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Die Visionen der Macher

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Die Visionen der Macher

Technische Perspektiven | Sie zeichnen ein übereinstimmendes Bild von der Zukunft – unabhängig voneinander. Die perspektivischen Aussagen der Spritzgießanlagen-Hersteller fügen sich wie Puzzleteile zu einem Ganzen, signifikant für die gesamte Technik, nicht nur für die Kunststoffverarbeitung. Ihr Motto: alles wird einfacher. §

Autor: Olaf Stauß

Das Bedienen von Geräten wird einfacher, viel einfacher sogar. Ja, geradezu sinnlich. Das sagt Professor Georg Steinbichler, F+E-Leiter Technologien bei Engel Austria: „Fühlen und Tasten wird immer wichtiger. In nicht allzu ferner Zukunft können wir ganz neu über unsere Sinne mit Maschinen und Produkten kommunizieren.“ Hier könne die Technik viel von der Natur lernen – das Vorbild ist die menschliche Haut. Steinbichler, der auch an der Johannes Kepler Universität Linz lehrt, erklärt es am Beispiel des Smartphones, das für uns alle zum Inbegriff des persönlich erlebbaren Fortschritts geworden ist.

„Noch immer muss ich mit dem Finger exakt zum Zielpunkt auf der Glasplatte fahren, wenn ich eine Eingabe machen will. Dazu brauche ich das Auge und muss genau hinsehen“, kritisiert er. „Aber wenn ich heute etwas bedienen will, möchte ich die Positionen ertasten, ohne hinsehen zu müssen – über geometrische Eindrücke oder über andere Oberflächenreize.“
Engel hat sich dieser Technik schon angenähert. Auf der Fakuma vor vier Jahren präsentierte der Spritzgießmaschinenbauer eine sensorische Pkw-Mittelkonsole. Sie war dreidimensional geformt und wurde im Spritzguss hergestellt. Auf ihr konnte der Messebesucher die Funktionstaster tatsächlich erfühlen und betätigen, ohne zu schauen. Der Vorteil: Im Verkehr wird der Autofahrer nicht mehr abgelenkt, wenn er die Lautstärke des Radios verändern oder die Sitzheizung regulieren will.
Steinbichler schwebt eine „haptische Schnittstelle“ vor. Er kann sich sogar vorstellen, dass die Geräte selbst fühlbare Signale aussenden. Dann bekommt der Bediener etwas zu spüren. So entsteht eine Interaktion. „Die menschliche Haut mit ihrem darunterliegenden Nervengewebe und Spürsinn wird bisher überhaupt nicht genutzt für die Kommunikation mit den Geräten“, sagt er. „Da ist noch viel offen.“
Georg Tinschert, Geschäftsführer von Wittmann Battenfeld, bricht das Perspektivische auf die Branche runter. „Die Zukunft des Kunststoff-Maschinenbaus wird zunehmend von Software-Lösungen bestimmt“, betont er. „Sie sind eine smarte Alternative zu der Vielzahl der Hardware-Schnittstellen zwischen Maschine, Peripheriegeräten und Werksinfrastruktur.“ Bei der Wittmann-Gruppe hat diese Zukunft schon begonnen. Bereits in ihrer Geburtsstunde wurde sie ihr als Aufgabe in die Wiege gelegt – damals, als Automatisierungstechnik- und Peripheriegeräte-Anbieter Wittmann den Spritzgießmaschinenhersteller Battenfeld übernahm. „Diese Systemintegration ist seit vielen Jahren der rote Wittmann-Entwicklungsfaden“, sagt Tinschert. Nun, wo alle Welt von „Industrie 4.0“ spricht, haben die Österreicher ihre Technologieplattform perfektioniert und nennen sie „Wittmann 4.0“: Jedes Gerät in der Fertigungszelle erhält eine eigene IP. Es lässt sich nun über die Spritzgießmaschine (SGM) direkt ansprechen und ist auf ihrem Display voll visualisiert. In die Maschinensteuerung integriert sind neben der SGM inzwischen die Werkzeugtemperierung und -kühlung, die gravimetrische Materialdosierung und die Roboterbewegung. Weitere sollen folgen. „Die Software der Geräte wurde dem Niveau der Spritzgießmaschine angeglichen“, sagt Tinschert.
„Neue Hardware gefunden… Sie können das Temperiergerät jetzt verwenden.“ So ähnlich könnte es künftig für den Mann an der Maschine heißen. Denn die Geräte der Fertigungszelle kommunizieren auf Windows-Ebene. „Ersetze ich Temperiergerät 13 durch Temperiergerät 15, dann lädt die Maschine automatisch die Geräte-Software hoch“, erklärt Tinschert – ein zusätzliches Kalibrieren ist nicht mehr erforderlich.
In einem weiteren Schritt denkt Tinschert an smarte Software/Sensorik-Pakete, die die Maschine „aktiv machen“. Sie zielen auf die vorbeugende Instandhaltung. So, wie bei hochwertigen Pkw bereits üblich. Geschäftsführer Georg Tinschert: „In der letzten Woche rief mich die BMW-Servicestelle an, dass in 1800 Kilometern die Bremsbacken fällig seien. Diese Info haben sie direkt von der Sensorik in meinem Fahrzeug erhalten. Solche Funktionen wollen wir auch in die Spritzgießmaschine einbringen.“
Industrie 4.0 ist in der Kunststoffverarbeitung angekommen. Spätestens klar ist das, seit Arburg die Idee präsentierte, Spritzgussteile durch seinen additiven „Freeformer“ zu individualisieren. Auch Dr. Boy steigt in das Thema ein, setzt das additive Element allerdings an den Anfang der Prozesskette. Das Ziel sind Kleinserien bis hin zu Einzelteilen. Dazu greift der rheinische Spritzgießautomatenhersteller eine Idee des 3D-Printer-Herstellers Stratasys auf und druckt additive Formeinsätze aus. Mit ihnen lassen sich kleinere Stückzahlen (bis hin zu Losgröße 1) herkömmlich spritzgießen – mehr dazu auf Seite 10.
Die Spritzgießwelt verändert sich schnell durch die digitalen Möglichkeiten, das machen die Visionäre klar. Wer an die Science-Fiction-Filme vergangener Zeiten denkt, liegt richtig. Wartung funktioniert zum Beispiel so, dass der Servicetechniker die Kamera seines Mobiles vor eine Komponente hält und alle relevanten Daten angezeigt bekommt – inklusive Anweisungen, was zu tun ist. Doch das ist nur ein Teilaspekt.
Heinz Gaub, Geschäftsführer Technik bei Arburg, hat sich mit seinem Team die Mühe gemacht, das ganze Szenario zu skizzieren. Er entwirft ein geschlossenes Bild aus einem Sammelsurium von Puzzleteilen. „Industrie-4.0-Technologien, flexibel automatisierte Spritzgießzellen und additive Fertigung werden in vielen Betrieben Einzug gehalten haben“, sagt er. „Dennoch ist der Mensch aus der modernen Produktion nicht wegzudenken. Aber wir erleichtern ihm die Arbeit mit kleineren und größeren Innovationen.“
Sein Puzzle der Zukunfts-Technik: Die einzelnen Fertigungsaufträge spielt ein Leitrechnersystem der Spritzgießmaschine zu. Der modernen SGM sind – anders als heute – Werkzeug, Material und Bauteilgeometrie bekannt. Der Bediener greift über die Steuerung mit ihrem intuitiven Touchscreen direkt auf das gespeicherte Know-how zurück. Bei Bedarf lässt er sich vom digitalen Assistenten helfen, wenn es um das Einrichten, Parametrieren oder Warten der Maschine geht. Zum Beispiel durch ein Video.
Der Servicetechniker empfängt schon auf der Anreise alle relevanten Daten auf dem Mobile. Näheres erfährt er vor Ort, wenn er – wie geschildert – die Kamera auf die problematischen Komponenten richtet. Weiß er nicht weiter, können sich Experten im Stammhaus via Datenbrille live zuschalten. Auch „Condition Monitoring“ gewinnt weiter an Bedeutung – das System meldet von sich aus, wann die Lebensdauer eines Teils zu 90 % überschritten ist.
Spritzgießzellen werden immer komplexer. Wie beim PC werden moderne Schnittstellen dafür sorgen, dass sich die Komponenten unterschiedlicher Hersteller beim Verbinden gegenseitig erkennen – ein Schritt hin zur Selbstkonfiguration.
Der Kombination von Spritzgießen und additiver Fertigung misst Technik-Chef Heinz Gaub bei Arburg naturgemäß große Bedeutung bei. Zum einen dient sie dazu, den Bedarf an kleinen Stückzahlen und Einzelteilen zu decken. Zum anderen ermöglicht sie es, spritzgegossene Großserienteile zu individualisieren – in der Medizintechnik etwa direkt vor Ort im Krankenhaus.
„Science Fiction“ nannten wir es früher, heute sagen wir Industrie 4.0 dazu – die Zukunft hat angefangen. •
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