KMU und Digitalisierung
KEM Konstruktion: Herr Sendler – sind KMU bei den Themen Industrie 4.0 und Digitalisierung abgehängt worden?
Ulrich Sendler: Ganz im Gegenteil – die Innovationskraft kleiner und mittelständischer Unternehmen gerade im deutschsprachigen Raum zeigt sich einmal mehr insbesondere auch bei Industrie 4.0 und Digitalisierung. Ein exzellentes Beispiel ist die Tool-Arena des Werkzeugspezialisten EWS Weigele aus Uhingen. Dabei handelt es sich um eine für weitere Werkzeughersteller offene Plattform, über die Unternehmen ihre Werkzeuge für die spanende Bearbeitung online bestellen können. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass sich mit der Digitalisierung auch die Beschaffungswege ändern – EWS Weigele hat dies früh erkannt und konnte deswegen gerade auch in der Pandemie bereits diesen Vertriebsweg nutzen. Ich selbst bin dabei immer wieder überrascht, wie viele KMU hier bereits aktiv sind – auch wenn diese Angebote bislang nicht das Maß an Bekanntheit erfahren, das ihnen eigentlich gebührt.
Die Ziele des Digital Industry Circle
KEM Konstruktion: Aus diesem Grund wollen Sie den ‚Digital Industry Circle‘ (DIC) gründen – welche Motivation steckt dahinter?
Sendler: Am Ende das Ziel, den produzierenden Kern – aufgrund der mit knapp 25 Prozent der Beschäftigten großen Bedeutung für die Fertigungsindustrie – als Standort- und Wettbewerbsvorteil zu erhalten. Die vielen KMUs im deutschsprachigen Raum, also inklusive der Unternehmen in Österreich und der Schweiz, haben enorme Stärken und es gibt viele Hidden Champions unter ihnen. Ihnen möchte ich mit dem ‚Digital Industry Circle‘ eine Stimme geben und sie zusammenbringen und vernetzen. Denn eines ist klar: Ohne Digitalisierung der industriellen Wertschöpfung werden wir eine führende Position in der Welt nicht halten können. Wie es nicht geht, hat zuletzt die Plattform Industrie 4.0 unter der Schirmherrschaft von Wirtschafts- und Forschungsministerium gezeigt.
KEM Konstruktion: Wollen Sie das etwas näher erläutern?
Sendler: In einem Artikel in der FAZ hatten zuerst zwei der Initiatoren, Prof. Wahlster und Prof. Kagermann, ein Loblied auf die ersten zehn Jahre seit dem Start von Industrie 4.0 gesungen, bevor dann in einem Spitzendialog des Forschungsbeirats der Plattform Industrie 4.0 dieselben Töne im Chor gesungen wurden. Alle Maschinen seien vernetzt, alle Daten erfasst und gespeichert, jetzt müssten sie nur noch mit Künstlicher Intelligenz (KI) ausgewertet und genutzt werden – was für ein Unsinn! Wer die Industrie auch nur ein wenig kennt, weiß, dass für die große Mehrheit der Unternehmen die Digitalisierung nach wie vor eine Herkulesaufgabe ist, die sie – im Unterschied zu den Großkonzernen – auch keineswegs so einfach finanziell stemmen können. Aber Digitalisierung und Industrie 4.0 gehen nicht ohne die KMU – immerhin machen sie 96 Prozent der Industrieunternehmen in Deutschland aus (siehe Grafik).
Die Herausforderungen für KMU
KEM Konstruktion: Wenn KMU einerseits schon exzellente Lösungen anbieten und ohne sie Industrie 4.0 und Digitalisierung auch nicht funktioniert – wo genau liegt dann das Problem?
Sendler: Darin, dass KMU an vielen Stellen nicht unterstützt und gefördert werden – was aber eben nicht heißt, dass sie abgehängt wurden. Sie sind durchaus auf dem Stand der Technik und viele haben verstanden, welche Aufgaben jetzt gelöst werden müssen. Da das aber bekanntlich im Team besser geht und seitens der Politik keine Unterstützung zu erwarten ist, kommt es auf den intensiven Austausch untereinander an – und genau den will ich mit dem Digital Industry Circle fördern. Dass das nicht trivial ist, zeigen auch Äußerungen größerer Unternehmen – sinngemäß: ‚Wir können soviel Industrie 4.0 machen, wie wir wollen. Wir sind von Anfang an dabei und wissen, was eine Verwaltungsschale ist. Aber das nützt uns nichts, wenn nicht auch unsere Lieferanten und Kunden mitmachen.‘
KEM Konstruktion: Die Herausforderung für KMU liegt also vor allem in der digitalen Durchgängigkeit?
Sendler: Bleiben wir bei dem Beispiel der Tool-Arena von EWS Weigele. Erkannt hat man da völlig richtig, dass solche Plattformen auch im B2B-Geschäft eine immer größere Rolle spielen – und ist dazu massiv in Vorleistung gegangen. Noch rentiert sich das nicht. Um die Plattform aufzubauen, musste EWS Weigele aber vor allem auch die eigenen Produktdaten optimieren. Jetzt sind nicht mehr nur 3D-Modelle gefragt, sondern es geht darum, einen Digitalen Zwilling aufzubauen und anzubieten. Auf dieser Basis lassen sich dann Bearbeitungssimulationen realisieren – und so Effizienzpotenziale verschiedener Werkzeuge in der Fertigung vergleichen. Das ist ein Beispiel für den Mehrwert, der aus der Digitalisierung entsteht. Naheliegend ist dann aber eben auch, dass das alles nur funktioniert, wenn auch andere Tool-Hersteller in ähnlicher Weise vorgehen. Eminent wichtig ist deswegen der Austausch untereinander.
KEM Konstruktion: Gibt es weitere Hürden?
Sendler: Die Zahl der Kunden aufgrund der Bekanntheit und die Finanzierung. Um mit den Kunden anzufangen: Plattformlösungen werden auf Dauer ja nur gewinnbringend sein, wenn genügend Kunden sie nutzen – sprich: Es gilt, Angebote dieser Art bekannt zu machen. Ein weiteres Problem – und hier macht sich die fehlende Unterstützung bemerkbar – ist die Finanzierung. Auch bei Banken fällt es KMU ja deutlich schwerer als Großunternehmen, einen Kredit für solche Digitalisierungs-Projekte zu erhalten. Aber um es noch einmal klar zu sagen: Die KMU sind innovativ und machen das trotzdem – mehr Austausch untereinander und Publicity sind aber sicher hilfreich.
Digitalisierung und Plattformökonomie
KEM Konstruktion: Mit Blick auf das Thema Plattformökonomie – muss man hier nicht davon ausgehen, dass am Ende nur die ‚Großen‘ übrig bleiben wie im B2C-Geschäft etwa Amazon?
Sendler: Ich halte das inzwischen für unwahrscheinlich – denn insbesondere mit Blick auf die teilweise ja doch komplexeren Produkte und Lösungen wird es kaum möglich sein, das auf standardisierten Plattformen wie Amazon abzubilden. Dort fehlt einfach das tiefergehende Know-how. Nehmen wir wieder das Beispiel Werkzeuge: Dazu muss man die Normen kennen, nach denen ein Konus ausgebildet sein muss, damit er in die Werkzeugaufnahme passt. Darüber hinaus muss man die Besonderheiten der Branche abbilden können – das sind ja keine Bücher oder CDs. Will heißen: Gerade solche spezialisierten Lösungen haben gute Chancen, künftig das Geschäft zu machen – denn sie sind hochfunktional und kennen die Anforderungen der jeweiligen Branche.
Digitalisierung und neue Geschäftsmodelle
KEM Konstruktion: Lassen Sie uns versuchen, noch etwas mehr auf den Nutzen der Digitalisierung einzugehen. Wir hatten das Beispiel der Bearbeitungssimulation – gibt es weitere Ideen?
Sendler: Eine spannende Idee kommt etwa aus der Antriebstechnik. Hat man genügend Know-how, lassen sich aus den Betriebsdaten Rückschlüsse ziehen – etwa bezüglich eines rutschenden Riemens. Daraus einen Service für den Maschinennutzer abzuleiten und ihm genau anzugeben, an welcher Stelle er eingreifen muss – das ist ein echter Mehrwert, der sich mit solchen digitalen Lösungen erschließen lässt. Ich bin davon überzeugt, dass eine Vielzahl solcher digitalen Mehrwertdienste möglich ist – wenn sich die KMU mit ihrem ganz spezifischen Know-how untereinander austauschen. Sich zu überlegen, was das für Dienste sein können, mit denen man in Zukunft Geld verdienen kann, das ist das Spannende. Denn dann werden die KMU auch ernsthaft an der Wertschöpfung beteiligt.
KEM Konstruktion: Werden sie das nicht heute schon?
Sendler: Eben nicht! Der Zulieferer verkauft dem Maschinenbauer ein Bauteil, etwa einen Antrieb – an der folgenden Wertschöpfung der Maschine beim Anwender ist er damit aber nicht mehr beteiligt. Hier die Frage zu stellen, welche Dienste man basierend auf dem eigenen Produkt anbieten kann, das ist der Schlüssel zu den oft zitierten neuen Geschäftsmodellen. Ziel der KMU muss sein, die Wertschöpfung entsprechend ihres Anteils von den Großen zu den Kleinen zu verlagern – schließlich leistet man ja auch die entsprechende Arbeit. Dienstleistungen auf Basis digitaler Produkte und Produktion werden ein Kernbestandteil der Themen sein, die wir im Digital Industry Circle diskutieren wollen.
Der Nutzen des Digital Industry Circle
KEM Konstruktion: Welche Unterstützung kann der Digital Industry Circle denn bei der Umsetzung solcher Ideen bieten?
Sendler: Neben dem Austausch untereinander ist mir ganz wichtig, dass die Mitglieder Zugriff auf Know-how erhalten. Deswegen habe ich parallel zum Digital Industry Circle einen ‚Think Tank Digital Industry‘ aufgestellt, in dem namhafte Know-how-Träger (siehe Kasten) aus dem Bereich Digitalisierung und Industrie 4.0 mitwirken. Auf diese Weise haben alle Mitglieder die Chance, einfach und schnell an das so wichtige Know-how rund um diese Themen zu kommen. Die meisten der Mitglieder des Think Tank haben schon zehn und mehr Jahre Erfahrung und sind Spezialisten für eine Vielzahl von Bereichen. Wenn der Digital Industry Circle damit am Ende erreicht, dass die Mitglieder in die Lage versetzt werden, ihre Ideen einfach mal schnell ‚auszuprobieren‘, dann ist schon ein Großteil des Weges erfolgreich beschritten.
KEM Konstruktion: Wann startet denn der Digital Industry Circle, wer darf mitmachen und was kostet die Mitgliedschaft?
Sendler: Ziel ist, den Digital Industry Circle auf alle Fälle noch in diesem Jahr zu gründen – derzeit suche ich Mitglieder, Interessenten aus dem Kreis der Unternehmen bis maximal 500 Mitarbeiter sind willkommen. Bezüglich der Kosten – um Networking, Know-how-Transfer und Publicity zu finanzieren – möchte ich die Entscheidung den Mitgliedern selbst überlassen. Meine Rolle dabei ist die eines Moderators, der Digital Industry Circle und Think Tank Digital Industry zusammenhält. Insofern sollte die Gründungsversammlung den Beitrag zur Mitgliedschaft festlegen.
Kontakt:
Ulrich Sendler
Mauerkircherstr. 30
81679 München
Tel. +49 89/9810 7882
info@plmportal.org
www.plmportal.org
Die Ziele des Digital Industry Circle (DIC) im Überblick
- Diskussion der besonderen Herausforderungen des Mittelstands beim Wandel zu digitalen, vernetzten Wertschöpfungsmodellen
- Suche nach gemeinsamen Lösungen
- Vernetzung mit industrienaher Forschung und IT-Anbietern
- Anstoßen und Unterstützen beispielhafter Plattformprojekte
- Herausstellung des Mittelstands als treibende Kraft und Herz des digitalen Industriestandorts: flexibel, schnell, beweglich, innovativ
- Förderung der öffentlichen Wahrnehmung (alle Medien, Verbände, Politik)
Der Think Tank Digital Industry
Mitglieder des Digital Industry Circle (DIC) haben die Gelegenheit, sich mit den folgenden Personen auszutauschen:
- Prof. Dr.-Ing. Holger Borcherding, Fachliche Leitung Innovation, Lenze SE, Aerzen
- Prof. Dr. rer. nat. Andreas Deuter, TH Ostwestfalen-Lippe, Leitung Studiengang Digitalisierungsingenieurwesen
- Prof. Dr.-Ing. Roman Dumitrescu, Fraunhofer-Institut für Entwurfstechnik Mechatronik IEM, Geschäftsführer Strategie FuE it’s OWL
- Dr. Ömer Sahin Ganiyusufoglu (Dr. Gani), Industrial Development Consultant at QIAP – Qingdao International Academician Park, Extraordinary member of Acatech
- Dr. Christopher Ganz, C. Ganz Innovation Services, Zürich vorher u.a. ABB Future Labs und Mitglied des ABB-Group-Technology-Managements
- Prof. Dr.-Ing. Lydia Kaiser, TU Berlin, Einstein Center Digital Future, Digitales Engineering 4.0
- Nico Michels, Senior Vice President, Engineering System bei Fresenius Medical Care, vorher Claas und Waggonbau Graaff
- Prof. Dr.-Ing. Rainer Stark, Fachgebietsleiter TU Berlin, Vorstand Forschung Prostep Ivip Verein, Mitglied Acatech, Mitglied Forschungsbeirat Industrie 4.0
- Larry Terwey, Director Digital Business & Director Sales, ECS Engineering Consulting & Solutions vorher u.a. IoT-Evangelist bei Microsoft
- Dipl.-Ing. Matthias Weigele, Geschäftsführer CEO, EWS Weigele GmbH & Co. KG, Uhingen
- Tim Weilkiens, Vorstand Oose Innovative Informatik eG, Hamburg