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Blechteilebeschaffung: Von der Plattform zum Ökosystem

Blechteilebeschaffung
Strukturen entwickeln sich von der Plattform zum Ökosystem

Strukturen entwickeln sich von der Plattform zum Ökosystem
Die nächste Runde der digitalen Transformation der Produktion ist eingeleitet – die Plattformökonomie entwickelt sich hin zu Ökosystemen. Bild: Gorodenkoff/stock.adobe.com
Digitale Ökosysteme sind der nächste Schritt in der Transformation zur digitalisierten Fertigung. Ausgehend von Plattformen entstehen neue Strukturen und neue Geschäftsmodelle für die Beschaffung von Zeichnungsteilen, auch für Blechteile.

» Volker Albrecht, Fachjournalist in Bamberg

Seit der Vorstellung des Konzepts Industrie 4.0 hat sich in der Industrie viel getan. Die Automatisierung der Produktionssysteme einerseits und die digitale Vernetzung der Maschinen andererseits wurden vorangetrieben. In vielen Betrieben ist das Erfassen vielfältiger Daten rund um die Produktionsprozesse, Betriebs- und Maschinenzustände oder die Rahmenbedingungen Standard. Die Daten stehen in Echtzeit bereit, werden aber oft nur zum Teil genutzt. So sind die meisten Fertigungsbetriebe zwar noch nicht zur durchdigitalisierten Smart Factory mutiert, aber sie sind vorbereitet für die weiteren Entwicklungen der digitalen Transformation. Und die geht in Richtung Vernetzung in globalen, digitalen Ökosystemen respektive Produktions-Ökosystemen.

Mit den im Jahr 2021 vorgestellten Entwicklungen im „Projekt Industrie 4.0“ stehen Basistechnologien von Industrie 4.0, insbesondere der digitale Zwilling, die dazu erforderliche Datenstruktur der Verwaltungsschale sowie die europäische Daten-Cloud Gaia-X, vor der Anwendung in industriellen Kernbranchen.

Kooperation in digitalen Ökosystemen

Ein digitales Ökosystem definieren Dr. Matthias Naab und Dr. Marcus Trapp vom Fraunhofer IESE als ein sozio-technisches System, in dem voneinander unabhängige Unternehmen und Menschen kooperieren und kollaborieren. Dabei sollten Community-basierte Ökosysteme ohne kommerziellen Hintergrund und kommerzielle plattformbasierte Ökosystemen unterschieden werden.

Kommerzielle digitale Ökosysteme entstehen rund um eine digitale Plattform, die über diverse Dienste die Zusammenarbeit der Teilnehmer unterstützt. Diese Systeme adressieren Bedürfnisse potenzieller Kunden, die erst durch die Zusammenarbeit mehrerer Partner befriedigt werden können. Der Gesamtnutzen ergibt sich aus der Kombination der vermittelnden digitalen Plattform und den interagierenden Systempartnern, was zu Netzwerkeffekten führt. Die Einbindung in ein solches digitales Netzwerk erfordert von den teilnehmenden Unternehmen eine Abkehr von traditionellen Geschäftsmodellen, die sich vor allem durch den Schutz des Know-hows und der Kernkompetenzen auszeichnen. In digitalen Ökosystemen werden Daten, Wissen und auch Aufträge geteilt und zum Teil zentrale Geschäftsaktivitäten wie etwa die Kundenakquise und die Kundenbetreuung oder die Rechnungsstellung an die Plattform übertragen. Bekannte Beispiele für digitale Ökosysteme im B2C-Bereich sind Flixbus, Airbnb oder Uber. Die jeweiligen Plattformbetreiber konzentrieren sich hierbei auf das digitale, automatisierte Vermitteln von Dienstleistungen über das Internet, ohne dabei einen einzigen Bus, ein Hotel oder ein Fahrzeug zu besitzen.

Algorithmen finden passende Lieferanten

In Anlehnung an diese Modelle sind im Beschaffungsmarkt für Blech-, Dreh- und Frästeile sowie beispielsweise den 3D-Druck ähnliche Plattformen mit Anzeichen digitaler Ökosysteme entstanden. Im einfachsten Fall handelt es sich um Marktplätze, in denen Auftraggeber über Suchkriterien geeignete Lieferanten finden, Anfragen verschicken und Angebote einholen können. Verfeinerte Versionen dieser Marktplätze verfügen über Maschinendaten der Lieferanten und können so über spezielle Algorithmen automatisch zu einem Auftrag die Lieferanten herausfiltern, die über die entsprechende Fertigungsausrüstung verfügen. Das kann soweit gehen, dass die Maschinen der Lieferanten –wie beispielsweise beim Plattformbetreiber V-Industry – per Hardware-Konnektierung an die Plattform angebunden sind. Zielgenau erkennen entsprechend programmierte Algorithmen dann anhand aktueller Maschinendaten, welcher Auftrag zu welchem Termin bei welchem Fertiger bearbeitet werden kann. Die Auftragsmodalitäten handeln die Protagonisten dabei direkt aus.

Cloud-Manufacturing oder Manufacturing-as-a-Service

Anders handhaben es Fertigungsplattformen wie beispielsweise Laserhub oder Kreatize, die sich nach den Prinzipien des 2009 von Prof. Bo Hu Li und Prof. Lin Zhang erstmals vorgestellten Cloud-Manufacturing oder des Manufacturing-as-a-Service organisieren. Hinter diesen Fertigungsplattformen steht auf der einen Seite ein Netzwerk-geprüftes selbständiges Fertigungsunternehmen, dessen Maschinen mit der Plattform vernetzt sind – sozusagen über eine Art digitaler Zwilling. Bei einer Anfrage prüfen Algorithmen auf Basis der hochgeladenen CAD-Teilezeichnung innerhalb von Minuten die Machbarkeit des Bauteils, kalkulieren ein Angebot und ermitteln mögliche Lieferanten und Liefertermine. Wird das Angebot angenommen, bereitet die Plattform die Auftragsdaten fertigungsgerecht auf und schickt sie zum ausgewählten Fertigungsunternehmen. Die eingesetzte Quoting-Software ermittelt den Preis nicht nach Angebot-Nachfrage-Kriterien, sondern errechnet ihn nutzungsorientiert nach den vom Plattformbetreiber mit den Fertigern abgestimmten Aspekten.

Plattform-Betreiber mit unterschiedlichen Geschäftsmodellen

Bei dieser Form des Cloud-Manufacturing verfolgen die Betreiber unterschiedliche Geschäftsmodelle. Zum einen treten sie auf Kundenseite als Auftragnehmer und auf Lieferantenseite als Auftraggeber auf. In diesem Fall übernehmen die Plattformalgorithmen alle administrativen Aufgaben von der Terminverfolgung, Organisation der Logistik bis zur Rechnungsstellung und Reklamationsbearbeitung. Kunde und Fertigungsunternehmen kommen nicht in Kontakt. Zum anderen treten einige Plattformen als reine Vermittler auf und bieten innerhalb ihres Ökosystems Cloud-Dienste für spezielle administrative Leistungen.

Ihre Umsätze erwirtschaften die Plattformen durch monatliche Pauschalbeträge für die Plattformnutzung, durch Provisionen je Auftrag oder aus der Differenz zwischen Einkaufs- und Verkaufspreis.

Das Geschäftsmodell basiert darauf, dass alle administrativen Vorgänge rund um einen Fertigungsauftrag weitgehend digital und automatisch abgearbeitet werden. Bei Bedarf binden die cloudbasierten Plattformen weitere Cloud-Dienste ein, wie beispielsweise die CAD-Software Onshape. Auch für die Machbarkeitsprüfung, die Angebotserstellung oder für KI-gestützte Datenauswertungen setzen die Plattformbetreiber auf Cloud-Services.

Neue Ansätze in der Forschung

Die Cloud-Manufacturing-Plattformen zeigen, wie in Industrie 4.0 – neben den Produkten – digitale Dienstleistungen und Services für die Wertschöpfung an Bedeutung gewinnen. Das gilt aber nicht nur auf der Beschaffungsseite, sondern auch auf der Produktionsseite. Dort entstehen auf der Basis des digitalen Zwillings der Fertigungsanlagen Produktions-Ökosysteme, die über Fabrik- und Unternehmensgrenzen hinweg Produktionssysteme vernetzen. Plattformdienste sollen es dort dereinst mithilfe künstlicher Intelligenz ermöglichen, Produktionsprozesse innerhalb des Ökosystems über Unternehmensgrenzen hinweg zu organisieren und zu steuern.

Tatsächlich stehen derartige Produktions-Ökosysteme noch am Anfang, entsprechend laufen zahlreiche Forschungsprojekte, die die Möglichkeiten des Konzepts ausloten. So arbeiten beispielsweise die Ipri gGmbH und das IPH-Stuttgart im BMWi-Projekt KapShare an einer Plattform, über die KMU Nachfrageschwankungen im Markt ausgleichen können, indem sie ihre Produktionskapazitäten anderen Firmen zur Verfügung stellen. Die Plattform soll die freien Produktionskapazitäten dann per Algorithmus vermitteln.

Intelligentes Netzwerk optimiert Kapazitätsauslastung

Im Forschungsprojekt Smart Factory Web, das vom Fraunhofer IOSB durchgeführt wurde, geht es um ein Netzwerk intelligenter Fabriken, mit dem die beteiligten Firmen ihre Auftragserfüllung verbessern. In diesem Ökosystem sollen Cloud-Services die Gesamtkapazitäten optimieren, indem sie über Produktionsstätten hinweg Fertigungsfähigkeiten anpassen und Ressourcen, Assets und Inventar teilen. Das Smart Factory Web bietet die technische Basis für neue Geschäftsmodelle, die einen flexiblen Einsatz von Produktionsressourcen über Standorte hinweg nutzen wollen. Das Forschungsprojekt zeigt zudem auf, welche industriellen Standards wie OPC UA und AutomationML solche Ökosysteme für die Fabrik-zu-Fabrik-Interoperabilität nutzen sollten. Solche Standard-Schnittstellen sind wichtig, wenn Unternehmen entweder das Ökosystem wechseln oder mit mehreren Ökosystem parallel arbeiten wollen.

Produktionsökosystem in der Praxis

Ein reales digitales Produktions-Ökosystem ist bei Mercedes Benz jüngst mit dem Mercedes-Benz Cars Operations 360 (MO360) in der neuen Factory 56 in Sindelfingen aktiv geschaltet worden. Das System integriert Informationen über die wichtigsten Produktionsprozesse und IT-Systeme aus mehr als 30 Mercedes-Benz-Pkw-Werken weltweit. Mit MO360 wird etwa die auf Kennzahlen basierende Produktionssteuerung optimiert. Ein praktischer Aspekt: MO360 stellt in Echtzeit jedem Mitarbeiter bedarfsgerechte Informationen und Arbeitsanweisungen bereit.

Investoren setzen auf diese Modelle

In der produzierenden Industrie wird aktuell über Plattformen und Ökosystem nur ein geringer Anteil am Gesamtumsatz erzielt. Viele fertigende Unternehmen, vor allem KMU, stehen nach einer Bitkom-Befragung den digitalen Plattformen und Ökosystemen kritisch gegenüber. Investoren indes setzen auf deren Zukunftsfähigkeit und haben die Gründer in den letzten Jahren mit Millionenbeträgen ausgestattet. Die danken es mit Wachstumsraten von mehreren hundert Prozent im Jahr und einer schnellen Weiterentwicklung der Plattformen.

Insgesamt kommen die digitalen Ökosysteme dem Bedarf der Verbraucher nach individualisierten Produkten entgegen. Gerade junge Unternehmen mit kreativen Produktideen, die nicht auf Massenproduktion zielen, bietet das Cloud-Manufacturing in digitalen Ökosystemen erhebliche Vorteile, wie die zahlreichen Anwenderberichte auf den Websites der Plattformen zeigen. Diesen Unternehmen bieten die Ökosysteme einen schnellen und einfachen Zugriff auf Fertigungskapazitäten, ohne dabei in Maschinen investieren oder Fertigungswissen aufbauen zu müssen. Letztlich geht die Vision dahin, alle Teile einer Konstruktion über verteilte Fertiger in digitalen Ökosystemen fertigen zu lassen. Selbst die Montage der einzelnen Bauteile zum fertigen Produkt könnte auf diese Weise ausgelagert werden. Zudem sammeln die Plattformen in diesen Ökosystemen Daten über Aufträge und Produktionssysteme. Von Cloud-Diensten angebotene KI-gestützte Auswertungen erlauben dann beispielsweise Vorhersagen im Hinblick auf kommende Bedarfe. Indem sehr flexibel innerhalb des Produktions-Ökosystem nur das produziert wird, was tatsächlich im Markt abgesetzt werden kann, können diese Netzwerke in Zukunft zudem zur Ressourcenschonung beitragen.

Marktanteil wird in den kommenden Jahren deutlich wachsen

Experten erwarten bis 2025 ein Anwachsen des Marktanteils des Cloud-Manufacturings auf rund 35 % weltweit. Das sollten Fertigungsunternehmen – auch in der Blechbearbeitung – im Auge behalten, wenn es darum geht, ihre traditionellen Geschäftsmodelle auszubauen. Bekannte Kunden-Lieferanten-Beziehungen werden zwar auch weiterhin bestehen. Die Zeit für den Einstieg in die Plattformökonomie allerdings ist derzeit günstig. Der Aufbau von Webshops alleine reicht künftig nicht mehr.

Kontakt:
Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering IESE
Fraunhofer-Platz 1
67663 Kaiserslautern
Telefon +49 631 6800–2296
info@iese.fraunhofer.de
www.iese.fraunhofer.de

Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung IOSB
Fraunhoferstraße 1
76131 Karlsruhe
Tel.: +49 721 6091–0
info@iosb.fraunhofer.de
www.iosb.fraunhofer.de

Dimensionen der digitalen Fabrik.
Bild: Roland Berger
Smart Factory Web ist ein Testbed für ein Netzwerk intelligenter Fabriken, die ihre Gesamtproduktivität verbessern wollen. Gleichzeitig zeigt es die Standards, wie etwa OPC UA, die Plattformen nutzen sollten.
Bild: Fraunhofer IOSB
Die Plattform Industrie 4.0 hat sie in diesem Sommer freigeschaltet: die Industrie-4.0-Verwaltungsschale und ihre Einsatzmöglichkeiten.
Bild: Plattform Industrie 4.0

Mona Willrett, Redakteurin Industrieanzeiger
Bild: Tom Oettle

Die Zeit ist reif

Beschaffungsplattformen bieten den Anbietern und den Abnehmern – nicht nur von Blechteilen – interessante Möglichkeiten. Ihre Strukturen entwickeln sich zunehmend in Richtung digitaler Ökosysteme. Fertigungsbetriebe sollten diese schnell wachsenden Kooperations- und Vertriebskanäle nicht ignorieren. Die Zeit ist reif, sich mit ihrer Hilfe zukunftsfähig aufzustellen – ohne sich jedoch in eine zu große Abhängigkeit von einzelnen Partnern zu begeben. Zumindest sollten sich Fertiger bei geplanten Investitionen gut überlegen, welche Ausstattungen und Schnittstellen nötig sind, um einem solchen Netzwerk erfolgreich beitreten zu können.

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