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„Industrie 4.0 als Chance zum Know-how-Ausbau verstehen“

WZL- und IPT-Direktor Prof. Christian Brecher über die Zukunft der Werkzeugmaschine
„Industrie 4.0 als Chance zum Know-how-Ausbau verstehen“

Das Vernetzen von Prozessfolgen in der Produktion bietet erhebliche Vorteile, sagt Prof. Christian Brecher. Er ist Direktor des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnologie (IPT) und des Werkzeugmaschinenlabors (WZL) der RWTH Aachen.

Herr Prof. Brecher, mit Blick auf die Werkzeugmaschine 2020: Werden wir revolutionäre Neuerungen erleben oder bleibt´s bei einer evolutionären Entwicklung?

Um diese Frage zu beantworten, müssten wir zuerst klären, was eine Revolution kennzeichnet. Oft sind es vermeintlich unspektakuläre Entwicklungen, die einen großen Schritt bedeuten. Natürlich diskutieren wir auch im Werkzeugmaschinenbereich intensiv über die Auswirkungen von Industrie 4.0 – der so genannten vierten industriellen Revolution. Abgesehen davon denke ich, dass sich die Werkzeugmaschine systemisch eher evolutionär entwickelt. Sprunghafte Fortschritte erwarte ich bei der Bedienphilosophie, die sich zunehmend an Abläufen orientieren wird, die wir aus dem Consumerbereich kennen. Und auch beim Design wird sich noch einiges bewegen. DMG und Trumpf verfügen über gute Beispiele und haben bereits Akzente gesetzt.
Welche Möglichkeiten bietet Industrie 4.0 für die künftige Werkzeugmaschine?
Die Vernetzung von Prozessfolgen in der Produktion bietet in vielen Bereichen erhebliche Vorteile. So lassen sich Datensätze aus der Produktivphase zurückspiegeln und nutzen, um in der Entwicklung einer Maschine Prozesse oder Komponenten zu optimieren. Heute ist es noch aufwendig herauszufinden, welcher Zustand oder welches disziplinspezifische Problem zum Versagen geführt hat. Liegen Daten aus dem Lebenszyklus vor, könnten sich die Maschine und Aggregate selbst mitteilen. Zudem könnten die Prozessdaten helfen, Fertigungsabläufe beim Anwender zu optimieren, um auch brachliegende Kapazitäten auszuschöpfen.
Wie ist der aktuelle Entwicklungsstand?
Um dieses Thema konsequent anzugehen, müssten die Maschinen- und die Prozessdaten zu jeder Zeit transparent den Entwicklungsdaten zuzuordnen sein. Aber gerade im Bereich Condition Monitoring sehe ich mit einer gewissen Sorge, dass weitere Forschungen trotz guter Ansätze nicht gefördert wurden. Im Zusammenhang mit Industrie 4.0 erhoffe ich mir, dass die Förderträger die Bedeutung des Themas erkennen, denn das CM stellt die Basis für die vernetzten Informationen und ist damit noch lange nicht zu Ende gedacht.
Gehört die Fähigkeit der Systeme, sich selbst zu optimieren, auch in den Kontext?
Natürlich werden Vernetzung und Datentransparenz auch hier weitere Fortschritte ermöglichen. Sie sprechen den Echtzeitbetrieb der Automatisierungssysteme im Plug-and-Produce-Sinne an, bei dem noch steuerungstechnische Herausforderungen auf uns warten. Voraussetzung für das Heben der Potenziale ist die modelltechnische Beschreibung der Komponenten. Auf dieser Basis lassen sich Aspekte einer zielgerichteten Optimierung adressieren, die langfristig auch zu einer selbstoptimierenden Funktion führen können. In einigen Bereichen gibt es ja bereits Forschungsansätze. Von so genannten kognitiven Systemen, die eigenständig das Systemziel unterstützen und anhand der Modelle selbstständig Codes erstellen können, sind wir allerdings noch ein ganzes Stück entfernt. In Teilbereichen, etwa bei einfachen Handhabungsaufgaben, könnten solche Systeme früher angewendet werden.
Welche Bedeutung wird künftig der klassische Maschinenbau noch spielen?
Wenn wir von vernetzten Systemen sprechen, so ist eine solide mechanische Basis einer Maschine die Grundlage für den Erfolg. Ohne Kenntnis der mechanischen Eigenschaften kann man auch keine vernünftigen Algorithmen für die Genauigkeits- und Produktivitätssteigerung entwickeln.
Worauf müssen Entwickler von Fertigungsanlagen achten, damit diese den steigenden Anforderungen an Präzision oder Miniaturisierung weiterhin gewachsen sind?
Miniaturisierung, Präzision, Fünf-Achsen- und Komplettbearbeitung sind Themen, die uns schon eine ganze Weile begleiten. Hier ist der deutsche Maschinenbau auf einem guten Stand – aber die Konkurrenz schläft nicht. Um ihr weiterhin zwei Schritte voraus zu sein, muss die Entwicklung kontinuierlich weiter gehen und so ausgerichtet sein, dass der Prozess vollständig beherrscht werden kann. Ingenieure sollten gut überlegen, wie sich Know-how auch in Softwareform einbringen lässt.
Wird es zu einer weiteren Verfahrensintegration kommen?
Das ist eine Frage des Bauteils, das gefertigt werden soll, und der Stückzahl. Während es bei Prototypen, kleinen Losen oder individuellen Produkten durchaus Vorteile bietet, die Prozesskette zu verkürzen, kann es in der Serie sinnvoller sein, die Prozessschritte wieder zu trennen. Als spannend sehe ich die Integration eines Lasers oder eines Roboters in spanende Fertigungssysteme, wobei der Roboter über das Materialhandling hinaus eine Reihe von hauptzeitparallelen Folgeoperationen übernehmen kann – etwa Entgrat-, Stabilisierungs-, Füge- oder lokale Härteprozesse sowie Montageaufgaben. Als Ersatz für eine Werkzeugmaschine sehe ich den Roboter übrigens nicht.
Welche Entwicklungen sind im Bereich hybrider Systeme noch zu erwarten?
Am WZL und am IPT haben wir zahlreiche Laseranwendungen in Maschinen integriert und leiten in einem Fall den Strahl durch die rotierende Hauptspindel, an deren Ende er anstelle einer Schneide wirkt. Bei den Untersuchungen am Prototypen hat sich gezeigt, dass das erstaunlich gut funktioniert und bei bestimmten Operationen deutliche Vorteile bietet. Die Lösung robust in die Praxis zu bringen, ist eine gewisse Herausforderung.
Inwieweit lässt sich eine individualisierte Fertigung sinnvoll umsetzen?
Moderne generative Verfahren bieten hier gute Möglichkeiten. Wenn es gelingt, die Aufbauraten zu steigern, werden sie gegenüber etablierten Verfahren sicher noch stärker in den Fokus rücken. Trotzdem sollten auch individuelle Produkte so konzipiert sein, dass sie weitestgehend aus Baukästen standardisiert hergestellt werden können.
Welchen Einfluss haben moderne Werkstoffe auf künftige Maschinen?
Einen großen. Aber um das richtig umzusetzen, müssen Werkstoff- und Produktionstechniker noch viel enger kooperieren. Und zwar sowohl, was den Einsatz moderner Materialien und -verbünde als Konstruktionswerkstoff für Maschinenkomponenten angeht als auch mit Blick auf wirtschaftliche Bearbeitungsstrategien.
Welche Auswirkungen haben die beschriebenen Entwicklungen für deutsche Maschinenbauer?
Was die Technologie und die Präzision angeht, haben die deutschen Anbieter die Nase nach wie vor vorn. Aber die Konkurrenz schläft nicht. Gerade bei asiatischen Herstellern sehe ich eine Tendenz, in Deutschland Entwicklungszentren zu eröffnen, hier das Fachkräfteangebot zu nutzen und so zügig Know-how zu generieren. Für unsere Hersteller ist es umso wichtiger, softwaretechnisch und technologisch vorn zu bleiben. Hier bietet gerade auch Industrie 4.0 eine gute Plattform, um die eine oder andere unkonventionelle Lösung zu testen.
Was bedeutet das für die Anwender?
Der Erfolg eines Unternehmens steht und fällt mit der Qualifikation der Mitarbeiter. Deren Aus- und Weiterbildung ist enorm wichtig. Mit Schulungstagen ist es dabei vielfach nicht getan. Vor allem angesichts des demografischen Wandels sind hier langfristige arbeitsbegleitende Konzepte entscheidend. Sowohl das Betreiben einer Fabrik als auch das Planen der Prozesse und das Entwickeln montage- und fertigungsgerechter Werkstücke werden immer komplexer. Die Verantwortlichen müssen in der Lage sein, die Ergebnisse selbst abzuschätzen. Sich blind auf elektronische Hilfsmittel oder Simulationsergebnisse zu verlassen, ist fatal.
Welches sind die derzeit spannendsten Forschungsthemen am WZL und am IPT zum Thema Werkzeugmaschine?
Da gibt es viele interessante Themen. Zu den Leuchttürmen gehört sicher die virtuelle Abbildung des thermoelastischen Verhaltens von Werkzeugmaschinen und die Entwicklung entsprechender Korrekturalgorithmen sowie der Abgleich der virtuellen und der realen Welt etwa hinsichtlich des dynamischen Verhaltens – im Speziellen der Dämpfung – in einer Werkzeugmaschine. Außerdem schauen wir uns an, wo klassische Werkstoffe wie Guss oder Polymerbeton sinnvoll durch moderne Materialien wie Faserverbundstoffe oder hybride Werkstoffverbünde zu ersetzen sind. Andererseits vernachlässigen wir auch die klassischen Themen nicht. So arbeiten wir beispielsweise an alternativen Lösungen für Spindellager, die bei der Hochleistungszerspanung Vorteile bringen. Das sind neben den IT-Themen nur einige Projekte, um die Genauigkeits- und Produktivitätssteigerung von Maschinen voranzutreiben.
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