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Eine kräftige Umarmung soll Staus in der Lieferkette vorbeugen

Collaborative Business : Wie Wertschöpfungsketten beherrschbar werden sollen
Eine kräftige Umarmung soll Staus in der Lieferkette vorbeugen

Weil die verflochtenen Zulieferketten kaum zu beherrschen sind, bemühen sich die Automobilhersteller um größere Nähe zu ihren Zulieferern. Das Zauberwort heißt vertrauensvolle Zusammenarbeit. Doch die Umworbenen fragen sich: Endet die Umarmung im Erdrücken?

Thomas Baumgärtner ist Journalist in Kusterdingen bei Tübingen

Der VW-Manager auf dem Lieferanten-Workshop in Wolfsburg trat mit geradezu entwaffnender Offenheit auf: „Für uns gibt es einen Nachholbedarf an Vertrauensbildung“, so der Leiter Konzernbeschaffung. Lieferantenmanagement und Regionen. Er ist nicht allein: „Gemeinsam mit unseren Lieferanten“ – diese Worte fehlten in fast keinem Statement auf dem diesjährigen Industrieforum.
Der Ruf ertönt nicht nur aus Wolfsburg. Aus Stuttgart, München, Rüsselsheim – alle Automobilhersteller scheinen eine Charme-Offensive gestartet zu haben, um die Zulieferer zu umwerben. Der Grund: Das viel diskutierte Thema „unternehmensübergreifende Zusammenarbeit“ ist in der Praxis angekommen. Längst sind sich alle Beteiligten einig darin, dass neue Potenziale in der Automobilindustrie nur durch eine Optimierung der unternehmensübergreifenden Prozesse umgesetzt werden können.
Da geht es um die Lebensader der Branche. Prof. Dr. Ulrich Seiffert, Leiter des Fachbereichs Fahrzeugverkehr beim VDI: „In den letzten Jahrzehnten wurden enorme Investitionen in neue Technologien für die Automobile getätigt.“ Doch dort seien die Reserven für zukünftiges Wachstum nahezu ausgeschöpft. „Reale Möglichkeiten liegen in der Rationalisierung der Prozesse“, so der Experte jüngst auf dem vierten Jahrestreffen der Automobil-Supplier in Frankfurt/M.
Aller Orten laufen derzeit Projekte, um die Zuliefernetzwerke auszuleuchten. Für viele OEMs sind sie eine Black-Box. Zu lange konzentrierten sie sich auf die Zusammenarbeit mit den direkt liefernden Systempartnern. Unterlieferanten gerieten aus dem Fokus.
Jetzt geht vermehrt die Angst vor einem Peitschenschlag-Effekt um: Kleine Unzuverlässigkeiten am Anfang der Lieferkette können zu großen Problem beim OEM führen. Da steht schon mal ein Band still, weil einfache Schrauben fehlen. „Das ist immer noch ein Riesenproblem, keiner hat es so richtig im Griff“, sagt Professor Ulrich Thonemann, der in Münster ein Institut für Supply Chain Management leitet.
Obwohl das Phänomen aus Lieferketten beim Handel bekannt ist, steht die Wissenschaft einigermaßen ratlos vor dem Effekt. Ein Auto besteht heute zu 60 % bis 70 % aus Zulieferteilen, ein PC zu 70 % bis 80 %. Besonders JIT-Belieferungen sind anfällig für Pannen.
Jetzt will ein Physiker vom Institut für Wirtschaft und Verkehr an der Uni Dresden das Problem in den Griff bekommen. Professor Dirk Helbing hat sich einen Namen gemacht bei der Simulation von Verkehrsstaus, Vogelschwärmen und Massenpaniken. Diese Erkenntnisse könnten auch in der Logistik helfen.
Aus der Paniksimulation ist bekannt: Je schneller Menschen aus einem Raum fliehen wollen, desto häufiger kommt es zu Blockaden an den Türen. Verlassen die Flüchtenden den Raum verhältnismäßig langsam und mit gleicher Geschwindigkeit, geht es schneller. Helbing nun glaubt, berechnen zu können, welche Geschwindigkeit Prozesse staufrei hält. Da sei langsamer manchmal schneller.
Erprobt wurden die Rechenmodelle schon in der Wafer-Produktion bei Infineon. Ein Student schaffte es, eine Anlage um 30 % schneller zu machen – vor allem dadurch, dass er manche Schritte verlangsamte und so Staus vermied.
Beim Smart Forfour rückten die Planer beispielsweise bei einem Modul vom strengen JIT-Prozess ab. Zulieferer Johnson Controls übernimmt dort die komplette Montage des Cockpit – inklusive der Steuerung von rund 50 Unterlieferanten. Die Koordination erfolgt mittels eines Prozesses, der Perlenkette genannt wird. Im Gegensatz zur JIT-Produktion steht bereits mehrere Tage im Voraus die genaue Reihenfolge der Fahrzeug-Produktion fest.
Gleichgültig, welche Prozesse im Liefernetzwerk praktiziert werden, die einzelnen Teilnehmer müssen jede Menge Daten austauschen – und vor allem bereit dazu sein. Viele Zulieferer wollen nicht gläsern werden, sie befürchten Missbrauch. Schließlich regieren gerade in der Automobilzulieferei noch immer die harten Bandagen der Preisreduzierungen. So forderte der Verband der Automobilindustrie (VDA) die Ford Motor Company eindringlich auf, ihre neuen Einkaufsbedingungen gründlich zu überarbeiten, da diese unter anderem gegen das EU-Kartellrecht verstoßen würden und nach deutschem Recht sittenwidrig seien. Der US-Autoriese hatte seine deutschen Zulieferer zum wiederholten Mal zur Unterzeichnung der Ford Production Purchasing Global Terms and Conditions (PPGTC) aufgefordert.
Auch BMW zog bei den Zulieferern die Daumenschrauben an. Im Rahmen eines zu Jahresbeginn gestarteten Cost-Down-Projekts wurden die Lieferanten vom Konzern aufgefordert, eine „integrierte Qualitäts- und Kostenoffensive“ zu starten. Ziel sei es, „bei allen Partnern einen nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg zu erzielen“. Über die Höhe der geplanten Einsparungen, die Fristen und die Anzahl der Lieferanten will der Konzern keine Angaben machen – für BMW sei die Verbesserung von Prozessen und Kostenstrukturen Tagesgeschäft, heißt es dazu bei den Münchnern.
Vor dem Hintergrund sinkender Verkaufserlöse und steigender Vertriebskosten hat Daimler-Chrysler-Chef Jürgen Schrempp dem Einkauf der Mercedes-Benz Car Group (MCG) einen rigiden Sparkurs verordnet. 150 Zulieferer des Unternehmens wurden im Rahmen der Verkaufsgespräche für 2004 aufgefordert, ihre Preise in den nächsten drei Jahren um jeweils 5 % zu senken – 2 % pauschal, weitere 3 % durch technische Änderungen an den bestellten Fahrzeugteilen. Auch vom „For Motion“ genannte Sparpaket bei VW befürchten die Zulieferer Preisdruck. Immerhin will der Konzern bis Ende 2005 insgesamt 4 Mrd. Euro einsparen.
Zu den Kämpfen um Preise und Einsparpotenziale kommen solche um Qualität und Regress. Nach zwei Rückrufaktionen beim Cayenne hat Porsche-Chef Wendelin Wiedeking der Zulieferindustrie gedroht: „Irgendwann werde ich die Lieferanten – die sind ja vielfach auch börsenorientiert – vielleicht einfach nennen.“ Nicht zufällig setzte vor diesem Hintergrund Professor Johannes Walter hinter den Titel des diesjährigen Industrieforums in Wolfsburg ein Fragezeichen: Mit „Collaborative Business – Vision oder Realität?“ war der Kongress überschrieben (s. Nachgefragt).
Denn die Automobilhersteller wissen, dass die Zulieferer mitziehen müssen, wenn es darum geht, mehr Steuerbarkeit in die eng verflochtenen Netzwerke zu bringen. Die Planer sind überall dabei, neue Datenhighways zu bauen. Nach Möglichkeit wird neuerdings auf Empfindlichkeiten Rücksicht genommen.
So zeigt eine Initiative von Daimler-Chrysler Toleranz. Dort wurden rund 4900 Geschäftspartner mit einer stark uneinheitlichen IT-Infrastruktur über die Business Integration Plattform von Indatex und T-Systems angebunden. Und das „ohne in die internen Systeme einzugreifen“, so die Darstellung der beiden IT-Unternehmen. „Wer sich allein auf Standardisierungsinitiativen verlässt, wird verlieren“, behauptet Stefan Tittel, Chef der Indatex SCI GmbH.
Und auch bei BMW sorgt das BeloM-Projekt (belegoptimierter Materialfluss) für einfachere Abläufe. Täglich erreichen das BMW-Werk in Dingolfing rund 15 000 Container. Neue 2D-Barcodes, beschleunigen den Wareneingang. Die Zulieferer wandeln ihre Daten über den BeloM-Engine um, so dass alle Informationen enthalten sind. Dafür müssen die Prozesse nicht umgestellt werden. „25 Prozent unserer Zulieferer sind für den neuen BeloM-Prozess gerüstet. Dies zeigt die große Akzeptanz des zukünftigen Systems“, berichtet BMW-Manager Bernd Lübeck.
Am weitesten dürfte VW im Bereich Beschaffung sein: Die Steuerung der Lieferkette soll über eine einzige, einheitliche Plattform abgewickelt werden. Nur noch über dieses B2B-Portal sollen Lieferanten aller Couleur Zutritt erlangen.
Nahezu sein gesamtes Beschaffungsvolumen in Höhe von über 50 Mrd. Euro wickelt der Konzern über das Internet ab. Unter dem Namen VW Group Supply.com sind die wesentlichen Bausteine bereits in allen Marken und Regionen des Konzerns eingeführt (s. Kasten). Dr. Martin Hofmann, Leiter der Abteilung Konzern Beschaffungsplanung und -strategie: „Die B2B-Aktivitäten werden ausgehend von der Beschaffung sukzessive auf alle anderen Konzernbereiche ausgerollt.“
Standards allein lösen nicht das Problem

Die Lieferanten-Plattform von VW
Mit der B2B-Plattform setzt VW Maßstäbe in der Branche. Seit dem Jahr 2000 bauen die Wertschöpfungs-Netzwerker an dem Portal. Bislang bestehen folgende Module:
Online-Anfragen (ESL)
  • 5500 integrierte Lieferanten
  • 880 000 Anfragen abgewickelt
Online-Verhandlungen
  • 26 000 Lieferanten haben an Online-Verhandlungen teilgenommen (inkl. mehrfach teilnehmender Lieferanten)
  • 4200 Online-Verhandlungen durchgeführt
  • 45 Mrd. Euro Volumenumsatz (über Laufzeit) verhandelt
Kapazitätsmanagement (eCap)
  • 200 Lieferanten integriert, davon sind 60 bereits in das neue Release eCAP/3 migriert
  • 4000 kritische Teile identifiziert
AMES-T
  • 440 Lieferanten deutschlandweit angebunden
  • Mehrere Werke sind in die kontrollierte Abholung eingebunden: Wolfsburg, Audi Ingolstadt, Audi Neckarsulm, Hannover, CKD Wolfsburg, Emden, Skoda, Mosel
  • Auto 5000 startet mit der kontrollierten Abholung in KW 11
  • 14 Volkswagen Konzernwerke angebunden (Marken Volkswagen, Volkswagen Nutzfahrzeuge, Audi, Skoda)
  • 7 Gebietsspediteure angebunden

  • „OEMs haben in vielen Bereichen die Übersicht verloren“

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    Nachgefragt

    Prof. Dr. Johannes Walther aus Wolfsburg sieht die Zukunft der Zusammenarbeit zwischen Hersteller und Zulieferer im Collaborative Business.
    Thomas Baumgärtner
    Automobilhersteller betonen auffallend den Willen zur guten Zusammenarbeit mit den Lieferanten. Schwingt da Angst vor Abhängigkeit mit?
    Heute übernehmen weitgehend die Tier-Tier-Lieferanten die Planung, Steuerung und Kontrolle der vorgelagerten Leistungsprozesse in der Supply Chain. Die Übersicht über die Netzwerkstrukturen ist damit für die Hersteller in vielen Bereichen verloren gegangen. Insofern sind gewisse Abhängigkeiten und damit der Wunsch der OEMs entstanden, mehr Transparenz in Bezug auf ihre Netzwerkstrukturen zu erlangen.
    Sie plädieren für mehr Vertrauen. Haben ethische Werte für Geschäftsbeziehungen einen Sinn?
    Ja, denn durch Vertrauen können Nutzenpotenziale realisiert werden, die durch vertragliche Regelungen nicht erschlossen werden können. Nehmen wir als Beispiel die Partnerschaftliche Prozesskostenoptimierung der Volkswagen AG. Das Ziel dieses Projektes besteht darin, Kostensenkungspotenziale an der Schnittstelle zwischen OEM und First-Tier-Lieferanten zu identifizieren.
    Wie verläuft das in der Praxis?
    Die Verbesserungsvorschläge werden dabei wesentlich von den Lieferanten formuliert. Die Verteilung des Erfolges erfolgt dabei jeweils hälftig im Jahr der Realisierung. Verträge helfen dort nur bedingt weiter. Der kritische Erfolgsfaktor besteht vielmehr in der Schaffung und Konsolidierung von Vertrauen. Den praktischen Nutzen dokumentiert ein bisher im Rahmen des Projektes erzieltes Einsparvolumen von über 100 Mio. Euro.
    Das Industrieforum stellten Sie unter den Titel: „Collaborative Business – Vision oder Realität?“. Wie würden Sie die Frage jetzt beantworten?
    Zweifellos ist Collaborative Business – insbesondere in schwierigen Zeiten – eine anspruchsvolle Herausforderung für Unternehmen. Erste Beispiele zeigen aber, dass diese Konzeption durchaus Realität werden kann, und bestätigen, dass es richtig ist, diesen Weg zu beschreiten. Insofern wird uns Collaborative Business als Paradigma für die Ausgestaltung von Kooperationen in der Automobilindustrie langfristig begleiten.
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