgastzelle zu stabilisieren.
Nach dem Verstehen des Trip-Effekts als zweifach induzierte martensitische Phasenumwandlung (Transformation Induced Plasticity = Trip) in Stählen mit 15 % Mangan (Mn), 3 % Si und 3 % Al, gingen die Düsseldorfer einen Schritt weiter. Durch Zugabe von Mangan mit 22 bis 24 % und 3 % Aluminium sowie Silizium gelang es ihnen, die Stapelfehlerenergie im Kristall weiter abzusenken. Dadurch lässt sich leicht der Verformungsmechanismus der Zwillingsbildung aktivieren (Twinning Induced Plasticity Twip). Inzwischen gibt es eine ganze Reihe modifizierter Twip-Stähle, die sich alle dadurch auszeichnen, dass sie eine hohe Bruchdehnung erreichen und somit strukturelle Schäden an sicherheitsrelevanten Teilen „schlucken“.
Dank des niedrigen spezifischen Gewichts kann die Rohkarosserie zudem um ein Drittel leichter gebaut werden. Sie macht etwa 30 % des Fahrzeuggewichts aus. Daraus resultieren eine beachtliche Einsparung des Kraftstoffverbrauchs und eine Reduktion der Abgasemissionen. Kunde des neuen Stahls ist letztendlich der Konsument.
Die neuen Möglichkeiten fordern insbesondere die zuliefernden Werkstoffhersteller heraus. „Stahl nur zu erzeugen reicht nicht aus“, weiß Hans Fischer, Vorstand Stahl der Salzgitter AG. Entwickler müssten zunehmend die Verarbeitungsprozesse beim Abnehmer in ihre Überlegungen einbeziehen und ihr Werkstoffdesign daran ausrichten. Fischer: „Wir müssen uns nicht nur rechtzeitig auf die Märkte von morgen einstellen, sondern sie auch mitgestalten.“
Deshalb wird die Entwicklung hochwertiger Stähle weiter offensiv vorangetrieben. Bei Inbetriebnahme des neuen Technikums der Konzerntochter Salzgitter Mannesmann Forschung GmbH im Dezember 2007 erklärte Fischer, dass die Stahlverarbeiter in ihrem Streben nach kurzen Produkteinführungszeiten und robusten Serienprozessen unterstützt werden sollen. Das zielt auf die Markteinführung der HSD-Stähle (High Strength and Ductility), die Salzgitter mit dem britisch-niederländischen Unternehmen Corus entwickelt. HSD ist eine eingetragene Marke für Stahl mit Twip- und/oder Trip-Effekt.
Zurzeit entsteht in Peine eine Anlage für das kontinuierliche Bandgießen, auf der HSD-Stähle ab 2010 produziert werden. Beim Dünnbandgießen (Direkt Strip Casting) wird der flüssige Stahl direkt aus der Pfanne zu einem dünnen Band horizontal abgegossen. Die schnelle Erstarrung lässt den Begleitelementen keine Zeit, sich auszuscheiden. Das ist eine wichtige Voraussetzung für die umformtechnische Verarbeitung der manganhaltigen Stähle.
Die konventionelle Verfahrensroute für die im Automobilbau verwandten Stähle scheint auch Prof. Frommeyer wenig geeignet. „Schließlich soll Mangan ja nicht in der Schlacke landen.“ Dem Forscher war von Anfang an klar, dass es dauert, bis sein Kind, der hochmanganhaltige Twip-Stahl, erwachsen wird – also großserientauglich.
„Fakt ist“, weiß Frommeyer, „die Schmelze ist dünnflüssiger.“ Beim Verzinken lasse sich die kaltgewalzte Oberfläche durch die Al- und Si-Anteile in der Legierung schlechter benetzen. „Zugaben von Kupfer und Phosphor könnten helfen.“ Auch in der Fügetechnik gebe es noch Forschungsbedarf, weil beim Schweißen neuer Stahlqualitäten neue Parameter eingestellt werden müssten. „Bisher stört das noch die Automatisierung.“ Stahl bleibt also im Gespräch.
Siegfried Kämpfer Journalist in Solingen
Große Dehnbarkeit verknüpft mit hoher Festigkeit
Twip-Stähle machen die Karosserie ein Drittel leichter

Werkstoff-Quantensprung aus dem Supercomputer

Simulation: Mit Hilfe der Quantenphysik zu neuen Stählen

Keineswegs zum alten Eisen gehört Stahl. 2280 Sorten wurden in der EU registriert, 2000 davon in den letzten zehn Jahren. Künftig soll es noch schneller gehen. Ein Simulationszentrum in Bochum will Werkstoffe quantenmechanisch konstruieren.
Die Diskussion um den Handy-Produktionsstandort Bochum scheint wieder einmal die Frage aufzuwerfen: Schafft das Ruhrgebiet den Wandel von der Dinosaurier- zur Hightech-Industrie? Karl-Ulrich Köhler, Vorstandsvorsitzender der ThyssenKrupp Steel AG, arbeitet aktiv an dieser neuen Zeit mit. Denn als Deutschlands Zentrum für Werkstoffherstellung mit rund 135 000 Beschäftigten ist das Ruhr-Gebiet allemal ein Innovationsstandort. „Wir bei ThyssenKrupp sind fest überzeugt davon, dass der Simulation gerade in der Werkstoffentwicklung eine Schlüsselfunktion zukommt“, sagt Köhler.
Deshalb geht in diesem Frühjahr an der Bochumer Ruhr-Universität das Interdisciplinary Center of Advanced Materials Simulation (Icams) in Betrieb. Es wird mit Millionenbeträgen von Unternehmen wie ThyssenKrupp und Salzgitter, aber auch Bayer MaterialScience und Bosch unterstützt, die mit gezielt konstruierten Materialien den Wettbewerb bestimmen wollen. Auch das Düsseldorfer Max-Planck-Institut für Eisenforschung (MPIE) und die RWTH Aachen wirken mit. Dank Simulationen kommen dann beispielsweise manganhaltige Stähle schneller auf den Markt, wie sie auf Seite 38f beschrieben werden: mit extrem hoher Dehnungsfähigkeit und Crashresistenz. Schon heute seien computergestützte Simulationsverfahren vielfach etabliert, etwa bei der Einführung neuer Automobile, betont Stahlmanager Köhler. „Sie helfen, aus einer Vielzahl von Entwicklungsmöglichkeiten die richtige Wahl zu treffen.“
Die neue Art der maßgeschneiderten Werkstoffentwicklung beginnt virtuell mit der Simulation. Dabei werden Methoden aus der Quantenphysik, der angewandten Mathematik und Informatik eingesetzt, um atomare und mikroskopische Strukturen und die sich daraus ergebenden technologischen Eigenschaften vorherzusagen. Am Icams sollen auch Ingenieure ausgebildet werden, die dem Automobilbau neue Stahlwerkstoff-Methoden zur Verfügung stellen.
Das Icams vereint zwei Welten, die der Werkstofftechniker einerseits und der Physiker, Chemiker und Mathematiker andererseits. Früher waren atomistische Überlegungen (typischer Größenbereich 0,1 bis 10 nm) eher in den Naturwissenschaften angesiedelt, während Ingenieurwissenschaftler mehr an makroskopischen Eigenschaften interessiert waren (ab 0,1 mm.)
Nabel dieser neuen Welt interdisziplinärer Forschung ist der 2007 gegründete Sonderforschungsbereich SFB 761 „Stahl ab initio – Quantenmechanisch geführtes Design neuer Eisenbasiswerkstoffe“. Er besteht aus elf Instituten und Abteilungen der RWTH Aachen und drei des MPIE. „Wir haben noch Stellen für unser dynamisches und engagiertes Team offen“, sagt SFB-Sprecher Prof. Wolfgang Bleck. „Es sind sozusagen numerische Experimente, die wir hier machen“, erläutert Bleck, Leiter des Instituts für Eisenhüttenkunde der RWTH. Das lateinische „ab Initio“ – zu Deutsch „von Anfang an“ – bezeichne in der Chemie-Informatik beispielsweise eine Methode, um Moleküleigenschaften ohne Messwerte zu berechnen. „Voraussetzungsfrei“ nennt Bleck diese Vorgehensweise, weil sich Werkstoffeigenschaften als Funktion der Elektronenstruktur darstellen. „Bei unserer Modellierung gehen wir lediglich von Naturkonstanten aus. Wir stützen uns auf die Schrödinger-Wellenfunktionsgleichung als Grundlage der Quantenphysik, die den Ort eines Teilchens als energetischen Erwartungswert beschreibt.“
So will man im Sonderforschungsbereich den Zusammenhang zwischen chemischer Zusammensetzung und Eigenschaften erkennen. Bezogen auf die manganhaltigen Stähle von Seite 38f, bedeutet das: „Wir berechnen die Stapelfehlerenergien und sagen voraus, welche Verformungsmechanismen auftreten: Gleitung, Phasenumwandlung austenitisch/martensitisch und Zwillingsbildung.“ Letzterer Effekt ist als Twinning Induced Plasticity oder „Twip“ besonders interessant, weil er bei einem Aufprall energieverzehrend wirkt. Grundlagenforschung passt hier genau zu dem, was der Markt will: Bleche für höhere Sicherheitsstandards bei stark reduziertem Gewicht.
Siegfried Kämpfer Journalist in Solingen
Ingenieurwesen und Physik verschmelzen
Naturkonstanten reichen als Basis

Neue Technologien
Zugeschnitten sind die neuen Twip-Stähle auf den Automobilbau. Aber das wird sie nicht hindern, ihre Vorteile auch anderswo auszuspielen. Ihre Eigenschaften: Twip-Stähle machen Karosserien um rund ein Drittel leichter. Sie lassen sich um bis zu 90 % dehnen, verfestigen sich aber beim Crash. Damit könnten sie auch für Brücken in Erdbebenzonen zum Werkstoff der Wahl werden – nur ein Beispiel von vielen.
Industrieanzeiger
Titelbild Industrieanzeiger 7
Ausgabe
7.2024
LESEN
ABO
Newsletter

Jetzt unseren Newsletter abonnieren

Webinare & Webcasts

Technisches Wissen aus erster Hand

Whitepaper

Aktuelle Whitepaper aus der Industrie

Unsere Partner

Starke Zeitschrift – starke Partner


Industrie.de Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Industrie.de Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Verlag Robert Kohlhammer GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum Industrie.de Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des Industrie.de Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de