Die Leiterin des Instituts für Informationsmanagement im Ingenieurwesen an der KIT-Fakultät für Maschinenbau, Professorin Jivka Ovtcharova, forscht zu menschzentrierten Ingenieurmethoden und -prozessen, mit denen immer größere Datenmengen in Produktlebenszyklen bis hin zu einem „Digital Ecosystem“ intelligent und transparent handhabbar werden. Für eine nachhaltige Produktentwicklung ergeben sich daraus aussichtsreiche Ansätze.
Interview: Nico Schröder, Korrespondent Industrieanzeiger Augsburg
Inhaltsverzeichnis
1. KI-Einsatz in der nachhaltigen Produktentwicklung
2. Nachhaltigkeit und eine transparente Produktkennzeichnung
3. Menschen im Mittelpunkt: menschenzentrierte Ingenieurmethoden
4. Wechselwirkungen von Ökologie, Ökonomie und Globalisierung
5. Virtual Engineering und die Bedeutung des digitalen Zwillings
Frau Prof. Ovtcharova, welchen Anteil kann der Maschinen- und Anlagenbau beisteuern, um den Herausforderungen des Klimawandels noch angemessen zu begegnen?
Die Herausforderungen des Klimawandels haben weit mehr mit der globalen und sozialen Transformation als mit der technischen Transformation zu tun. Der Maschinen- und Anlagenbau kann den Herausforderungen des Klimawandels dadurch begegnen, dass mehr und mehr klimaneutral und regional beziehungsweise lokal produziert wird. Die Globalisierung als Modell der 70-er Jahre ist nicht mehr tragbar.
Die Lösung besteht in der Implementierung regionaler digitaler Ecosysteme. Die Analogie zu einem „Ökosystem“ beschreibt eine Gemeinschaft heterogener Akteure, die zwar nur lose miteinander verbunden sind, deren Erfolg aber direkt voneinander abhängt. Digitale Ecosysteme bauen auf Geschäftsmodelle auf, die eine Umgebung abbilden, in der Wertschöpfung entsteht. Ecosysteme können von IoT-Plattformen getragen werden. Ein Anbieter agiert typischerweise als Teil eines Ecosystems. Hybride Leistungen können kaum durch einzelne Akteure realisiert werden.
KI-Einsatz in der nachhaltigen Produktentwicklung
Sehen Sie bestimmte Technologie-Bereiche im Maschinen- und Anlagenbau mit besonders großem Potenzial?
Eine nachhaltige Produktentwicklung wird in Zukunft nur unter Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) möglich sein. Anders als der heutige Stand der Industrialisierung mittels Maschinen, automatisierter Prozessabläufe und IT-Systemen wird das Herzstück der digitalen Transformation inklusive Industrie 4.0 in deren „selbstbestimmten“ oder „intelligenten“ Einsatz durch Echtzeitvernetzung über das Internet gesehen. Grundvoraussetzung dafür ist das Vorhandensein von IT-Infrastrukturen und in Echtzeit verfügbaren Informationen.
Es besteht allgemeiner Konsens darüber, dass man große natürliche und technische Systeme sowie den Menschen, der als das komplexeste aller Systeme gilt, nicht vollständig mit Zahlen darstellen kann. Ein wissenschaftlich fundiertes Ziel besteht daher darin, nützliche Darstellungen solcher Systeme zu erstellen und dann aus dem zu lernen, was in der Technologie, der KI, dem Menschen und der Natur gemessen werden kann.
Nachhaltigkeit und eine transparente Produktkennzeichnung
Wie lassen sich nachhaltig entwickelte Produkte kennzeichnen beziehungsweise welche Möglichkeiten werden aktuell verfolgt, um Nachhaltigkeit von der Entwicklung bis zum Gebrauch transparent dokumentieren zu können?
Zusätzlich zum traditionellen PLM-Einsatz – Stichworte „Produktlebenszyklus“ oder „End-to-End-Life“ – arbeiten wir heute an Modellen der zirkulären Wertschöpfung. Stichworte dabei sind „Circular Economy“ und „geschlossene Kreisläufe“. Ziel ist es hier, Abfälle im Sinne „0-Defect“ zu vermeiden. Auch die Wieder- und Weiterverwendung spielt eine große Rolle, und zwar mit der erneuten Nutzung von gebrauchten Produkten oder Produktteilen für denselben oder einen anderen Verwendungszweck wie zuvor unter Nutzung ihrer Gestalt – ohne beziehungsweise mit beschränkter Veränderung des Produkts [VDI 2243].
Birgt nachhaltige Produktentwicklung die Chance, ein USP des Maschinen- und Anlagenbaus am Engineering-Standort Deutschland zu sein oder zumindest dessen Innovationsfähigkeit widerzuspiegeln?
Ein USP Deutschlands als rohstoffarmes Ingenieurland sehe ich in der flächendeckenden Umsetzung digitaler Zwillinge. Sie sind die digitale Darstellung von realen Einheiten und Prozessen, die mit einer bestimmten Genauigkeit und Frequenz synchronisiert werden. Zielsetzung ist die nachhaltige Operationalisierung entlang der Wertschöpfungsketten und das ganzheitliche Verständnis, optimale Entscheidungsfindung und effektives Handeln zu beschleunigen. Ein digitaler Zwilling umfasst Teilsysteme, die die Funktionen des digitalen Zwillingssystems umsetzen. IT/OT-Systeme implementieren und verwenden Echtzeit- und historische Daten, um die Vergangenheit und Gegenwart darzustellen und die Zukunft vorausschauend zu simulieren.
KIT-Professorin Jivka Ovtcharova: „Ein USP Deutschlands als rohstoffarmes Ingenieurland sehe ich in der flächendeckenden Umsetzung digitaler Zwillinge.“
Menschen im Mittelpunkt: menschenzentrierte Ingenieurmethoden
Sie forschen zu menschzentrierten Ingenieurmethoden. Wie sieht das praktisch aus?
Ich forsche interdisziplinär, und zwar an der Schnittstelle zwischen Maschinenbau, Informatik, Elektronik, Elektrotechnik und natürlich Wirtschaftsingenieurwesen. Das heißt, einerseits sind für uns Aspekte der Wirtschaftlichkeitsanalysen wichtig, andererseits bedeutet es, dass wir unsere Kompetenzen zu neuartigen Ingenieurmethoden, unter anderem unter dem Einsatz von virtueller und erweiterter Realität (VR/AR) sehr stark einbringen, womit der Mensch automatisch in den Mittelpunkt tritt. Egal, ob das Produkte oder Anlagen sind – deren ganze Umgebung, die wir Szene nennen – sieht man aus der eigenen Perspektive. Wir sprechen hier über eine imaginäre Kameraposition, mit der ein Mensch aus einer bestimmten Position heraus und unter einem bestimmten persönlichen Blickwinkel sieht.
Fragen dazu, wie jemand auf ein Produkt oder Anlage schaut, berücksichtigen also im besonderen Maße, welche individuellen Fähigkeiten Menschen mitbringen?
Fähigkeiten, Vorkenntnisse und Erfahrungen fließen mit ein. Das heißt, der Mensch bringt sich bei der Interaktion mit Anlagen und Produkten mit dem ein, was er genau weiß und kann. Wir befinden uns forschungsseitig in einer neuen Phase, wo wir nicht einfach sagen, etwas ist ein Produkt oder eine Anlage, sondern wir verbinden tatsächlich immer Fragen zur Usability mit einem Produkt oder einer Anlage. Die Verbindung des Produktes steht nicht einfach abstrakt im Raum, sondern das Produkt ist umgeben von einer Außenwelt, wo Menschen mit den Produkten interagieren – auch im Verfolgen verschiedener Ziele. Dieser Aktionsraum beeinflusst das Produkt. Und ganz klar gesagt: Tatsächlich geht es um Wechselwirkungen, um gegenseitige Beeinflussung von Objekten und deren Nutzung.
Wechselwirkungen von Ökologie, Ökonomie und Globalisierung
Wie ist Ihre Perspektive, mit der Sie auf den Themenkomplex zu nachhaltiger Produktentwicklung blicken?
Zunächst einmal verstehen wir unter Produktentwicklung einen interdisziplinären Unternehmensprozess zur Gestaltung eines marktfähigen Produkts, basierend auf der Definition initialer Ziele und Anforderungen an das Produkt, die im Lauf des Prozesses kontinuierlich weiterentwickelt und iterativ angepasst werden [VDI 2221].
Eine nachhaltige Produktentwicklung entsteht nur, wenn man die Wechselwirkungen von Ökologie im Sinne des Klimawandels, Ökonomie im Sinne der digitalen Technologien und Geschäftsmodelle sowie Soziales im Sinne der Informations- und Wissensgesellschaft, von Globalisierung oder Mobilität zugrunde legt. Diese sind wiederum nur im Rahmen eines Systems abbildbar.
Aufgrund der steigenden Interdisziplinarität und Komplexität moderner Produkte – beispielsweise im Sinne von Produkt-Service-Systemen oder hybriden Leistungsbündeln – werden diese mehr und mehr als sogenannte System of Systems (SoS) konzipiert, um eingesetzte Technologien, Systeme und Komponenten besser miteinander zu vernetzten. Eine zunehmende Bedeutung bekommt hierbei das Model-Based Systems Engineering (MBSE), dass sich als Ziel setzt, die funktionalen Zusammenhänge innerhalb eines Systems oder eines SoS mithilfe formaler Modelle zu beschreiben, zu entwerfen, und zu analysieren. Eine zentrale Herausforderung ist unumstritten die erforderliche Kollaboration einzelner Disziplinen wie dem Maschinenbau, der Elektrotechnik oder der Informatik. Parallel zum Systems Engineering entwickeln sich kontinuierlich weitere neuartige Ansätze, die sowohl Arbeitsmethoden wie Agilität als auch IT-Lösungen wie KI-Algorithmen in 3D CAD/CAE maßgeblich beeinflussen.
Welche neuen Modellierungsmethoden und Kollaborationswerkzeuge setzt eine nachhaltige Produktentwicklung voraus, die die Menschen in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt?
Der Übergang zum „Mensch im Mittelpunkt der Betrachtung“ setzt heutzutage neue Modellierungsmethoden und Kollaborationswerkzeuge voraus, die unter dem Begriff Virtual Engineering (VE) zusammengefasst werden und ein grundlegend verändertes Verständnis der menschlichen Möglichkeiten und Bedürfnisse im Umgang mit den digitalen Technologien erfordert.
So bietet das Virtual Engineering eine personalisierte Sicht auf Produkte und Dienstleistungen im gesamten Produktlebenszyklus und ermöglicht unterschiedlichen Benutzergruppen – unter anderem Entwicklern, Lieferanten, Herstellern und Kunden – gleichermaßen, physisch noch nichtexistierende Produkte rein virtuell zu handhaben und ihre Eigenschaften und Funktionen realitätsnah und ganzheitlich zu beurteilen.
Virtual Engineering und die Bedeutung des digitalen Zwillings
Was genau ermöglicht Virtual Engineering in dem Zusammenhang?
Hier bietet das Virtual Engineering die Möglichkeit an, unter anderem digitale Zwillinge einzusetzen. Unter dem Begriff „digitaler Zwilling oder Digital Twin (DT)“ wird eine Modellbildung verstanden, mit der Produkte sowie Maschinen, Anlagen und ihre Komponenten einheitlich modelliert werden, und zwar einschließlich sämtlicher Geometrie-, Kinematik- und Fertigungsdaten. Im Ingenieurumfeld ist ein digitaler Zwilling das Abbild eines physischen Gegenstandes, um den optimalen Betrieb mittels Simulationen zu verbessern. Anders als ein Digitaler Mock-Up, der für spezifische Entwicklungszwecke eingesetzt wird, stellt der DT ein ganzheitliches Abbild eines realen Gegenstands dar – von der Produktentwicklung bis hin zur Wartung und Entsorgung. Der digitale Zwilling wird durch die Struktur und das Verhalten von Komponenten beschrieben, die Echtzeitdaten erzeugen. Diese Daten werden normalerweise in der Cloud oder Edge analysiert und mit anderen Daten vernetzt, die sich auf die laufende Umgebung um sie herum beziehen. Sie werden dann dem Benutzer aus verschiedenen Perspektiven präsentiert, damit er ihren Status remote verstehen kann.
Für den modernen Maschinen- und Anlagenbau gilt das, was auch für andere Branchen aktuell gilt: IoT- und KI-fähig zu werden. Wo sehen Sie Besonderheiten?
Das Besondere daran ist, dass Ingenieurdaten aufgrund verschiedener Quellen und Datenformate nicht einheitlich sind, sowie diese für das maschinelle Lernen (ML) ohne Vorbereitung nicht nutzbar sind. So sind die Mehrzahl der ML-Methoden heute auf die Auswertung von Internetdaten zugeschnitten und können nicht direkt auf Systeme der realen Welt übertragen werden.
Und zu beachten sind drei wesentliche Aspekte: die Abbildung der Netzwerkstruktur (System of Systems), die Abbildung der Datenströme von verschiedenen Arten von Sensoren sowie die Entscheidungsfindung und Steuerung in Echtzeit. Vernetzte Systeme in der realen Welt müssen Leistungsgarantien mit begrenzten Trainingsdaten haben.
Kontakt:
Karlsruher Institut für Technologie
Kaiserstraße 12
76131 Karlsruhe
Deutschland
Tel.: +49 721 608-0
Fax: +49 721 608-44290
E-Mail: info@kit.edu
KIT – IMI – Startseite