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Der Wertschöpfung an den Kern gerückt

Automation der neuen Schule berücksichtigt Marktentwicklungen
Der Wertschöpfung an den Kern gerückt

Es ist schön, wenn ein Unternehmen mit dem Rhythmus des Marktes atmen kann. Aber gerade den kapitalintensiven Fertigungsbetrieben fällt dies zunehmend schwer. Neue Ansätze in der Automationstechnik dürften Luft verschaffen.

Die Kratzer am Image saßen tief. Jahrelang hatten die Anbieter von Fertigungs- und Handhabungstechnik, Montage- und Robotiksystemen eins ums andere Umsatzplus eingefahren. So hoch die deutschen Löhne sich im internationalen Rahmen angefühlt hatten, so logisch schien der Trend zur Hochautomatisierung produzierender Branchen zu sein. Automation galt als Königsdisziplin jeder Wertschöpfungskette. Oder besser: als probates Schmiermittel.

So war allein zwischen 1989 und 1999 die Quote der Betriebe mit rechnergesteuerten Werkzeugmaschinen von 36 auf 69 % gewachsen, hatte die Zahl der Firmen mit automatisierter Werkstück- und Werkzeughandhabung von 5 auf rund 20 % zugelegt und konnten Unternehmen mit automatisierter Montage ihren Anteil von 5 auf 14 % verbessern.
Und Ende der 90er-Jahre dann dieses: Wie stillschweigend abgesprochen, schraubten die Betriebe reihenweise ihre Automationslösung zurück. „Fahrerlose Transportsysteme wurden verschrottet. Hochflexible Produktionseinrichtungen machten beim Wechsel zum Folgeprodukt Konzepten mit deutlich verringertem Automatisierungsgrad Platz“, berichtet Elna Schirrmeister vom Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) in Karlsruhe. Gemeinsam mit dem Institut für Fabrikanlagen der Universität Hannover hatte die Forscherin 1999 das Phänomen des Automationsrückgangs in der fertigenden Industrie untersucht. Der Kern der Analyse, sagt Schirrmeister heute, habe nach wie vor Bestand. Die Imagekratzer womöglich auch.
Einer der prominentesten Projektpleiten war die Halle 54 von Volkswagen in Wolfsburg. Als Fertigungsanlage ebenso komplex wie unflexibel, war der eingangs kalkulierte wirtschaftliche Vorteil von Verkettungs- und Stillstandsverlusten, von Support- und Umbaukosten für Varianten sowie den Aufbau alternativer Kapazität zunichte gemacht. Betriebe mit ähnlicher Struktur bauten ihre Lösung ebenfalls zurück, schafften sie ganz ab oder investierten in Automation auf flacherem Niveau.
Das böse Wort vom Overengineering machte die Runde. So hatte 1999 jeder dritte der vom ISI befragten Produktionsbetriebe angegeben, mit der Starrheit seiner automatisierten Anlagen unzufrieden zu sein. Flexibilität – wie sie qua Absatzschwankung oder Umstellung auf neue Produkte erforderlich wäre – lasse sich nur mit großem Aufwand erreichen. „Insbesondere traf dies auf die Montage zu“, erklärt Schirrmeister. Aber nicht nur in Betrieben mit hartem Wettbewerbsumfeld seien die hoch automatisierten Systeme obsolet geworden. Knapp die Hälfte der Unternehmen mit überaus starkem Wachstum habe ihr Automationsniveau seinerzeit bereits reduziert oder dies zumindest geplant.
Thorsten Hartmann kann solche Trends für heute nur in Teilen bestätigen. Speziell im Maschinenbau habe die Automation seit der Jahrtausendwende sogar zugenommen, sagt der Geschäftsführer der Neidlinger Festool GmbH. „Grundsätzlich richtig ist allerdings, dass intelligente Konzepte oft mit weniger technischem Aufwand die bessere Lösung sind.“ Festool stellt Druckluft- und Elektrowerkzeuge her und gehörte 2006 zu den 100 innovativsten Mittelständlern Deutschlands. Als intelligent stuft Hartmann solche Systeme ein, bei denen nicht nach Schema F ein unzureichend durchdachter Fertigungsfluss automatisiert werde, sondern vielmehr solche, bei denen zuvor Wege verkürzt, Abläufe optimiert und die Qualität wie auch Quantitäten nachhaltig gesichert worden sind. Andernfalls müssten gut entlohnte Fachleute bereit stehen, um die systematisch eingebauten Fehler der Lösung zu beheben.
„Automation die sich rechnet, muss am Kern der Wertschöpfung orientiert sein und nicht an Ablauf- und Organisationsmängeln“, betont Hartmann. Dies sei ihr K.o.-Kriterium. Unabhängig hiervon bestimmten die Unternehmen jedoch selbst, wie weit überhaupt zu rationalisieren sei. So setze ein stark diversifiziertes Produktprogramm die Automations-Investition per se in ein ungünstiges Verhältnis zu Auslastung, Nutzung und Lebensdauer.
Auch das Freiberger Automationsunternehmen Teamtechnik sieht eine Tendenz zur Konzentration aufs Wesentliche. „Wer beispielsweise in Niedriglohnländer investiert, will letztlich diejenigen Prozessglieder rationalisieren, die selbst keinen Bearbeitungsinhalt haben – also logistische Abschnitte wie das Verketten, Beladen und Handhaben produktiver Maschinen“, analysiert Teamtechnik-Geschäftsführer Stefan Rosskopf. Je konsequenter die eigentliche Wertschöpfung gefasst werde, desto besser greife Automation bei Änderungen an Losgrößen, Teilen und Terminrahmen.
Hartmann und Rosskopf stehen stellvertretend für eine neue Generation von Entscheidern, denen es zuerst um den Wertstrom und erst nachrangig um die Logistik geht. Letztere sei Mittel zum produktiven Zweck und nicht grundsätzlich Gegenstand einer Automation. Der Vorteil unter dieser Prämisse gestalteter Prozesse und Komponenten liegt auf der Hand: Sind die Schnittstellen standardisiert, lassen sich die einzelnen Module schnell zu einer neuen Lösung zusammenfügen und an geänderte Marktbedingungen anpassen.
In der Automobilindustrie bricht dieses Rollenspiel von Wertschöpfung und Logistik ganze Transferstraßen auf, ersetzt sie durch Fertigungsinseln und Roboter, die letztere verketten. Der Zuwachs an Flexibilität ist gewaltig: Fällt eine der Fertigungsinseln aus, wird nicht mehr das ganze System blockiert. Umstiege vom einen auf den folgenden Getriebedeckel oder Achsschenkel sind keine Grundsatzfrage mehr, sondern nur noch ein Fall für die Rüstung und Programmierung – in der stückzahlstarken Branche ein vor Jahren noch exotischer, gemessen an der nur mehr mageren Kapazitätsauslastung unter 80 % aber ein folgerichtiger Ansatz: Totes Kapital ist selten sexy. Variable Lösungen dagegen wachsen mit den Marktbedingungen.
Norbert Stein, Vorstandsvorsitzenden der Fachgemeinschaft Robotik+Automation im Frankfurter VDMA e.V., sieht für die Automation der neuen Schule denn auch weiteres Potential in allgemeinem Maschinenbau, Metall-, Elektro- und Elektronikindustrie. „Die Prozesse dort sind sehr gut beherrschbar. Betriebe, die statt einschichtig künftig zwei- oder dreischichtig produzieren wollen, kommen bei der Investitionsbetrachtung zu der Erkenntnis, dass Automation sich sehr schnell rechnet.“
In der Tat besteht Nachholbedarf. Mit einer Produktivität von 175 200 Euro pro Kopf respektive 36 % Personalkostenanteil hinkt gerade der Maschinenbau der hoch automatisierten Automobilindustrie hinterher. Diese nämlich hatte 2005 mit 767 000 Mitarbeitern rund 235 Mrd. Euro umgesetzt. Der Pro-Kopf-Umsatz lag bei 306 400 Euro, die Personalkostenquote um die 15 %.
Demgegenüber hatte der Maschinenbau 151 Mrd. Euro Umsatz gemacht, wobei 36 % der Produktionskosten in den 862 000 Köpfe starken Kader geflossen waren. Damit lag die Branche noch hinter der ebenfalls montageintensiven, aber wesentlich stückzahlstärkeren Elektro- und Elektronikbranche mit ihrerseits 288 400 Euro Umsatz pro Kopf.
Gleichwohl ist der Spielraum für Automation begrenzt. Der klassische Sondersysteme-, Maschinen- und Anlagenbau ist vor allem den Kundenwünschen verpflichtet. Die Auftragslage schwankt notorisch. Große, produktionstechnisch bis aufs Letzte ausgefeilte Serien sind nicht sein Ding. Und tröpfeln die Orders gerade einmal nicht nach dem Ketchupflaschen-Prinzip – mal kommt nichts, dann plötzlich alles –, verlassen sich die Firmen auf die Automation ihrer Zulieferer. Schließlich machen diese die nötigen Stückzahlen.
Die Medizintechnik mit durchschnittlich 8 % Wachstum pro Jahr bietet den Automatisierern da schon mehr Entfaltungsraum. Heinz-Dieter Baumtrog, Geschäftsführer der Sortimat Technology in Winnenden, sieht die Chancen für angepasste Automation hier in sämtlichen Produktionsabschnitten. Ist der Wertstrom klar definiert, dürfen es auch hybride Systeme sein. „Zwitter aus Automation und Handarbeit machen sich überall dort bezahlt, wo ein Produkt gerade am Markt eingeführt wird.“ Sind solche Phasen abgeschlossen und soll in Serie gefertigt werden, wird händisch Arbeit ersetzt. Das Resultat ist angepasste Vollautomation. Kapital wird nur soweit gebunden wie erforderlich.
Von Overengineering spricht da kaum jemand mehr. Lösungen wie die von Sortimat haben mit der Brechstangen-Automation der frühen Jahre nur noch wenig zu tun. Zielrichtung ist weniger das Einsparen händischer Arbeit als vielmehr die Sicherung von Prozessen und Terminen. Vor allem aber sind sie der Kernforderung der alten ISI-Studie ein gutes Stück näher gekommen: ohne Umweg auf sinnvollem Niveau zu automatisieren
Wolfgang Filì Journalist in Köln
Industrieanzeiger
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