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Innovationsdynamik lässt manchen Zulieferer außer Atem geraten

Wertschöpfungsstruktur im Umbruch: Zukunftschancen des automobilen Mittelstandes sind ungewiss
Innovationsdynamik lässt manchen Zulieferer außer Atem geraten

Innovationsdynamik lässt manchen Zulieferer außer Atem geraten
Prof. Dr. Bernd Gottschalk, Präsident des Verbandes der Automobilindustrie e.V.(VDA) in Frankfurt (Bild: VDA): Zulieferer haben sich entlang der Wertschöpfungskette neu ausgerichtet. Seit dem Jahr 2000 liegen bereits 72 % der Fahrzeugfertigungskosten im Durchschnitt bei der Zulieferindustrie, Tendenz steigend (Bild: ZF)
Viele Zulieferer profitierten von den Outsourcing-Strategien der Automobilhersteller. Doch nun wendet sich der Trend gegen sie. Hohe Entwicklungskosten und der Zwang zum engen Datenverbund bringen den Mittelstand in Gefahr.

Thomas Baumgärtner ist Journalist in Kusterdingen

Wohl und Wehe der mittelständischen Zulieferindustrie liegen im automobilen Musterländle Baden-Württemberg nahe beisammen: Während die Harm GmbH Druckguss-Stanzerei, Esslingen, jüngst in Insolvenz ging, meldete zur gleichen Zeit, wenige Landkreise entfernt, die Progress-Werk Oberkirch AG (PWO) eine Umsatzsteigerung von flotten 14 %.
Welcher Weg Automobilzulieferer näher an den Abgrund oder aber in die Höhen des Erfolges führt, darüber gibt es derzeit so viele unterschiedliche Meinungen wie Experten. Berater Bernhard Rieder, Vice President von A.T. Kearney, sieht im Wachstum Gefahren und größere Mittelständler leicht in die Komplexitätsfalle tappen. Die seiner Meinung nach typische Gefährdetengruppe tätigt Umsätze zwischen 500 Mio. und 2,5 Mrd. Euro und verzeichnet oft einen Mangel an Steuerungsprozessen und Führungsinstrumenten. Das führe zu einem „Effizienznachteil von bis zu 40 % gegenüber vergleichbaren Großunternehmen wie auch gegenüber kleinen Mittelständlern“, so Kearny auf einer Gemeinschaftsveranstaltung von IKB Deutsche Industriebank AG, Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und der Stiftung Industrieforschung.
Dr. Alexander von Tippelskirch, Vorstandssprecher der IKB in Düsseldorf prophezeit diesen Unternehmen hingegen eine eher rosige Zukunft. Sie seien gefragt „als Dienstleister, als Entwicklungspartner, als Wegbereiter neuer Technologien“, so der Banker.
Die Vielfalt der Einschätzungen nährt sich wohl aus dem Umstand, dass die Herausforderungen an die Unternehmen mannigfaltiger geworden sind. Vor einigen Jahren war das noch einfacher: Die große Strukturumwälzung des vergangenen Jahrzehnts – von wenigen Experten vorzeitig, von manchen doch noch rechtzeitig prognostiziert – ist abgeschlossen: Die Zulieferpyramide hat sich in Folge des Outsourcings bei den OEM neu formiert. Die Zulieferer richteten sich in der Hierarchie aus und in ihrer jeweiligen Stufe ein. Und verdienten meist nicht schlecht. Dabei verlor die Branche offensichtlich den Biss des Anpassungsdrucks.
Der ist aber jetzt wieder gefragt. Nicht einmal so sehr wegen der flauen Konjunktur. Neue Herausforderungen ziehen wie dunkle Gewitterwolken am Horizont auf. Sie zu meistern, braucht es Anpassungsfähigkeit.
„Klassische Tugenden wie Qualität, Termin und Preis reichen nicht mehr aus“, warnt Professor Dr.-Ing. Cornel Stan. Er ist Vorstandsvorsitzender des Forschungs- und Transferzentrums an der Westsächsischen Hochschule Zwickau.
Stan zeigt sich überzeugt davon, dass von der automobilen Zuliefergemeinde noch eine „extreme Flexibilität“ abgefordert werden wird. Der Grund: eine enorme Innovationsdynamik beim Auto. Und in der Tat bewegt sich wegen der Komplexität des automobilen Systems einiges: vom Antrieb über Fahrwerk, Aerodynamik, aktiver und passiver Sicherheit bis hin zu Komfort, Information und Kommunikation.
Zu einem multimedialen Kommunikationszentrum soll das Auto beispielsweise avancieren. Die Passagiere können fernsehen, Videospiele nutzen oder im Internet surfen. Mega-Zulieferer Johnson Controls will die Vernetzung im Auto mit der Bluetooth-Technologie kabellos gestalten. Dank der drahtlosen Sprach- und Datenübertragung entfällt beispielsweise auch die Festinstallation des Autotelefons. Der Fahrer spricht über das fest installierte Mikrofon – egal, ob sich das Handy im Handschuhfach, im Aktenkoffer oder in der Jackentasche befindet.
Selbst bei Lenkung oder Bremsen sollen traditionelle Übertragungswege per Mechanik bald der Vergangenheit angehören. SKF arbeitet an Drive-by-Wire-Systemen. Elektronik überträgt dort beispielsweise Lenk- oder Bremsimpulse. Die mechanisch aufwendige und bei Unfällen oft gefährliche Lenksäule wäre dann entbehrlich.
Solche Highlights technischer Entwicklungen – allesamt von großen Systemzulieferanten vorangetrieben – zeigen nicht nur, wohin die Reise technologisch geht. An ihnen wird auch deutlich, was an der Rollenverteilung von OEM und Zulieferer zu erwarten ist:
  • Der Fertigungsanteil des Automobilherstellers sinkt im Zuge der Flexibilisierung weitgehend auf ein Niveau von unter 20 %.
  • Das kostengünstige Plattformkonzept wird vom innovationsfreudigeren Modularkonzept ersetzt. Der größere Zulieferer steigt über die Stufe Systemlieferant zum Modulhersteller auf.
  • Die Rolle des Zulieferers, zunehmend als Megasupplier, verantwortlich für ein gesamtes Funktionsmodul des Auotomobils, zwingt ihn zu Allianzen in verschiedenen Richtungen: in Bezug auf Innovation mit den Forschungszentren; im Sinne der effizienten Spezialisierung zu komplementär profilierten Zulieferern; hinsichtlich Kosten zu globalen Partnern. „Der Zuliefererumsatz wird dadurch mehr von Forschung und Entwicklung als von der Produktion selbst bestimmt“, meint der Zwickauer Forschungsprofessor Cornel Stan.
Stan spricht gar von einem Strukturwandel des Automobilunternehmens „vom vollständigen Fahrzeugbauer zum Manager einer räumlichen, modularen Vernetzung“. Und auch der Vorsitzende des VDA-Mittelstandsausschusses, Arndt G. Kirchhoff, sieht die neue Zeit: „In ein paar Jahren arbeiten wir in einer Automotive Community, einer voll vernetzten und integrierten Produktionsumgebung, in der die Zulieferer direkt daran beteiligt sind, an einem einzigen Band viele verschiedene Modelle zu montieren.“
Doch damit scheinen – vor allem mittelständische Zulieferer – überfordert. Denn solche intensive Vernetzungsabsichten gehen weit über das bisherige Outsourcing hinaus. Von den Auslagerungen profitierten bisher die Lieferanten. Die Verzahnung zehrt sie nun aus.
Oftmals fehlt es am lieben Geld, um neue Aufgaben zu übernehmen. Eingezwängt zwischen der in Folge von Basel II immer restriktiveren Kreditvergabepolitik der Banken einerseits und Preisvorgaben der Abnehmer andererseits, fehlt es den Mittelständlern an finanziellen Mitteln.
„Die Wertschöpfungskette darf nicht reißen“, warnte schon vor Monaten Prof. Dr. Bernd Gottschalk, Präsident des VDA, außergewöhnlich eindringlich die eigene Klientel. Es gelte, „die Finanzierungsengpässe der Zulieferindustrie“ zu lösen. Und zwar gemeinsam, so die Mahnung des Verbandschefs an die Automobilhersteller. Denn damit stehe und falle in einem immer größeren Ausmaß die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Automobilindustrie, unterstrich Gottschalk.
Als weitere Gefahrenquelle für die Zulieferer zeigt sich die Datentechnik. Je intensiver die Zusammenarbeit über Unternehmensgrenzen hinweg, desto mächtiger der Datenstrom. Viel Geld gaben die Mittelständler in den letzten Jahren aus, um die von den Abnehmern geforderte Netzwerkfähigkeit zu erlangen – mit niederschmetterndem Erfolg. Gerade mal 7 % bezeichnen nach einer Umfrage des europäischen Zulieferverbandes ihre Investitionen in dieser Richtung als erfolgreich. Das zeichne „ein erschreckendes Bild“, so Prof. Dr. Johannes Walther vom Institut für Produktionsmanagement an der Fachhochschule Braunschweig/Wolfenbüttel. Der Spezialist für Supply Network Management sieht das wesentliche Problem in der Heterogenität der IT-Landschaften.
Eine Lösung wären Vereinheitlichungen. Doch den Traum von Standards „habe ich ausgeträumt“, sagte jüngst Dieter Ruh auf einem Kongress in Wolfsburg. Der Geschäftsführer der Agamus Consult Unternehmensberatung GmbH zeigt sich überzeugt, dass es nicht darum gehen könne, die Unterschiedlichkeit zu beseitigen, bestenfalls darum, sie zu beherrschen.
Der Berater könnte Recht behalten. Schon beim Thema CAD ist es nicht gelungen, gültige Standards zu setzen. Erste Zulieferer nehmen bereits Abstand vom Aufstieg in die Klasse der besonders eng vernetzten Systemzulieferer. So besann sich die Freudenberg Dichtungs- und Schwingungstechnik (FDS), Weinheim, auf Althergebrachtes. Statt Systemen fertigt der Zulieferer wieder Komponenten. „Wir haben das Geschäft damit radikal beendet“, so Jörg Sost, Vorsitzender der Geschäftsleitung.
Die von Wettbewerbern belächelte Entscheidung habe sich als richtig herausgestellt, freut sich Sost. Denn im Jahr 2002 konnte FDS, die 50 % des Umsatzes mit der Automobilindustrie erwirtschaftet, ein deutliches Umsatzplus verbuchen: von 916 Mio. Euro auf 950 Mio. Euro. Sost zeigt sich mit diesem Ergebnis von der Richtigkeit des Schwenks überzeugt: „Wir sind auf dem richtigen Weg.“
Der Zuliefergemeinde wird zukünftig extreme Flexibilität abgefordert
Weniger kann mehr sein – das gilt auch bei der engen Vernetzung

„Wir bauen an einer Automotive-Community“

Nachgefragt

Unternehmer Arndt G. Kirchhoff, im VDA die Stimme der Zulieferer, sieht die Zukunft der mittelständischen Lieferanten im Netzwerk.
Thomas Baumgärtner
Herr Kirchhoff, wie sehen Sie die künftige Rollenverteilung zwischen Lieferant und Abnehmer?
Wir bauen an einer Automotive-Community in der kleine, mittlere und große Zulieferer im Netzwerk für einen Automobilstandort arbeiten, wobei auch die Dienstleistungsbranche, beispielsweise mit Logistik und Facility-Management eine immer stärkere Rolle übernimmt.
Müssen sich Zulieferer in solchen Netzwerken verstärkt in Betreibermodellen engagieren?
Betreibermodelle, wie sie schon lange aus dem Anlagenbau bekannt sind, machen Sinn, zum Beispiel bei großen Lackieranlagen. Bei mittelständischen Zulieferern glaube ich nicht an dieses Modell.
Bei den OEM beliebt und bei den Zulieferern gefürchtet scheint das Pay-on-Production-Prinzip.
Auch Pay-on-Production findet Anwendung, so beispielsweise im neu errichteten Zuliefererpark des Ford Fiesta in Köln. Dies bleibt letztlich eine Frage der Gesamtrechnung. Insbesondere mittelständische Zulieferer haben bei jetziger Ertragssituation nicht den finanziellen Spielraum, um sich auf diese Modelle einzulassen.
Welche Modelle wären für Sie denkbar?
Ich halte ein Modell für erstrebenswert, indem das Risiko entsprechend der Wertschöpfungsanteile und der Verantwortung für den Erfolg des Gesamtprodukts Auto fair, transparent und offen geteilt wird. Wenn sich der Autohersteller einer solchen gemeinsamen Lösung nicht entzieht, kann ich mir durchaus vorstellen, dass es auch Finanzierungen für eine ganze Autostadt einschließlich Zuliefererpark gibt.
Der VDA will Unternehmen bei der Kapitalbeschaffung per Rating helfen. Warum?
Da eine zunehmende Finanzierungslücke die Wettbewerbsfähigkeit speziell in der Automobil-Zulieferindustrie bedroht, wird das Rating zur wichtigsten Voraussetzung für die Sicherung einer nachhaltigen Unternehmensfinanzierung.
Wie sieht die Hilfe für die Mittelständler konkret aus?
Mit dem VDA-Rating-Tool, ein für die Marktgegebenheiten der Automobilindustrie entsprechend modifiziertes Tool einer renommierten Rating-Agentur, wird den Unternehmen ein hervorragendes Eigenanalyse-Instrument an die Hand gegeben. Jeder Anwender des VDA-Rating-Tool erhält nach Beantwortung der quantitativen und qualitativen Fragenkomplexe eine rund 30-seitige, auf die spezielle Situation des Unternehmens zugeschnittene Auswertung.
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