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Damit nicht so heiß gegessen wie gekocht wird

Maschinensicherheit: Neue Normen bergen Chancen, aber auch Risiken
Damit nicht so heiß gegessen wie gekocht wird

Mit „Heiße Kartoffeln der Maschinensicherheit“ betitelten die Hersteller Bosch Rexroth und Sick ihre gemeinsame Veranstaltung. Damit sich Maschinenbauer bei der Umsetzung der neuen Maschinenrichtlinie, vor allem an der Risikobeurteilung nicht die Finger verbrennen, helfen Produktlieferanten und Verbände.

Die Warnung vor einem Overengineering fällt öfters im Zusammenhang mit der neuen Maschinenrichtlinie. Damit das Thema als eine der „heißen Kartoffeln der Maschinensicherheit“ nicht ganz so heiß wird, wie es vor allem unter kleineren Maschinenbaufirmen gehandelt wird, unterstützen die Industrieausrüster Bosch Rexroth und Sick mit gemeinsamen Applikationslösungen und ihrer Erfahrung ihre Kunden.

Die Zeit drängt. Am 31. Dezember dieses Jahres endet die verlängerte Vermutungswirkung der alten Sicherheitsnorm EN 954-1, die bislang die Basis bildet, um Sicherheitssteuerungen auszulegen. Die Nachfolgenorm EN ISO 13849-1 sollte zeitgleich mit der neuen Maschinenrichtlinie 2006/42/EG Ende 2009 die EN 954-1 ablösen. Statt sicherheitstechnische Schaltungen nach Kategorien zu bewerten, erfolgt dies künftig gemäß den komplexeren Performance Leveln (PL). In knapp zehn Monaten führt nach der zweijährigen Verlängerung kein Weg an der EN ISO 13849 vorbei, auch wenn zum Teil nochgewisse Unsicherheiten am Markt hinsichtlich der Sicherheitsnorm bestehen.
„Aufgrund einer Mischung aus Kenntnislücken und Zeitmangel“, blickt Dr. Steffen Haack, Leitung Vertrieb Fabrikautomation bei Rexroth, zurück, haben viele Maschinenhersteller in der Boom-Phase vor der Rezession ihre Hausaufgaben hinsichtlich der im November 2006 beschlossenen neuen Sicherheitsnorm aufgeschoben. Die Verlängerung als eine Schonfrist hat ihnen etwas Luft verschafft. Derzeit sei die Situation ähnlich, vergleicht Haack. Erneut laste ein Boom die Betriebe aus, „doch die Umstellung auf die neue Norm muss definitiv bis zum 31. Dezember 2011 abgeschlossen werden“, beschreibt er die Situation.
Der Aufruf gilt eher den kleineren Herstellern als den großen und den vielen mittleren, die ihre jüngsten Maschinengenerationen bereits nach der neuen Sicherheitsnorm auslegen. Bei Neuentwicklungen, sagt Rexroth-Produktmanager Jochen Ost, „wird inzwischen die EN ISO 13849-1 berücksichtigt.“ Die Umstellung der bestehenden Produktlinien, die noch der alten Norm entsprechen, stelle für die Unternehmen eine große Herausforderung dar. „Nach Ablauf der EN 954-1 dürfen diese Maschinen so nicht mehr in Verkehr gebracht werden“, erinnert Ost an den Stichtag 31. Dezember. Auch hierzulande entwickelte Maschinen jüngeren Datums, die beispielsweise in Polen, Tschechien oder China in Serie produziert würden, müssten überarbeitet werden, präzisiert Claus Melder. „Wie aber funktioniert es im Detail, wenn etwa Polen, Tschechen und Chinesen daran beteiligt sind“, gibt der Marketingmanager der Sick AG zu bedenken.
Derzeit drückt Konstrukteure der Schuh vor allem im Normendschungel. Dabei gibt die neue Maschinenrichtlinie die Richtung vor: Die 2006/42/EG schreibt dem Planer beim Entwickeln einer neuen Maschine vor, die grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsanforderungen zu erfüllen, schweigt sich aber aus, wie diese konkret umzusetzen sind. Dies regelt wiederum die neue Sicherheitsnorm EN ISO 13849 respektive die IEC 62061. Letztere zielt eher auf den elektrischen Part, erstere kann auch für Hydraulik und Pneumatik eingesetzt werden. Die Frage, welche Sicherheitsnorm heranzuziehen ist, schafft in der Praxis Verwirrung. Wer sich aus Unkenntnis auf beide Normen stütze, festige das Image, wonach mit den neuen Normen alles teurer werde, gibt Claus Melder das Urteil so manches Konstrukteurs wieder. Zu guter Letzt müsse sich der Konstrukteur mit den sogenannten C-Normen befassen, die auf spezielle Maschinen abzielen. Deren gebe es etwa 350, ein Teil davon referenziere aber immer noch auf die alte Sicherheitsnorm. Auf rund ein Drittel der C-Normen schätzt Melder derzeit den Anteil, der noch nicht überarbeitet ist.
In diesem Dschungel würden sich viele seiner Kunden bewegen. Anfragen, was konkret zu tun sei, erreichten ihn zuhauf. Um nicht die falsche Richtung einzuschlagen, rät Melder, sich jetzt intensiv mit dem Thema zu befassen. Zu bedenken sei, dass die neue Sicherheitsnorm zwar mehr Freiräume verschaffe. Dies erfordere jedoch mehr Knowhow. Für Melder ist klar: „Die alten Trampelpfade waren nicht sehr flexibel, dafür einfach. Die neuen Normen sind etwas flexibler, aber auch komplizierter.“ Deshalb sieht der Sick-Experte die Gefahr, sich an der neuen Norm zu verbrennen.
Besonders heiß ist die Kartoffel dort, wo es um die Beurteilung des Beitrags geht, den eine steuerungsabhängige Sicherheitsfunktion zur Risikoreduzierung leisten soll. Wurde nach alter Sicherheitsnorm der erforderliche Beitrag in Kategorien eingeteilt, schreibt die EN ISO 13849-1 einen sogenannte Performance Level (PL) vor. Im Gegensatz zum Risikograph der ISO 14121 verfügt der Risikograph der ISO 13849-1 nur über drei Dimensionen – Schwere, Häufigkeit und Vermeidbarkeit. Die vierte Dimension – die Eintrittswahrscheinlichkeit – wird nicht als Parameter berücksichtigt. Dieser Risikograph wird zwar nur im informativen Anhang der Norm beschrieben, den Konstrukteuren werden jedoch keine Alternativen geboten, die über alle Maschinen zu vergleichbaren Ergebnissen führt.
Wie heiß die Kartoffel an dieser Stelle ist, macht insbesondere der Vorstoß des Vereins Deutscher Werkzeugmaschinenfabriken (VDW) deutlich. Der Normenexperte Dipl.-Ing. Heinrich Mödden bemängelt fehlende einheitliche Erfahrungswerte, „wie eine Risikobeurteilung durchzuführen ist, wenn es um die Anforderung an die funktionale Sicherheit geht“. Gerade diese spiele bei Werkzeugmaschinen eine große Rolle. Mödden kritisiert, dass einkanalige mechatronische Systeme von der ISO 13489-1 leichtfertig unter einen theoretisch-hypothetischen Generalverdacht gestellt werden. Demnach würden „Theorie und Praxis“ beim Abgleich von Soll- und Ist-Werten (PLr vs. PL) in bestimmten Fällen plötzlich nicht mehr zusammenpassen. Bei Kat 3- oder 4-Systemen ist alles in Ordnung, aber gerade beim Spannen von Werkstück- und Werkzeug führe die reine Anwendung des Risikographen aus der ISO 13849-1 zu einem Performance Level, den die bewährte Technik oft mangels der vorgeschriebenen Testbarkeit nicht erreichen kann. Damit würden aktuelle Systeme unterbewertet, warnt Mödden, was die Konstrukteure erheblich verunsichere.
Dies befremdet ihn, weil die funktionale Sicherheit bei dem Unfallgeschehen nicht auffällig gewesen sei. Warum, fragt sich Mödden, soll die Sicherheit von Werkzeugmaschinen plötzlich so zweifelhaft sein, wie die neuartige Theorie dies behaupte? Schließlich würden die Mitglieder des VDW weltweit die sichersten Maschinen bauen. Bis zum Konjunktureinbruch Ende 2008 hätten die Unternehmen sehr gute Erfolge damit erzielt. Werkzeug- und Werkstückspannung wären ausgereifte Technologien mit sehr hoher Zuverlässigkeit. Unfälle durch funktionales Versagen an dieser Stelle seien in der Fachwelt kaum bekannt.
So könne ein deutlich negativer Gradient in den Unfallzahlen für die letzten zehn Jahre belegt werden, betont der Normenspezialist. Mathematische Methoden würden zeigen, dass ein Abstand von bis zu ein bis zwei Zehnerpotenzen zwischen „Beinahe-Unglück“ und „Unfall“ bei der Risikobeurteilung angesetzt werden dürfe. Der VDW schlägt deshalb eine einheitliche Risikobeurteilung für die Branche vor. Mödden schwebt eine Risikominderungsmatrix zur Definition von realistischen PLr-Werten vor, und zwar nach Technologien unterschieden, damit Soll- und Ist-Werte wieder zusammen passen.
Alles drehe sich um die Frage, wie die bisherigen Kategorien in die Performance Level überführt werden könnten – und zwar sinnvoll adaptiert auf der Basis positiver Erfahrungswerte mit bewährten Konstruktionsprinzipien. Damit soll verhindert werden, betont der Verbandsexperte, dass „ohne Not bei der Sicherheitstechnik draufgesattelt“ werde. Viel ist ihm daran gelegen, „den bewährten Stand der Technik in den Produktnormen für Werkzeugmaschinen zu erhalten“. Rechtzeitig vor dem Stichtag 31.Dezember 2011 sollte an den VDMA-Einheitsblättern gearbeitet werden, ruft Heinrich Mödden alle Beteiligten zur Mitarbeit auf. Nur mit einem solchen Branchenstandard lasse sich die Verunsicherung beruhigen und die Akzeptanz für die ISO 13849-1 gewinnen.
Um die heißen Kartoffeln bei der Realisierung der steuerungsabhängigen Schutzmaßnahmen einer komplexen Maschine nicht ganz so heiß werden zu lassen, empfiehlt Rexroth-Produktmanager Jochen Ost
  • Sicherheitsfunktionen vernünftig zu analysieren,
  • diese Funktionen entsprechend dem PLr (Sollwert) zu trennen und
  • Komponenten in geeignete Subsysteme zusammenzufassen.
Nötig sei hierfür neben dem ingenieurmäßigen Herangehen und gesundem Menschenverstand auch die Einbindung der Hersteller, insbesondere bei elektromechanischen Systemen. Bei alldem hält es der Sicherheitsexperte für wichtig, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Overengineering sei jedenfalls der falsche Ansatz. Dann, so Ost, „ist komplexe Sicherheit auch kein Paradoxon“.
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