Die digitale Transformation, allen voran künstliche Intelligenz, beeinflusst jeden Bereich des menschlichen Lebens, doch keinen so stark, wie die Arbeitswelt. Neue Technologien kosten Geld und – so die Befürchtungen vieler – in Zukunft auch Jobs. Die Ängste sind berechtigt, denn KI ist in der Lage schwierige Aufgaben zu übernehmen und das fehlerfrei. Doch allein kann KI die Transformation nicht lenken, dafür braucht es digital kompetente und gut ausgebildete Menschen. Dies ist eine Kernaussage des „Industry Tech Report 2019“, den das M&A-Beratungs- und Tech-Investmentunternehmen GP Bullhound jährlich herausgibt. Dr. Nicolas Westphahl ist Director bei GP Bullhound und einer der Autoren des Reports. Er sieht in der Ausbildung von Digitalkompetenzen den Schlüssel zur erfolgreichen Nutzung künstlicher Intelligenz.
Herr Westphal, eine Voraussage des Industry Tech-Reports besagt, dass KI zu tiefgreifenden Umwälzungen im Produktionsprozess führen wird. Worum handelt es sich dabei genau?
Bisher wurden in der industriellen Fertigung im Wesentlichen lineare Produktionsprozesse automatisiert und optimiert. Mit der Einbindung künstlicher Intelligenz in eine immer reicher werdende Datenlandschaft ergibt sich nun zum ersten Mal die Möglichkeit, auch nicht-lineare Prozesse zu automatisieren. Dies wird teilweise bereits in der Halbleiterproduktion oder im Bereich „Predictive Maintenance“ angewandt. In Zukunft wird es wahrscheinlich möglich sein, Prozesse soweit zu automatisieren, dass sie ein hohes Maß an Autonomie und Agilität aufweisen werden.
Menschen befürchten, dass KI ihnen die Jobs wegnehmen könnte. Sind diese Ängste unberechtigt?
Die Ängste sind sicherlich nicht unberechtigt. So hat z.B. eine Studie des McKinsey Global Institute in 2017 festgestellt, dass 54 % aller in Deutschland geleisteten Arbeitsstunden in „leicht automatisierbare Tätigkeiten“ fallen. Gleichzeitig würden es 70 % der Arbeitnehmer in einer Befragung von BCG / Ipsos bevorzugen, wenn KI ihnen die repetitiven Teile ihrer Arbeit abnehmen würde. Daher glaube ich, dass der Schlüssel zu einer erfolgreichen Nutzung von KI in der weiteren Ausbildung von Digitalkompetenzen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer besteht.
Der Hauptsitz von GP Bullhound ist in London. Sie haben aber auch Standorte weltweit, z.B. in Berlin. Gibt es aus Ihrer Sicht Unterschiede, wie Länder an Smart-Manufacturing- und KI-Projekte herangehen?
Natürlich bestehen regionale Unterschiede, das wird ja schon in den Zahlen für Venture-Finanzierungen deutlich, die in den USA und China das europäische Maß um ein vielfaches übersteigen. Beide Regionen scheinen an neue Technologien sehr viel unbefangener heranzutreten und mit großem Kapitalaufwand neue Plattformen in Smart Manufacturing (USA) und künstlicher Intelligenz (China) hervorzubringen. Demgegenüber werden in Europa tendenziell eher existierende Konzepte und Anlagen durch neue Verfahren vorsichtig auf den neuesten Stand gebracht.
Sollte man sich also die USA und China zum Vorbild nehmen?
Angesichts der sehr viel stärkeren Finanzierungsdynamik in den USA und China steht in der Tat zu befürchten, dass in diesen Regionen neue Plattformen entstehen werden, die einen Teil der Wertschöpfung aus Europa abziehen werden. Demgegenüber sollten wir uns überlegen, in welchen Bereichen Europa die Kompetenzen hat, selbst führende Plattformen zu bauen, und dies dezidiert verfolgen.
Wo liegen die Kompetenzen Europas?
Die Kernkompetenzen Europas liegen insbesondere in Robotics, industrial IoT, 3D-Druck, Werkstofftechnik und integrierten Hardware/Softwarelösungen. In den USA und China liegen sie tendenziell eher in den Bereichen Softwareplattformen und AI / Cloud.
In welche Technologien sollten Unternehmen heute investieren?
Es existieren hier zwei Philosophien: Evolution oder Revolution. Je nachdem, wo sich ein Unternehmen auf der Reise zur agilen Fertigung befindet und welche Produktivitätsgewinne diese verspricht, können beide Ansätze Sinn ergeben. Allgemein sollten Firmen, die eine graduelle Einführung neuer Technologien anstreben, zuerst eine umfassende Netzwerk- und Datenverfügbarkeit im Unternehmen schaffen, auf denen dann neue Lösungen, wie IoT, Digital Twin oder computergesteuerte Fertigung aufgebaut werden können.
Unternehmen haben oftmals Bedenken, dass sich ihre Investitionen nicht in einem bestimmten Zeitraum amortisieren. Was raten Sie?
Natürlich müssen auch Digitalisierungsinvestitionen normalen Wirtschaftlichkeitskriterien standhalten. Allerdings würde ich in mein Kalkül auch die Opportunitätskosten einbeziehen, die sich ergeben, wenn Wettbewerber aufgrund starker digitaler Kompetenzen an einem vorbeiziehen. Wahrscheinlich ist es sinnvoll, die Digitalisierungsreise in kleine inkrementelle Schritte aufzuteilen, und dabei auf ein Geflecht aus „best-of-breed“-Lösungen anstatt auf einen großen Rundumschlag zu setzen. (kk)