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Automatisierung: Standard steht vor dem Durchbruch

Automatisierung
Standard steht vor dem Durchbruch

Noch gibt es zu viele Bus-Schnittstellen für eine vernetzte Produktion. Der Echtzeit-Standard TSN soll das in Verbindung mit dem Protokoll OPC UA in der Feldebene ändern. Unternehmen bieten bereits erste Ansätze und Applikationen.

Werner Möller
Freier Fachjournalist in Essen

Will ein Unternehmen den Industrie-4.0-Ansatz der vernetzten Produktionsumgebung umsetzen, wird es noch von einer Vielzahl an Bus-Schnittstellen gebremst. Der Echtzeit-Ethernet-Standard Time Sensitive Networking (TSN) soll in Verbindung mit dem Machine-to-Machine-Kommunikationsprotokoll OPC UA in der Feldebene als einheitliches Protokoll die Kommunikation im Industrial Internet of Things (IIoT) von der IT bis zur Steuerungsebene gewährleisten. Viele Experten sind sich einig: OPC UA TSN spielt als Kommunikationslösung in der industriellen Automation bald eine große Rolle.

OPC-UA-Standard ist bei Steuerungsherstellern weit verbreitet

Fast alle Steuerungshersteller haben den offenen OPC-UA-Standard heute schon in ihre Produkte integriert. Maschinen- und Anlagenbetreiber ergeben sich damit nicht mehr in Abhängigkeit bestimmter Anbieter. Mit dem Protokoll tun sich zudem neue Optionen der Differenzierung auf: Die Zahl der Knoten in den Netzwerken wird von rund 40 künftig auf 1000 oder mehr Knoten steigen. Aktuell werden Software-Tools entwickelt, die die Anzahl der Knoten korrekt verwalten und ohne großes IT-Wissen der Anwender bedienbar machen. Mit den Knoten vervielfacht sich auch das Datenvolumen. Hier liegt in den Informationsmodellen von OPC UA gegenüber herkömmlichen Feldbus-Protokollen der Vorteil. Klassische Bussysteme übertragen Zahlen ohne Einheiten oder sonstige Informationen und nur die Steuerung weiß die Daten zu interpretieren. Das reicht aus, wenn die Maschinen autark laufen.

Werden die Daten in andere Systeme wie Scada, MES/ERP oder die Cloud übertragen, sind sie dort dimensionslos. OPC UA sorgt nun dafür, dass aus diesen Daten verwertbare Informationen werden. Das vereinfacht die Kommunikation von der Steuerungsebene zu übergeordneten Systemen. „Mithilfe der OPC-UA-Implementierung werden die IT und die Fertigung in Zukunft problemlos zusammenfinden“, erklärt Stefan Hoppe, Vice President der OPC Foundation.

Wenn übergeordnete Systeme aus dem IT-Bereich Anfragen in das Maschinennetzwerk (Operational Technology, kurz: OT) schicken, steigt aber die Netzwerklast und die in Echtzeit arbeitenden Maschinenprozesse geraten aus dem Takt. In einem Referenz-Stack von Microsoft wurden daher die Netzwerke getrennt aufgebaut, weil der IT die zeitliche Exaktheit und der zyklische Datenverkehr der OT fehlt.

Mögliche Echtzeitanwendungen in Autos

Auch in Kraftfahrzeugen sind die übertragenen Datenmengen in den vergangenen Jahren exponentiell gestiegen. Die Bandbreite bisheriger Bussysteme reicht für die Anwendungen längst nicht mehr aus. In einem ersten Schritt hat die Automobilbranche daher den Standard IEE 802.1 AVB (Audio Video Bridging) übernommen, der ein synchronisiertes und priorisiertes Streaming von Audio- und Videodateien ermöglicht. Damit können zum Beispiel Daten einer Rückfahrkamera in einem Auto via Ethernet übertragen werden.

Mit dem Ziel, weitere Industrien zu erreichen und das Einsatzspektrum zu erhöhen, hat sich aus der AVB-Arbeitsgruppe die TSN-Initiative entwickelt. Ziel der Automobilbranche ist es, auch Steuerungsaufgaben und Anwendungen, die die funktionale Sicherheit betreffen – wie autonomes Fahren –, über Ethernet abzuwickeln. Dafür sind Zykluszeiten im Echtzeitbereich und ein deterministisches Netzwerkverhalten Voraussetzung.

Das dabei verwendete Protokoll OPC UA selbst echtzeitfähig zu machen, wäre mit hohem Aufwand und vielen Nachteilen verbunden. Daher soll OPC UA auf TSN aufsetzen. Für die Automatisierungsindustrie wäre die Unterstützung der Automobilbranche für TSN (wie beim Can-Bus) vorteilhaft, da die nötigen Halbleiter-Baugruppen schnell und kostengünstig verfügbar sind.

Internet-Automatisierung erfordert ein Netzwerk

In der Industrieautomatisierung ermöglicht erst die Kombination von OPC UA und TSN das Auflösen der klassischen Automatisierungspyramide mit ihren unterschiedlichen Netzwerkebenen. Damit wird das Kommunikationsprotokoll echtzeitfähig und potenziell eine Alternative zu Industrial-Ethernet-Protokollen. Das macht es für viele Hersteller attraktiv: „Wir werden die Kombination der Technologien in unseren Produkten unterstützen“, sagt Martin Müller, Vice President I/Os und Netzwerke bei Phoenix Contact.

Mit TSN lassen sich zukünftig allgemeine sowie zeitkritische Daten über ein gemeinsames Netzwerk übertragen. Unterschiedliche Standards auf Basis der IEEE 802.1 definieren neue Mechanismen, die in einem Netzwerk kombiniert agieren. Der Vorteil ist die gleichzeitige Übertragung von zeitkritischen und zyklischen aber auch nicht-zeitkritischen Daten auf der gleichen Physik. Da moderne Produktionsnetzwerke auf Gigabit-Ethernet oder höheren Übertragungsraten aufsetzen, löst sich gleichzeitig der Flaschenhals der Bandbreite auf, der mittlerweile nicht nur bei Feldbussen, sondern auch bei Industrial-Ethernet-Protokollen erreicht ist. Es muss aber auch gesagt werden, dass TSN nicht automatisch OPC UA bedingt. Das sind zwei unabhängige Techniken. OPC UA kann bei der Vernetzung von Steuerungen eine Rolle spielen. In diesem Bereich ist Publish/Subscribe mit TSN von Vorteil. Ob es darüber hinaus auch auf der Feldebene eine Rolle spielen kann, müsse sich erst beweisen, argumentieren Skeptiker.

OPC UA TSN lässt Grenzen verschwimmen

„Es ist absehbar, dass die Kombination von OPC UA und TSN in der Automatisierung von Produktionsstätten neue Architekturen ermöglicht“, betont dagegen Befürworter Sebastian Sachse. Der Technology Manager Open Automation bei B & R sieht die bisher bestehenden Grenzen verschwimmen. Untermauert wird dies durch aktuelle Tests mit dem TSN-Netzwerkspezialisten TTTech: Zeitkritische Anwendungen auf Linienebene, wie die Synchronisierung von Förderbändern mit unterschiedlichen Maschinen- oder Anlagenteilen, erfordern Zykluszeiten von bis zu 2 ms. „Diesen Wert haben wir in Versuchsanlagen deutlich unterboten“, sagt Sachse. Der gemessene Jitter erreicht bis zu 100 ns und liegt damit gleichauf mit den besten verfügbaren Feldbussen. „Beeindruckend ist auch die Stabilität, mit der unsere Testaufbauten bereits jetzt laufen“, betont Sachse.

Unternehmen können Geräte in TSN-Testbeds testen

Das Industrial Internet Consortium (IIC) bietet Unternehmen die Möglichkeit in sogenannten TSN-Testbeds ihre entsprechenden Geräte zu testen. Neben dem Industrial IoT Lab von National Instruments in Austin, Texas, gibt es ein Testbed in Erbach in Deutschland. Dort betreibt Bosch Rexroth einen Entwicklungsstandort für Steuerungs- und Kommunikationslösungen für das IoT. Dadurch können neben bisherigen Unternehmen wie ABB, B & R, Belden, Cisco, General Electric, Intel, Ixia, Kuka, National Instruments, Parker Hannifin, Phoenix Contact, Renesas, Schneider Electric, SEW-Eurodrive, TTTech und Xilinxnun weitere Unternehmen an den Plugfests und dem Testbed teilnehmen. Auch Hilscher und Sick testen ihre OPC-UA-TSN-Geräte in dieser Umgebung. Aktuelle Ergebnisse der TSN-Textbeds werden auf der Hannover Messe 2018 auf den Ständen der OPC Foundation und des IIC gezeigt.

Mehr Infos zu den Organisationen finden Sie hier: www.opcfoundation.org und www.iiconsortium.org

Hersteller arbeiten auch bereits an ersten Geräten mit TSN-Funktionalitäten. Der österreichische Automatisierer B & R etwa hat entschieden, sich aktiv bei der Entwicklung von OPC UA TSN einzubringen. Prototypen der Hersteller-Geräte sind seit längerem mit Geräten weiterer Hersteller in Testinstallationen im Einsatz, etwa zum Interoperabilitätstest im TSN-Testbed des IIC. Die aus den Testinstallationen gewonnenen Ergebnisse zeigen das Potenzial der Technologie: OPC UA TSN soll in Kürze die durchgängige Kommunikation vom Sensor bis in die Cloud ermöglichen. Damit würden sämtliche Schnittstellen überflüssig, heißt es. Auf der Branchenmesse SPS IPC Drives stellte der Anbieter eine passende Produktlösung vor: Die Orange Box ermöglicht über OPC UA das Einbinden von Bestandsanlagen in Produktionsnetzwerke, ohne dass bestehende Maschinen verändert werden müssen.

Auch Beckhoff bietet mit integrierten TSN-Funktionalitäten in seinem EK-1000-Buskoppler die Möglichkeit, Ethercat-Segmente über ein heterogenes Ethernet-Netzwerk an eine abgesetzte Ethercat-Steuerung anzubinden. So können die Verzögerungszeiten im Ethernet-Netzwerk durch Switche minimiert werden.

Ethernet wird die Feldbusse verdrängen

Nur wo werden die Grenzen des Einsatzes liegen? In diesem Punkt herrscht noch kein Konsens in der Branche. Akteure wie die Profibus-Nutzerorganisation sind überzeugt, dass OPC UA TSN die Zukunft gehört, allerdings begrenzt auf das Einsatzfeld von der Cloud bis in die Steuerungsebene. Die klassische Feldebene der Automatisierungspyramide werde weiterhin durch Lösungen wie Profinet IRT, Ehtercat und Sercos abgedeckt.

Anders sieht das die sogenannte Shaper Group, ein loser Firmenverbund von 17 Automatisierungs- und IT-Firmen. Ende 2017 bekräftigten Unternehmensvertreter der Gruppe ihre Unterstützung des Kommunikationsprotokolls (wir berichteten in Ausgabe 01/18). Testpläne für die Konformitätsprüfung der TSN-Zeitsynchronisation wurden von der Avnu Alliance fertiggestellt und sind für Testhäuser verfügbar. Innerhalb von 18 Monaten wurde in acht Plug-Festen die Interoperabilität zwischen Geräten unterschiedlicher, teilweise im Wettbewerb stehender Hersteller getestet und demonstriert. Das zeigt die Dynamik der Standardisierungs-Bemühungen.

„Wir gehen davon aus, dass OPC UA TSN schnell als neuer Standard im Bereich der Industrieautomation entstehen wird, der erste und einzige Kandidat für den Aufbau einer ganzheitlichen Kommunikationsinfrastruktur vom Sensor bis zur Cloud“ – prognostiziert ein Whitepaper der Shaper Group.


IIC versus Industrie 4.0: Was Testbeds leisten können

Das Industrial Internet Consortium (IIC) als globale, mitgliedergestützte Organisation will die Herausforderungen des Internet of Things bewältigen. Die Organisation setzt sich aus über 300 Mitgliedsunternehmen aus den Bereichen IT, produzierendem Gewerbe, Forschungseinrichtungen, Universitäten, Herstellern von Mikroprozessoren und Automatisierungsanbietern zusammen. Die Heterogenität soll zeigen, was IoT im industriellen Bereich ausmacht: Das Zusammenspiel von Automatisierungstechnik (Operational Technology – OT) und IT. Das Konsortium steht aber nicht in Konkurrenz zur deutschen Plattform Industrie 4.0. Nach IIC-Angaben ergänzen sich beide gut, weil sie unterschiedliche Herangehensweisen haben: Die Plattform Industrie 4.0 arbeitet auf einer sehr abstrakten Ebene und konzentriert sich auf die industrielle Produktion. Bei IIC liegt der Fokus auf praxisnahen Referenzarchitekturen und Testbeds.


Arbeitskreis TSN for Automation

Aufgrund des großen Interesses vonseiten der Industrie an der anwendungsnahen Evaluation von TSN für die Automatisierungstechnik hat das Institut für Steuerungstechnik und Werkzeugmaschinen (ISW) der Universität Stuttgart Mitte 2017 den Arbeitskreis TSN for Automation gegründet. Im Rahmen der Auftaktveranstaltung diskutierten 60 Vertreter von Automatisierungsanbietern und -anwendern über ein Konzept einer universellen Netzwerk-Schnittstelle für Teilnehmer in TSN-Netzwerken mit Kopplung an OPC UA. Hierfür sollen bestehende Stacks zu einem direkt einsetzbaren Paket gebündelt, angepasst und letztlich als Open-Source-Projekt bereitgestellt werden. In Stuttgart soll zudem ein TSN-Lab zur Demonstration und für Integrationstests einer exemplarischen Struktur einer konvergenten Netzinfrastruktur entstehen.

Die Orange Box von B & R ermöglicht über OPC UA das Einbinden von Bestandsanlagen in Produktionsnetzwerke, ohne dass bestehende Maschinen laut Anbieterangaben verändert werden müssen. Bild: B & R
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