Wie kam es eigentlich dazu, dass sich das IPA so stark mit Robotik beschäftigt?
Kraus: Tatsächlich hatten die damaligen Mitarbeiter in den 1970er Jahren einen ‚guten Riecher‘ für Trends. Sie haben deshalb auch eines der allerersten „International Symposium on Robotics“, die ISR-Konferenz, in den USA besucht und brachten somit frisches Expertenwissen rund um die Robotik nach Europa. Förderlich war sicher auch die Nähe des Instituts zu den hiesigen Automobil-OEM, bei denen Industrieroboter bereits ihren Siegeszug im Rohbau angetreten hatten. Seither gestaltet das Fraunhofer IPA die Zukunft der Robotik wegweisend mit und aktuell ist es spannend wie nie zuvor.
Inwiefern?
Kraus: Nun, unsere Forschungsthemen leiteten sich schon immer aus einer starken Anwendungsorientierung ab. Eigenentwicklungen ganzer Roboter sind eine Ausnahme bei uns. Stattdessen dreht sich vieles um das ganze Robotersystem, den Prozess und die Systemintegration. Hierin sehen wir noch heute den Flaschenhals für die Roboternutzung.
50 Jahre sind eine lange Zeit. Gab es denn bestimmte Themen, die charakteristisch waren für bestimmte Zeiten?
Kraus: Tatsächlich kann man rückblickend einige Schwerpunkte beobachten. In den 1970er Jahren, als das IPA mit der Robotikforschung begann, lag der Fokus auf der Handhabung. Auch in den 1980er Jahren haben wir schwerpunktmäßig noch für die industrielle Fertigung gearbeitet und es kamen viele Montageentwicklungen dazu.
Blieb es denn bei der Industrierobotik?
Kraus: Nein, in den 1990er Jahren kam dann die Servicerobotik mit ins Spiel mit der Vision, einen flexiblen Assistenten für Haushalt und Dienstleistung zu entwickeln. Dies war die Geburtsstunde des ersten Serviceroboters Care-O-bot. Die Idee war und ist noch immer, dass er Menschen zuhause, in Hotels, Pflegeheimen oder Krankenhäusern aktiv unterstützt. Nach verschiedenen Weiterentwicklungen haben wir 2015 den Care-O-bot 4 vorgestellt, ein modularer Serviceroboter, der als Basis für kommerzielle Weiterentwicklungen rund um die Servicerobotik dient. In den 2000er Jahren widmete sich die Forschung am Fraunhofer IPA dann vermehrt der Bildverarbeitung, um damit den Griff-in-die-Kiste zu unterstützen. Dadurch konnten Roboter chaotisch bereitgestellte Objekte vereinzeln und auf neue Objektlagen reagieren.
Bestimmt hat doch aber irgendwann auch der Begriff „Industrie 4.0“ eine Rolle gespielt?
Kraus: Klar. Anfang 2010 waren Industrie 4.0 mit cyber-physischen Systemen sowie Ökosysteme auch für die Robotik die Themen der Stunde. Beispielsweise stand mit dem Robot Operating System (ROS) nun eine frei verfügbare Middleware für Roboter zur Verfügung. Dieses entwickeln wir am IPA nicht nur selbst weiter, sondern koordinieren auch die Aktivitäten des ROS-Industrial Consortium Europe, eines Open-Source-Projekts mit dem Ziel, ROS-Fähigkeiten für die industrielle Fertigung einzusetzen. Seit Mitte der 2010er Jahre arbeiten wir mit „Deep Grasping“ an einer virtuellen Lernumgebung, um den Griff-in-die-Kiste mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) zu perfektionieren. Neuronale Netze werden virtuell trainiert und auf reale Roboter übertragen. Die Bildverarbeitungsalgorithmen lernen die neuen Werkstücke selbstständig ein, was Zeit spart und das nötige Fachwissen reduziert.
Und welche Trends und Technologien bestimmen heute die Robotikforschung am IPA?
Kraus: Hier sehe ich aktuell insbesondere zwei Trends, die sowohl stark nachgefragt werden als auch ein hohes technisches Potenzial haben. Das ist zum einen die Automatisierung der Automatisierung, um Ingenieure bei der Planung und Auslegung von Robotersystemen zu unterstützen. Die Engineering-Aufwände zu senken ist entscheidend, weil sie einen Großteil der Kosten für eine neue Anwendung verursachen. Der Roboter selbst schlägt dabei nämlich meist nur mit etwa einem Viertel bis Fünftel aller Kosten zu Buche und ist somit nur die Spitze des Eisbergs. Der Großteil der Kosten entfällt auf Peripherie, Softwarenentwicklung, Integration und Inbetriebnahme.
Wie kann man hier helfen?
Kraus: Wichtig ist eine frühzeitige Absicherung des Automatisierungskonzepts. Denn wenn es im Planungsprozess zu Fehlern kommt, rächen sich diese im Projektverlauf. Das können höhere Kosten sein oder auch das Verpassen des „Start of Production“. Je früher Fehler in der Planung vermieden werden, desto leichter lassen sie sich korrigieren. Neue Angebote, die auf Künstlicher Intelligenz (KI) basieren, wie beispielsweise eine virtuelle Machbarkeitsanalyse für Griff-in-die-Kiste-Anwendungen, sind Teil dieses automatisierten Engineerings. Nicht zuletzt kann man mit „Automation of Automation“ auch das nötige Fachwissen auf Anwenderseite für die Inbetriebnahme senken.
Und der zweite Trend?
Kraus: Ist die kognitive Robotik. Hierbei geht es darum, dass Roboter nicht mehr „blind“ eine einmal programmierte Aufgabe ausführen, sondern dass sie ein eigenes „Verständnis“ für die Aufgabe, das Bauteil und ihr Umfeld entwickeln. Grundlage hierfür sind Sensordaten, die das Robotersystem verarbeitet und darauf aufbauend passende Aktionen plant. Diese Fähigkeiten werden im produktiven Kontext gebraucht, wenn es beispielsweise um die wirtschaftliche Fertigung kleiner Losgrößen geht. Sie sind aber auch insbesondere dort wichtig, wo ein Roboter nicht vollständig programmiert werden kann, sondern situativ verstehen und reagieren können muss, beispielsweise ein Serviceroboter, der sich für Hol- und Bringdienste unter Menschen bewegt.
Wohin wird die weitere Reise der Robotik gehen?
Kraus: Die aktuellen Projekte bei uns weisen den Weg der Robotik in die Zukunft: Mit AI-Matters entstehen in Stuttgart Test- und Erprobungszentren, in denen Unternehmen KI-basierte Komponenten testen und zertifizieren können. In unserem KI-Fortschrittszentrum »Lernende Systeme und Kognitive Robotik« gemeinsam mit dem Fraunhofer IAO und als Teil von Cyber Valley, Europas größtem Forschungsverbund rund um KI, haben wir bereits mit über 200 Unternehmen KI-Projekte durchgeführt – von der ersten Ideenfindung bis zum Demonstratoraufbau. Robotik als ‚verkörperte KI‘ wird viele neue Anwendungen ermöglichen, die heute noch herausfordernd sind.
Nämlich?
Kraus: Dazu gehört auch, dass Roboter mithilfe maschineller Lernverfahren vermehrt in Simulationen trainiert werden, sodass die tatsächliche Inbetriebnahme schneller geht und weniger Fachwissen auf Anwenderseite erfordert. Wie das umsetzbar wird, zeigt unser Projekt „Sim4Dexterity“. Für mehr Effizienz in der Software-Entwicklung zu sorgen, ist ebenfalls entscheidend. Denn das Rad stets neu zu erfinden, kostet zu viele Ressourcen. Hierfür wird vermehrt die modellgetriebene Entwicklung eine Rolle spielen, wie wir sie im Projekt „CoreSense“ voranbringen.
Von der Zukunft nochmal zurück in die Geschichte: Wo hat denn das IPA in den 50 Jahren mit seinen Forschungsprojekten Akzente gesetzt und Entwicklungen geprägt?
Kraus: In jedem Fall haben wir sehr früh die noch vergleichsweise junge Branche der Servicerobotik mitdefiniert und durch die Entwicklungen rund um den Serviceroboter Care-O-bot eine Vorreiterposition innegehabt. Zudem gehen viele Basispatente rund um die Mensch-Roboter-Kollaboration auf unsere Forschungsergebnisse aus den 1990er Jahren zurück. Außerdem möchte ich unsere starke Mittelstandsorientierung hervorheben, etwa haben wir vor rund 20 Jahren das Projekt „SMErobot“ und im Anschluss das Folgeprojekt „SMErobotics“ geleitet, die viele Weichen für den Robotereinsatz auch in mittelständisch geprägten Produktionen gestellt haben.
Und darüber hinaus?
Kraus: Weitere Kernthemen, die wir maßgeblich vorangetrieben haben, sind das Bin Picking (unser erster Demonstrator dazu stand bereits 2010 auf der automatica) und die Reinraumzertifizierung von Robotern. Nicht zuletzt sind wir stark vernetzt: So leiten wir seit seiner Gründung wie oben erwähnt das ROS-Industrial-Konsortium Europa und sorgen dadurch für mehr Verbreitung von Open-Source-Software. Und durch die langjährige Zusammenarbeit mit der „International Federation of Robotics“ haben wir einen sehr guten Marktüberblick rund um die Servicerobotik, da wir das Jahrbuch „World Robotics Service Robots“ mitherausgeben.
Gab es in den 50 Jahren auch Exoten?
Kraus: In unserer Ausstellung „Meilensteine der Robotik“ zeigen wir Exponate aus diesen rund 50 Jahren Robotik am IPA. Ein Highlight für mich ist unsere sogenannte „Greiferwand“: Das ist eine Bildercollage, die etwa 150 Werkzeuge zeigt, die wir für Roboter entwickelt haben. Und da ist wirklich alles dabei – bis hin zu Greifsystemen, die Maultaschen oder kleine Salamisnacks vereinzelt haben. Was zunächst recht kurios klingt, ist tatsächlich in einer Ausgründung aufgegangen, die bis heute erfolgreich Roboteranlagen für die Lebensmittelindustrie entwickelt. Auch komplette Robotersysteme sorgen bis heute für Interesse bei unseren Gästen
Auch Projekte, die so wegweisend wie obskur waren?
Kraus: Da wäre beispielsweise der Roboter „Skywash“, der für die automatisierte Reinigung von Flugzeugen entwickelt wurde. Die Anwendung Flugzeuge-Reinigen kam zwar nicht zum Fliegen, aber die damals entwickelte Robotersteuerung für Betonpumpen ist noch heute bei Putzmeister im Programmcode zu finden. Oder ein Roboter für das Betanken von Autos mit Wasserstoff – dank intelligenter Sensorik schon in den 1990er Jahren ein Roboter, der die direkte Mensch-Roboter-Kollaboration umsetzte. Und tatsächlich haben wir auch einen mobilen Inspektionsroboter für Offshore-Plattformen entwickelt. Das damalige Team testete diesen auf einer Offshore-Plattform im chinesischen Meer – was wohl eine unserer ungewöhnlichsten Dienstreisen war.↓