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Auf die persönliche Ebene kommt es an

Bulgarien: Standort für die deutsche Industrie
Auf die persönliche Ebene kommt es an

Voraussichtlich 2007 tritt Bulgarien der Europäischen Union bei. Geschäftstüchtige Unternehmer aus Deutschland profitieren schon jetzt von der wirtschaftlichen Dynamik des südosteuropäischen Landes.

Frank Stier ist Journalist in Berlin

Großer Auftrieb am Morgen des 10. Juni 2005 vor dem Grandhotel Sofia in der bulgarischen Hauptstadt: Die südosteuropäischen Wirtschaftsminister entsteigen schwarzen Limousinen, um im Rahmen ihrer Ministerkonferenz die Schaffung einer Freihandelszone Südosteuropa bis 2006 zu verkünden. Dies dürfte die Wirtschaft in dieser Region – gegenwärtig die sich am dynamischsten entwickelnde in Europa – weiter beleben.
Neben den mittel- und osteuropäischen Staaten Ungarn, Tschechien und Polen rücken zunehmend Rumänien und Bulgarien, die beiden EU-Beitrittskandidaten für 2007, ins Blickfeld internationaler Investoren. Im vergangenen Jahr konnten Rumänien mit 4,1 Mrd Euro und Bulgarien mit 2,1 Mrd Euro rund drei Viertel der nach Südosteuropa geflossenen ausländischen Direktinvestitionen an sich ziehen. Das mit knapp acht Millionen Einwohnern kleinere Bulgarien liegt, gemessen am Pro-Kopf-Anteil, vor Rumänien; es lockt Investoren mit einer Körperschaftssteuer von 15% und günstigen Produktionskosten.
Im Schatten der großen Wirtschaftspolitik vollzieht sich an diesem Tag der deutsch-bulgarische Wirtschaftsaustausch. Bei einer Kooperationsbörse treffen ein gutes Dutzend mittelständischer deutscher Unternehmer aus den Branchen Maschinen- und Apparatebau, Elektro-, Informations- und Energietechnik sowie Textilwirtschaft auf ein Vielfaches bulgarischer Geschäftsleute. So ergeben sich Gespräche, um sich kennenzulernen und Möglichkeiten künftiger Zusammenarbeit zu erörtern. Der Geschäftsführer der Deutsch-Bulgarischen Industrie- und Handelskammer, Mitko Vassilev, spricht oft zu Unternehmerdelegationen aus Deutschland und erläutert ihnen die politisch stabile, sozial schwierige und wirtschaftlich sich positiv entwickelnde Situation in Bulgarien sowie die juristischen und steuerlichen Rahmenbedingungen für eine Geschäftsbeziehung.
Regelmäßig reist Vassilev auch zu den Industrie- und Handelskammern im Bundesgebiet, um bei Sprechtagen für eine Geschäftstätigkeit mit und in Bulgarien zu werben: „Vor kurzem haben wir eine Erhebung unter den 1200 deutschen in Bulgarien tätigen Unternehmen durchgeführt und herausgefunden, dass mehr als drei Viertel von ihnen mit ihrer Geschäftsentwicklung zufrieden sind und ungefähr sechzig Prozent diese ausweiten wollen.“
Bei den meisten von ihnen handelt es sich um Vertriebsbüros, doch wächst auch die Zahl der im Land produzierenden Unternehmen. Eines von ihnen ist die im Werkzeug- und Maschinenbau tätige A.T. Inter Service GmbH aus Rathenow. Ihr Geschäftsführender Gesellschafter Albrecht Todte begann seine Geschäftstätigkeit in Bulgarien zum vermeintlich ungünstigsten Zeitpunkt, während der Wirtschaftskrise von 1996. Damals investierte er in die Werkzeugbauunternehmen MMM Ltd. und VIP Ltd., einige Jahre später erwarb er Beteiligungen an ihnen. Heute lässt Todte an den Standorten Montana, Pazardzik und Nova Zagora Teile und ganze Teilegruppen für den Maschinenbau, die Automobil- und die Textilindustrie fertigen.
Dass er Mitte der 90er-Jahre nach Bulgarien und nicht nach Ungarn, Tschechien oder Polen ging, lag unter anderem daran, dass er das Balkanland noch aus seiner Tätigkeit bei Carl Zeiss Jena vor der Wende kannte: „Es gilt, einige Besonderheiten in der interkulturellen Kommunikation zu beachten“, sagt Todte mit deutlicher Sympathie, „Geschäftsbeziehungen zu bulgarischen Partnern laufen nicht ausschließlich auf der fachlichen, sondern zu einem wesentlichen Teil auf der persönlichen Ebene.“ So könne es geschäftlich notwendig sein, mit einem bulgarischen Partner auch mal ein Glas Rakija (Trauben- oder Pflaumenschnaps) mehr zu trinken, als man das zu Hause tun würde.
Die Teilnahme an einer Kooperationsbörse hält der Unternehmer für eine gute Möglichkeit, einen ersten Einblick in die Verhältnisse des Landes zu gewinnen und potenzielle Geschäftspartner kennenzulernen. „Allerdings“, warnt Todte, „sollte man sich vorsehen.“ Wenn man bei solch einer Begegnung einem bulgarischen Unternehmer zwei, drei Zeichnungen unter die Nase halte und ihn frage, ob er das bauen könne, so werde dieser mit großer Wahrscheinlichkeit sagen: „Da, njama problem“ – ja, kein Problem. „Doch so einfach ist das natürlich nicht. Bevor man sich darauf einlässt, sollte man sich die Kapazitäten anschauen, das Werk, das Personal, die Maschinen und so weiter.“
Bulgarien bietet nach Ansicht Todtes alle Voraussetzungen für gute Geschäfte; es gibt qualifiziertes und leistungsbereites Personal ebenso wie die nötige Infrastruktur. Er rät aber, so oft wie möglich selber nach dem Rechten zu sehen oder vor Ort Leute seines Vertrauens zu haben, um sicherzugehen, das vereinbarte Produkt rechtzeitig in der notwendigen Qualität zu erhalten. Es ärgert ihn, wenn er von deutschen Geschäftspartnern zunächst immer auf die Schwierigkeiten angesprochen wird, auf Bürokratie und Korruption. „Wenn ich einem Amerikaner Deutschland erklären müsste“, sagt er, „würde ich ihm vielleicht nicht als erstes von Korruption erzählen, aber von Bürokratie gewiss. Natürlich gibt es in Bulgarien Korruption und Bürokratie, aber zum einen sind sie in den letzten Jahren zurückgegangen und zum anderen unterscheidet sich Bulgarien in dieser Hinsicht nicht grundsätzlich von anderen Ländern.“
Unternehmer aus dem deutschsprachigen Ausland beim Markteintritt in Bulgarien zu unterstützen, ist Geschäftszweck der in der Sofioter Altstadt ansässigen Nest Agentur. „Unseren Firmennamen“, sagt ihr Geschäftsführer Viktor Poljakov in einwandfreiem, beim Studium in Dresden erworbenen Deutsch, „haben wir mit Bedacht gewählt, denn wir bieten unseren Klienten an, ihnen in Bulgarien das Nest zu bereiten. Egal, ob sie im Land eine Produktion aufbauen wollen oder nur Zulieferer oder Vertriebswege für ihre Produkte suchen – wir liefern ihnen die notwendigen Informationen zur Marktlage, sondieren das Angebot an Gewerbeflächen, erledigen den Behördenkram und vermitteln ihnen nützliche Kontakte.“
Mit einer bilateralen Handelsbilanz von 2,5 Mrd. Euro ist Deutschland Bulgariens wichtigster Außenhandelspartner, so haben Poljakov und sein Kollege Emil Mihailov guten Grund zum Optimismus. „Allerdings“, schränkt Mihailov schmunzelnd ein, „jedesmal, wenn wir von Ansiedlungen wie des Automobilzulieferers William Hughes aus Großbritannien und vor kurzem der französischen Montupet in Russe erfahren, fragen wir uns natürlich, ob wir unsere Zielgruppe nicht erweitern sollten, denn von den Deutschen, so scheint uns, kommt im Moment nicht so viel, wie es ihrer Wirtschaftskraft entsprechen würde.“
Die deutsche Wirtschaft wird in Bulgarien durch eine Reihe illustrer Unternehmen repräsentiert; zu ihr gehören die Spedition Willy Betz, der Bau-Projektentwickler Lindner AG, der Software-Produzent SAP, die Werkzeug- und Maschinenbauer Sparky Group und Festo AG und seit Herbst vergangenen Jahres auch der saarländische Automobilzulieferer Kuhn Technology. Als in besonderer Weise erfolgreich in Bulgarien gelten darf das Biberacher Familienunternehmen Liebherr, das als Liebherr Hausgeräte Marica EOOD seit Oktober 2000 in Radinovo in der Nähe von Plovdiv Kühl- und Gefriergeräte fertigt: „Mitte Juni 2005“, sagt Detlef Walther, kaufmännischer Geschäftsführer von Liebherr, „konnten wir das einmillionste Gerät ausliefern. Und diese positive Entwicklung veranlasst uns, den Anfangsinvestitionen in Höhe von 25 Millionen Euro weitere Investitionen folgen zu lassen, um das Werk auf dem neuesten Stand der Technik zu halten.“ Von 14 000 Geräten im Anfangsjahr 2000 hat Liebherr die Produktion auf 307 000 im vergangenen Jahr gesteigert. „Wir beschäftigen 600 Arbeitskräfte im Werk und haben 250 Arbeitsplätze bei einheimischen Lieferanten geschaffen.“ Bulgarien wird für das Unternehmen auch als Absatzmarkt und Vertriebsstützpunkt für Südosteuropa immer interessanter: 11 000 Kühlgeräte hat Liebherr im Jahr 2004 auf dem bulgarischen Markt verkauft.
Nach dem unklaren Ausgang der Parlamentswahlen im Juni hat Bulgarien derzeit Schwierigkeiten, eine handlungsfähige Regierung zu bilden. Diese ist jedoch unabdingbare Voraussetzung für die von der EU-Kommission geforderten Reformen in Justiz und Verwaltung und damit für den EU-Beitritt 2007. Ungeachtet dessen wird Bulgariens wirtschaftliche Bedeutung in den kommenden Jahren voraussichtlich weiter wachsen. Schließlich liegt es geostrategisch zentral in Südosteuropa – und dort wohnen insgesamt knapp sechzig Millionen potenzielle Konsumenten mit großem Nachholbedarf.

Bulgarien
  • Fläche: 110 994 km² (etwa so groß wie die ehemalige DDR)
  • Bevölkerung: 7,6 Millionen Einwohner
  • Hauptstadt: Sofia
  • Währung: 1 Lew = 100 Stótinki (entspricht etwa 0,51 Euro)
  • Wirtschaftswachstum: 5,6 %
  • BIP/Kopf: 2130 US-$ (2003)
  • Arbeitslosenquote: 11,1 %
  • Ausfuhr nach Deutschland 2004: Waren im Wert von 961 Mio. Euro, vor allem Textilien und Bekleidung, Büromaschinen, Maschinen, Eisen, Stahlerze und NE-Metalle
  • Einfuhr aus Deutschland 2004: Waren im Wert von 1,564 Mrd. Euro, insbesondere Büromaschinen, Kraftfahrzeuge und Maschinen
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