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Industrie 4.0: Die schleichende Revolution

Smart Factory kommt nicht vor 2025
Industrie 4.0: Die schleichende Revolution

Die diesjährige Hannover Messe stand ganz im Zeichen von Industrie 4.0. Kaum ein Unternehmen wagte es, nicht auf den Zug aufzuspringen. Doch was genau die Branche erwartet und wann wir mit der digitalen Fabrik rechnen können, konnte die Messe nicht beantworten.

„Noch nie hat sich die Fertigungswelt und Produktionstechnik so schnell und grundlegend verändert wie heute“ – Mit diesem Satz hat Siegfried Russwurm, CEO des Sektors Industry und Mitglied des Vorstands der Siemens AG auf der Hannover Messe zusammengefasst, was der Großteil der Branche derzeit immer wieder betont. Industrie 4.0 war auf der Hannover Messe noch mehr als bereits vier Wochen zuvor auf der Cebit das überall vorherrschende Thema. Wer in diesem Jahr die weltweit wichtigste und größte Industriemesse besuchte, hatte keine Chance, diesem Schlagwort zu entgehen und auch die Medien stützten sich in diesen Tagen auf den Begriff, der absichtlich Assoziationen zu Web 2.0 weckt. Doch immer wieder gehörte Fragen lauteten: Woraus genau besteht Industrie 4.0 eigentlich? Wann kommt sie? Und vor allem: Gab es das nicht alles schon? Befriedigende Antworten waren rar.

Heute wird von zentraler Stelle aus bestimmt, was produziert werden soll und die Maschine beziehungsweise Fertigungsanlage entsprechend gesteuert. Diese Steuerung soll es bei Industrie-4.0-Systemen jedoch nicht mehr geben. Die klassische Automatisierungspyramide soll durch ein Netzwerk abgelöst werden, das durch viele intelligente Komponenten gekennzeichnet ist, die in diesem Netzwerk agieren. „Diese Wandlungsfähigkeit erlaubt es, schnell und einfach auf sich ändernde Kundenwünsche zu reagieren und gleichzeitig wettbewerbsfähig zu fertigen“, erklärt Michael Höing, Leiter der Division Elektronik bei Weidmüller. „Um dieses zu realisieren, sind alle Komponenten über ein Netzwerk verbunden, indem sie interaktiv miteinander kommunizieren.“
Komplett neu ist die Idee der „Integrated Industry“, wie sie auf Hannover Messe auch genannt wird, tatsächlich nicht: Unter dem Begriff Computer-Integrated-Manufacturing (CIM) sollte in den siebziger und achtziger Jahren die Verbindung zwischen Fabrikautomation, Produktionsplanung und -Steuerung geschaffen werden. Der Versuch scheiterte an der fehlenden Sensorik, Aktorik und IT. „Heute sind wir technologisch wesentlich weiter und sprechen zu Recht von der vierten industriellen Revolution, der Industrie 4.0“, beteuerte Friedhelm Loh, Präsident des Zentralverband Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI) zu Beginn seiner Eröffnungsrede der Hannover Messe. Während beim CIM-Versuch die Computertechnik den Menschen weitgehend aus der Fabrik verbannen sollte, versprechen Verfechter von Industrie 4.0 nun, dass der Mensch in der smarten Fabrik weiterhin eine entscheidende Rolle einnehmen soll (siehe dazu auch Kastentext) .
Die notwendige Technik für autonome Fertigungsprozesse ist zum großen Teil schon vorhanden. Drahtlose Netzwerke sind inzwischen fabriktauglich, Sensoren klein und preiswert genug. Die Herausforderung besteht darin, die verfügbare Technologien zu kombinieren. Dabei sind jedoch noch zahlreiche Hürden zu nehmen. Was fehlt, sind vorallem einheitliche Standards. „Wenn wir heute schon Standards hätten, ginge es weit schneller vorwärts“, meint Frank Possel-Dölken, Director Manufacturing Systems bei Phoenix Contact. „Die heutige Entwicklung von Standards ist zu langsam.“
Um diese voranzutreiben, hatten die Industrieverbände Bitkom, VDMA und ZVEI im Januar eine gemeinsame Geschäftsstelle mit Sitz in Frankfurt am Main gegründet, die nun anlässlich der Hannover Messe ihren Betrieb aufgenommen hat. Sie soll die Aktivitäten der „Plattform Industrie 4.0“ koordinieren, die das „Zukunftsprojekt Industrie 4.0“ der Hightech-Strategie der Bundesregierung weiterführen soll.
Die Aufgabe der Plattform ist es, über die Fortschritte der Zusammenarbeit zu informieren und als zentraler Ansprechpartner für Wirtschaft, Politik und Medien zu dienen. In Arbeitsgruppen sollen verschiedene Aspekte wie Standardisierung, Arbeitsgestaltung und -organisation, Sicherheit, Forschung und rechtliche Rahmenbedingungen bearbeitet werden.
Die Bundesregierung misst der vierten industriellen Revolution große Bedeutung zu. Sie will Deutschland als Anbieter und Anwender Cyber-Physischer Systeme (CPS) zum Leitmarkt machen. 200 Mio. Euro Fördergelder sollen dazu in den nächsten Jahren für Forschungsprojekte zur Verfügung gestellt werden. Die integrierte Industrie soll die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Branche für die kommenden Jahrzehnte sicherstellen und Vorsprung vor der aufholenden Konkurrenz aus Asien sichern.
Johanna Wanka, Bundesministerin für Bildung und Forschung, sagte auf einer Pressekonferenz der Verbände Bitkom, VDMA und ZVEI zum Start der Plattform Industrie 4.0: „Mit dem Zukunftsprojekt Industrie 4.0 haben wir die Chance, diesen Prozess erfolgreich mit zu gestalten und damit das hohe deutsche Wohlstandsniveau auch langfristig zu sichern. Forschung kann dazu beitragen, Produktionsprozesse neu zu organisieren und Strukturen zu verbessern. Aber genauso wichtig ist es, dass diese Ergebnisse auch schnell in den Alltag der Unternehmen einziehen.“
Der „Arbeitskreis Industrie 4.0“ übergab auf der Hannover Messe Bundeskanzlerin Angela Merkel konkrete Umsetzungsempfehlungen. Der durch die „Forschungsunion Wirtschaft – Wissenschaft“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung initiierte Arbeitskreis beleuchtet in seinem Abschlussbericht die Voraussetzungen für den erfolgreichen Aufbruch ins vierte industrielle Zeitalter. Mit seinem Bericht präsentiert der Arbeitskreis eine Bestandsaufnahme über die technologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen von Industrie 4.0. Konkrete Anwendungsbeispiele sollen neue Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsnetzwerke veranschaulichen, die das Zusammenwachsen von Produktion und IT ermöglichen und strategische Empfehlungen den Weg zum Leitmarkt und Leitanbieter modernster Produktionstechnologien weisen.
Auf der Hannover Messe ließ es sich kaum ein Unternehmen nehmen, sein Engagement für Industrie 4.0 zu demonstrieren. Im Vordergrund stand dabei besonders die Software. Der Messestand von Siemens beispielsweise war so konzipiert, dass die Besucher den Weg entlang eines gesamten Produktentwicklungs- und Produktionsprozesses „beschreiten“ konnten, um zu erfahren, welche entscheidende Rolle Software-Lösungen heute für die Verbindung der Hardware-Komponenten spielen: von Design und Planung über das Engineering bis zum täglichen Betrieb und die entsprechenden Serviceleistungen. SAP präsentierte neue beziehungsweise aktualisierte Softwarelösungen für die Bereiche Produktentwicklung, Fertigung und nachhaltige Geschäftsabläufe, darunter mobile ERP-Apps für Smartphones und Tablets. Auch Eaton stellte eine Anwendung für Android-Handys vor, über die Anwender – das passende, hauseigene Steuerrelais vorausgesetzt – Maschinen oder Anlagen aus bis zu 10 m Entfernung steuern und bedienen lassen. Und Beckhoff Automation zeigte mit dem extended Transport System als Anwendungsbeispiel für die integrierte Industrie Automatisierungs- und Antriebtechnik basierend auf einer offenen, PC-basierten Steuerung.
An Industrie 4.0 wird wohl kein Weg vorbei führen. Der wird aber lang sein: Die Smart Factory werde kommen, aber nicht vor 2025, heißt es im aktuellen Trendreport des Verbands der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik (VDE). Von den 1300 befragten Mitgliedsunternehmen und Hochschulen sähen dies acht von zehn so, nur eine Minderheit (zwei von zehn) glaube an eine frühere Realisierung. Die größten Bremsklötze seien IT-Sicherheitsprobleme (siehe auch Titelthema des Industrieanzeigers 5/2013), fehlende Normen und Standards sowie der hohe Qualifizierungsbedarf: 47 % der Befragten meinen, die Hochschulen seien auf Industrie 4.0 nicht gut vorbereitet. 73 % sind allerdings der Meinung, dass Industrie 4.0 den Wirtschaftsstandort Deutschland stärken wird. Fünf von zehn sprechen Deutschland eine führende Stellung bei der intelligenten Produktionstechnologie zu. Profitieren würden insbesondere die Branchen Automobilbau (65 %), Maschinenbau (55 %) sowie die Elektrotechnik (48 %) und die IKT-Branche (31 %). In der Frage, ob die Revolutionierung der Produktionsprozesse mehr Arbeitsplätze schaffen wird, ist die Hälfte noch unentschieden.
Doch ob man bei der Digitalisierung der Industrie tatsächlich von einer Revolution sprechen kann, wird sich erst im Rückspiegel zeigen. Dr. Volker Denner, Vorsitzender der Geschäftsführung der Robert Bosch GmbH, bringt es auf den Punkt: „Wir werden nicht bei bestehenden Fertigungsanlagen den Stecker ziehen und diesen bei neu errichteten Industrie-4.0-Fabriken wieder einstecken.“ So zeigte sich auch Siemens-Vorstandsmitglied Russwurm in Hannover eher vorsichtig: „Die zunehmende Durchdringung der Prozesse durch Industriesoftware und die wachsende Integration aller industriellen Technologien findet aus heutiger Sicht in evolutionären Schritten statt“, sagte er. „Aber rückblickend könnte sich die komplette software-basierte Interaktion zwischen Mensch, Produkt und Maschine doch als echte industrielle Revolution erweisen.“ Derzeit gehe es erst einmal darum, die wesentlichen Grundlagen zu schaffen. „Doch es gibt noch einiges zu tun, bis Industrie 4.0 Realität wird.“

Ergebnisse der Fraunhofer-IAO-Studie

Das Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) erforscht in einer Umfrage zur Leitstudie „Industrie 4.0 – Produktionsarbeit der Zukunft“ den Faktor Mensch in der integrierten Industrie. Die zentralen Ergebnisse fasst das IAO in acht Hauptaussagen zusammen:
  • Automatisierung wird für immer kleinere Serien möglich – dennoch bleibt menschliche Arbeit weiterhin wichtiger Bestandteil der Produktion.
  • Flexibilität ist der Schlüsselfaktor für die Produktionsarbeit in Deutschland, zukünftig aber noch kurzfristiger als heute.
  • Flexibilität muss zielgerichtet und systematisch organisiert werden. Pauschal-Flexibilität reicht nicht mehr aus.
  • Industrie 4.0 heißt mehr als CPS-Vernetzung. Die Zukunft umfasst intelligente Datenaufnahme, -speicherung und -verteilung durch Objekte und Menschen.
  • Dezentrale Steuerungsmechanismen nehmen zu. Vollständige Autonomie dezentraler, sich selbst steuernder Objekte gibt es aber auf absehbare Zeit nicht.
  • Sicherheitsaspekte müssen schon beim Design intelligenter Produktionsanlagen berücksichtigt werden.
  • Aufgaben traditioneller Produktions- und Wissensarbeiter wachsen weiter zusammen. Produktionsarbeiter übernehmen vermehrt Aufgaben für die Produktentwicklung.
  • Mitarbeiter müssen für kurzfristigere, weniger planbare Arbeitstätigkeiten on-the-job qualifiziert werden.

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    Nachgefragt

    Auf der Hannover Messe war Industrie 4.0 das vorherrschende Thema. Wie wichtig ist das Thema langfristig für den Standort Deutschland?
    Ausgehend von der Überlegung, Produktionsanlagen zu schaffen, die neben der notwendigen Flexibilität auch das Beibehalten der Produktion in Hochlohnländern ermöglicht, zeigt derzeit die meisten Industrie-4.0-Aktivitäten fast ausschließlich die Automatisierungsbranche in Deutschland. Die Automatisierung oder die Automatisierungscommunity wird über intelligente Produktionsanlagen dieses Thema treiben bis hin zu Anlagen, die sich letztlich selbst steuern, selbst optimieren und die damit ganz neue Produktionsmöglichkeiten erlauben.
    Was wird in der Fabrik der Zukunft vor sich gehen?
    Die Kontrolle der Maschinen durch mobile Endgeräte oder mittels Fernzugriff ist eines der Konzepte, die derzeit verfolgt werden. Damit ließe sich zum einen die Produktion effizienter gestalten und zum anderen die Produktionsanlage jederzeit von jedem Ort komplett kontrollieren. Es darf dabei aber nicht zu unerlaubten Zugriffen auf die Daten kommen. Software und die dazu gehörenden Sicherheitsmechanismen sind daher ein großes Thema für die Realisierung von Industrie 4.0.
    Wird die Software also an Bedeutung gewinnen?
    Erst, wenn die Komponente selber weiß, welche Daten sie benötigt, beginnt Industrie 4.0. Diese Methoden und Mechanismen gibt es heute noch nicht, aber sie werden entstehen. Damit kommt in dieser gesamten Industrie-4.0-Welt der Software eine ganz entscheidende Bedeutung zu. Während die Hardware nur noch ein Prozessinterface darstellt, wird sie erst durch Software und insbesondere auch durch sich ständig wandelnde Software veredelt und kann völlig unterschiedliche Aufgaben übernehmen. Daher kommt der Software eine Schlüsselfunktion zu.
    Warum reicht es nicht, einfach die Effizienz in der Produktion zu steigern?
    Zunehmend fordern Anwender auch auf individuelle Anforderungen angepasste und gefertigte Produkte, und nicht mehr Produkte von der Stange. Die Automatisierungssysteme von morgen, die dafür erforderlich sind, kann man nicht mehr erzeugen, indem man einfach sagt, man erhöht den Output und wird effizienter – also 150 statt bisher 100 Kaffeemaschinen pro Tag. Der Schlüssel liegt in der Flexibilität in der Fertigung – also mehr verschiedene und individuellere Modelle in kürzerer Zeit. Oder in einer Lackieranlage, in der man zwölf verschiedene Lacksorten hat, die alle durch die gleiche Anlage geschickt werden. Wenn dies gelingt, erringen wir einen riesigen Wettbewerbsvorteil in der Kundenorientierung durch Flexibilität. ah
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