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Kognitives Teaming von Mensch und cyberphysischen Produktionssystemen

Kognitives Teaming von Mensch und cyberphysischen Produktionssystemen
Menschzentrierte Industrie 4.0

Wie arbeiten Menschen mit Maschinen zusammen? Wie können digitale Helfer in der Fabrik unterstützen, ohne durch ihre Komplexität zu überfordern? Solchen Fragen untersucht ein Forscherteam am IWU. Das Ziel: Aus dem Nebeneinander von Mensch und Technik soll ein echtes Miteinander werden. Dadurch lassen sich noch erhebliche Effizienzpotenziale heben.

Kognitionspsychologie beschäftigt sich mit Aspekten menschlichen Denkens und Verhaltens etwa von Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Entscheiden. Sie erforscht, wie sensorische Informationen verarbeitet und zu Wissenseinheiten werden und wie dieses Expertenwissen die Interpretation von Informationen und spätere Entscheidungen beeinflusst. Kognitionspsychologie untersucht auch, wie der Mensch komplexe Probleme dank kreativer Strategien löst und Komplexität sinnvoll reduzieren kann.

Vermeintliche Schwäche des Menschen ist eine Stärke

Eine vermeintliche Schwäche des Menschen bei drohender Überforderung ist tatsächlich eine große Stärke – er reflektiert die Situation, stellt sie in einen größeren Zusammenhang und greift auf Erfahrungswissen zurück. Ein wichtiger Anwendungsbereich der gewonnenen Erkenntnisse liegt in der modernen Produktionstechnik. Wie das Zusammenspiel von Mensch und Technik künftig noch wertschöpfender gestaltet werden kann, ist der Schwerpunkt einer neuen Arbeitsgruppe am Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik (IWU ) in Chemnitz.

Technik an den Menschen anpassen, nicht umgekehrt

Seit April 2023 leitet Dr. Franziska Bocklisch am IWU die neue Gruppe „Kognitives Teaming von Mensch und cyberphysischen Produktionssystemen“ in der Abteilung „Mensch in der Produktion“. Sie betont: „In der technischen Entwicklung, wie auch in der betrieblichen Umsetzung sollte der Mensch mit seiner Expertise und seinen Bedürfnissen im Vordergrund stehen. Unser Ansatz ist, cyberphysische Systeme an die kognitiven Fähigkeiten des Menschen anzupassen – und nicht umgekehrt“.

Wechselseitiges Coaching

Viele Innovationen in Robotik, Künstlicher Intelligenz (KI), Data Analytics oder in Visualisierungstechnologien prägen die moderne industrielle Produktion. KI ist präzise und wiederholgenau – dank beeindruckender Rechenleistung kann sie mit riesigen Datenmengen umgehen. Gleichzeitig haben leistungsfähige Assistenzsysteme die Komplexität menschlicher Arbeit in der Produktion mitunter sogar erhöht. Der Anspruch, dass Technik den Menschen optimal unterstützen und ihm mehr Freiraum für wertschöpfende Kreativität ermöglichen soll, ist also noch nicht vollständig eingelöst.

Teamarbeit – geteiltes Wissen und gemeinsame Ziele

Das neue Team am IWU setzt zwar weiterhin auf die Kombination der jeweiligen Stärken von Mensch und Technik, betont jedoch den Team-Gedanken als Voraussetzung für einen weiteren Qualitätshub. Zwei wesentliche Kennzeichen von Teamarbeit sind geteiltes Wissen und gemeinsame Ziele. Leicht verständliche KI-Algorithmen, die zur Struktur des menschlichen Fachwissens und der Vorgehensweise von Experten in einem bestimmten Fachgebiet passen, können zu echten „Cyber-Gehilfen“ werden. In einer Art wechselseitigem Coaching zeigt die Technik dem Menschen, wie sich eine Aufgabenstellung noch besser lösen lässt, etwa durch den Rückgriff auf gut strukturierte, relevante Daten, die ein Assistenzsystem bereitstellt. Umgekehrt könnten Mitarbeitende beispielsweise eine KI-Lösung, die noch nicht alle Entscheidungsoptionen kennt, stabiler machen.

Technik vom Menschen her denken

Nimmt man den Anspruch ernst, Assistenzsysteme vom Menschen her zu denken, darf die Kernfrage nicht lauten, was technisch möglich ist, sondern: was kann der Mensch gut verarbeiten und welche Lösung bietet ihm eine tatsächliche Hilfestellung?

Um auf das Beispiel KI zurückzukommen: Bei großen Stückzahlen steht der Einrichtungs- und Anpassungsaufwand von KI-Lösungen in einem angemessenen Verhältnis zur Unterstützungsleistung für Mitarbeitende. Wechseln die Produkte häufig, ist der Wartungsaufwand im Vergleich sehr hoch. Mitunter zu hoch, wenn zusätzlich eine Rückfalllösung für den Systemausfall benötigt wird. Erfahrene Entscheider und Anwender wissen: auch eine noch so gute KI-Lösung ist nicht fehlerfrei; wer ihre Funktionsweise versteht, kann sie umso nutzenbringender einsetzen.

Erfahrungswissen verfügbar machen

Zu komplexe Systeme erschweren das Anlernen und Einarbeiten neuer Mitarbeitender. Sinnvoll entwickelt und eingesetzt, unterstützen intelligente Systeme hingegen bei der Sicherung von Kompetenzen und dem Transfer von Erfahrungswissen. Vielversprechend sind beispielsweise erste Forschungsergebnisse zur Beobachtung von Fertigungsprozessen durch erfahrene Mitarbeitende. Die Auswertung ermöglicht gezieltes Nachfragen und damit Prozessbeschreibungen in einer viel höheren Qualität – gerade, wenn es darum geht, neuen Mitarbeitenden zu vermitteln, worauf es ankommt.

Technik lernt vom Menschen

Die Forschenden am Fraunhofer IWU haben dazu das Roboter-Rollformen, einen für kleine Stückzahlen geeigneten, mehrstufigen Umformprozess von Blechen, beobachtet und systematisch auf verschiedenen Ebenen beschrieben. Ein Eye-Tracker folgte dabei den Blicken der technischen Experten und übertrug sie auf ein Tablet. Eine Aufzeichnung und Detailauswertung der menschlichen Blickdaten ermöglichte dann gezieltes Nachfragen, aus welchen Gründen ein jeweiliger Prozessabschnitt ausgeführt wurde und warum bestimmte Aspekte besondere Aufmerksamkeit erfuhren. Das lieferte wichtige Ansatzpunkte, kognitive Assistenzsysteme und zielführende Automatisierungslösungen zu erstellen.

In einem weiteren Projekt an der TU Chemnitz untersuchte die Forschungsgruppe „Human-Cyber-Physical Systems“, wie Mensch und KI in einem thermischen Beschichtungsprozess gemeinsame Ziele erreichen und geteiltes Wissen erlangen können, damit die Oberflächenqualität stimmt und dennoch möglichst wenig Material verbraucht wird.

Technik bereitet Daten übersichtlich auf

Die zahlreichen Einstellmöglichkeiten einer komplexen Anlage und die vielfältigen Qualitätsziele, die sich manchmal auch widersprechen, modellierte das Team im Einklang mit menschlichem Fachwissen. Der menschliche Entscheidungsprozess wird in dieser Vorgehensweise berücksichtigt, passgenau ergänzt und nicht ersetzt. Da die KI-Modellierung komplexe Muster in den hochaufgelösten technischen Prozessdaten für den Menschen gut verständlich zur Verfügung stellen kann, ist bereits der erste wesentliche Schritt in Richtung „Teampartner“ gelungen.

Das Fraunhofer IWU und die Fakultät für Maschinenbau an der TU Chemnitz arbeiten seit vielen Jahren erfolgreich in zahlreichen Forschungsprojekten zusammen. Im Sinne einer vertieften Kooperation leitet Franziska Bocklisch weiterhin an der Professur Werkstoff- und Oberflächentechnik die Gruppe “Human-Cyber-Physical Systems“ und trägt dort zur Profillinie “Human-Machine-Teaming“ der Fakultät für Maschinenbau bei. Ein echtes Teaming von Mensch und Produktionssystemen in Grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung voranzutreiben und Studierende bestmöglich auf dieses Arbeitsfeld vorzubereiten, ist gemeinsamer Ansporn beider Forschungseinrichtungen. Denn breite Akzeptanz für innovative technische Lösungen sichert ihren wertschöpfenden Einsatz – und nachhaltigen Mehrwert.

Es ist wichtig, den Teaming-Gedanken für ein besseres Miteinander von Mensch und Technik breit zu verankern. In der betrieblichen Praxis steht nur selten kognitionspychologische Expertise zur Verfügung – das muss auch nicht sein, wenn Wissenschaft und Industrie transdisziplinär und institutionsübergreifend zusammenarbeiten und beispielsweise bereits Studierende sensibilisiert werden, Technik stärker aus der Perspektive des Menschen zu gestalten. (mw)

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