Firmen im Artikel
Herr Böhm, was bedeutet Digitalisierung bei Ottobock?
Wir haben vor zwei Jahren mit einer massiven Transformation des Geschäftsmodells begonnen und Digitalisierung spielt hier eine wichtige Rolle. Wir hatten als fertigendes Unternehmen in der O&P-Industrie – also Orthetik und Prothetik-Lösungen – bisher einen starken B2B-Fokus. Durch den stetigen Wandel in unserer Industrie wie die Konsolidierung der Versorgungszentren oder die zunehmende Anzahl der digitalen Touchpoints haben wir nun die Möglichkeit, die direkte Beziehung und den Austausch mit unseren Anwenderinnen und Anwendern zu gestalten. Im B2B-Kontext bringen wir die Digitalisierung in den Versorgungsprozessen – zum Beispiel mit Technologien wir 3D-Scan, 3D-Druck oder Virtual Reality voran. Im B2C-Bereich geht es um den Aufbau und die Koordination der digitalen Touchpoints, um das ultimative Produkt-und Serviceerlebnis für unsere Anwender zu schaffen.
Sie meinen damit die Patienten, die ihre Produkte wie zum Beispiel Prothesen nutzen?
Ja richtig. Wir nennen die Menschen, die unsere Produkte verwenden, nur in einer bestimmten Phase Patient. Denn die Nutzer unserer Produkte sind nur Patienten, so lange sie im Krankenhaus sind. Anschließend, wenn sie unsere Produkte bekommen, sind sie Anwender. Als Ottobock möchten wir den Anwender auf seiner gesamten Versorgungsreise unterstützen und diese so unkompliziert wie möglich gestalten.
Was heißt das konkret?
Wir setzen dabei unter anderem auf verschiedene Cloud-Lösungen, die uns unser Technologie-Partner Salesforce bereitstellt. Damit können wir – das Einverständnis vorausgesetzt – einen Rundum-Blick auf den Anwender bekommen. Wir sehen zum Beispiel, wann jemand bei seiner Krankenversicherung wieder Anspruch auf ein neues Produkt hat, und können ihn darauf hinweisen. Die entsprechenden Informationen geben uns die Möglichkeit, ihn individuell zu beraten und die optimalen Produkte und Service-Leistungen zu empfehlen. Des weiteren haben wir mit Hilfe der Cloud-Lösungen eine Community aufgebaut, in der sich die Anwender in einem geschützten Rahmen miteinander austauschen können. Dieses gesamte Angebot nennen wir ‚‚Ottobock Life Lounge‘‘. Wir wollen Anwender ein Leben lang begleiten und für diese Reise haben wir unsere Angebote auf der digitalen Plattform nun erweitert.
Inwiefern?
Ein konkretes Angebot ist der Virtual-Reality-Service, der in der Rehabilitation zum Einsatz kommt.
Was können die Nutzer damit machen?
Wenn jemand nach einem Unfall ein Bein verliert und mit einer Prothese versorgt wird, ist es das Wichtigste, dass er damit möglichst frühzeitig zu laufen beginnt. Dies trainiert er zunächst im Krankenhaus oder im Reha-Zentrum. Doch anschließend in seinem alltäglichen Umfeld ins Fitnessstudio oder zum Physiotherapeuten zu gehen, stellt für viele Anwender eine mentale Hürde dar. Wir bieten ihnen nun stattdessen die Möglichkeit, sich im eigenen Wohnzimmer über eine 3D-Brille in ein virtuelles Rehazentrum zu begeben und die Übungen zu Hause machen. So kann sich der Nutzer langsam an die neue Situation gewöhnen.
Wenn man sich als etabliertes Unternehmen wie Ottobock an die digitale Transformation macht, gibt es dann auch Herausforderungen zu überwinden?
Als ich hier vor zwei Jahren bei Ottobock mit der Digitalisierung gestartet bin, gab es schon Verbündete, die genauso gedacht haben wie ich. Doch das waren vielleicht 50 oder 100 Leute. Bei Ottobock arbeiten aber insgesamt mehr als 9000 Kolleginnen und Kollegen weltweit. Und ich habe festgestellt: Wir stehen uns hierbei noch selbst im Weg.
Was meinen Sie damit?
Das Problem bei dieser Transformation waren nicht unsere Wettbewerber im Markt, sondern wir selbst. Ich spreche dabei immer von den vier apokalyptischen Reitern der Digitalisierung. Der erste ist die Angst vor der Kannibalisierung. Viele im Unternehmen befürchten, dass wir bei der digitalen Transformation das Kernsegment aus den Augen verlieren könnten. Doch Fakt ist: Wir müssen digitalisieren. Wenn wir es nicht machen, macht es jemand anderes. Allein im Bereich der Oberarm-Prothetik gibt es sehr viele Startups. Der zweite apokalyptische Reiter sind die Legacy Assets – also Altsysteme, die man nicht abstellen möchte, weil man schon so viel in sie investiert hat. Hinzu kommt das Unternehmens-Immunsystem, wie ich es nenne. Dieses hat das Ziel, den Status Quo, den ein erfolgreiches Unternehmen erreicht hat, zu schützen. Neue Ideen werden dann gerne mal mit dem Spruch abgeschmettert: „So machen wir das hier nicht.“
Und was ist die vierte Herausforderung?
Das ist der Glaube daran, dass man noch Zeit hat und mit der Transformation noch ein paar Jahre warten kann.
Wie vertreibt man diese apokalyptischen Reiter?
Das einzige, was hilft, ist: immer weitermachen – auch wenn es Widerstand gibt. Man muss sich in Gruppen zusammenfinden und schneller werden. Und man braucht Anwendungsbeispiele. Projekte dürfen nicht in Pilotphasen verbleiben. Wir haben jetzt bei Ottobock diese vielen Cloud-Lösungen. Und nun geht es darum, diese im kommenden Jahr in allen Länderniederlassungen auszurollen. Wir haben dafür ein Life-Lounge-Team aufgesetzt, das von Land zu Land zieht und dort ein System nach dem anderen implementiert.
Wie wichtig ist die Tatsache, dass Sie in Ihrer Funktion als Chief Experience
Officer bei Ottobock auch für die IT zuständig sind?
Als ich gefragt wurde, ob ich diese Reise mit Ottobock gehen möchte, habe ich eine Voraussetzung genannt. Ich habe gesagt: „Wenn ich das Marketing übernehme, dann möchte ich auch für die IT verantwortlich sein.“ Denn für das Marketing sind auch sämtliche digitalen Touchpoints relevant wie das CRM, und das Kundenerlebnis. Und hinter all dem steckt IT. Zu meinem Zuständigkeitsbereich kam dann noch die Digitalisierung. Denn Digitalisierung heißt ja bei uns nicht nur: Ich baue einen Online-Shop. Sondern es bedeutet auch, Geschäftsprozesse zu digitalisieren.
Wobei IT natürlich auch in anderen Bereichen relevant ist.
Das ist richtig, zum Beispiel im Finanzbereich, in der Logistik oder in der Supply Chain. Doch wir haben erkannt, dass Ottobock besonders im Bereich der Anwender stärker werden muss. Wir bezeichnen diese Ausrichtung als Human Centric, 100 Prozent Fokus auf die Anwender. Durch diese Fokussierung und die Bündelung der Verantwortlichkeiten in einer Hand erreichen wir die nötige Geschwindigkeit. Das, was wir bis jetzt erreicht haben, hätten wir sicherlich auch auf eine andere Weise voranbringen können – aber nicht in dieser kurzen Zeit. Wir hätten dann wahrscheinlich eher vier Jahre dafür gebraucht statt zwei.