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„Für Schönrederei ist der Wellengang zu groß“

Prof. Günther Schuh plädiert für nachhaltigen Kapazitätsabbau in produktionsunternehmen
„Für Schönrederei ist der Wellengang zu groß“

Unternehmen sollten sich jetzt konsequent mit Worst-Case-Szenarien befassen – und ihre Kapazitäten um mindestens 20 % reduzieren, rät Professor Günther Schuh vom Aachener WZL. Nur so lasse sich eine länger anhaltende Krise mit Blick auf Ergebnis und Liquidität überstehen.

Herr Professor Schuh, ärgern Sie als Produktionswissenschaftler nicht die sich ständig ändernden Prognosen der Vorhersagerzunft zur globalen Krise?

Was mich ärgert, ist vor allem die Inkonsequenz in der Analyse dieser Situation. Um mit einer solch tiefgreifenden Krise richtig umgehen zu können, ist es zunächst wichtig zu verstehen, was eigentlich passiert ist und sich dann mit der Ursache-Wirkung präzise auseinanderzusetzen. Die Firmenkapitäne, die großen wie die kleinen, müssen bei dieser hohen See immer noch gerade aus steuern können. Dazu sind sie aber nur in der Lage, wenn sie wissen, woher Wind und Strömung kommen. Das zu verstehen ist wichtig. Für Schönrederei und homöopathische Maßnahmen ist der Wellengang zu hoch!
Mit dem richtigen Verständnis für Ursache und Verlauf der Krise wächst auch die Gegenwehr?
Zumindest erhält man sich die Chance, auf die Krise richtig zu reagieren. Uns macht ja nicht nur die Finanzkrise zu schaffen, sondern die Effekte aus drei sich überlagernden Krisen. Einmal sind wir als Produktioner für die massiven Überkapazitäten in vielen unseren Branchen mitverantwortlich – ausgelöst durch die Euphorie des globalen Wirtschaftswachstums und den aufbrechenden Entwicklungsländern, die wir maximal erschließen wollten. Neben der Finanz- ist also auch eine Überkapazitätenblase geplatzt. Zum anderen ist die Wirtschaft, auch angestoßen durch staatliche Deregulierung, vor allem in den USA, in die Liquiditätskrise geschlittert. Und unter dem dritten Effekt leidet die Balance zwischen den globalen Absatzmärkten. Als es nie allen Regionen gleich schlecht ging, konnten wegbrechende Märkte kompensiert werden. Diese Balance fehlt jetzt. Zudem verstärken die Regularien der staatlichen Seite auf dem Finanzsektor die im Kern eklatante Krise.
Etwa Ratings, die es Unternehmen oft erschweren, an Kredite zu kommen?
Ja, maßgebliche Gesetze und Regularien wie Ratings, Rechnungslegungsvorschriften und Basel II sind prozyklisch ausgerichtet. Dass man schwache Wachstumsimpulse absichtlich verstärken wollte, war zwar gut gemeint. Allerdings geht der Verstärkungseffekt jetzt auch nach unten. Darum haben wir jetzt nicht nur eine substanzielle Korrektur des Marktbedarfs, sondern auch ein deutliches Überschwingen. Meine Befürchtung ist, dass der Krisenverlauf einem W-Modell folgt. Wir befinden uns mitten im Sinkflug, der momentan im Investitionsgüterbereich einem Sturzflug mit leicht abnehmender Tendenz gleicht. Der wird sich zwar hoffentlich in der zweiten Jahreshälfte 2009 bis 2010 hinein auffangen, dann aber wahrscheinlich nochmals – Volkswirtschaftler sprechen vom Dopple-Dip …
… einem zweimaligen „Abtauchen“ …
… mit hoher Wahrscheinlichkeit nochmals nachsacken. Ich halte es für fatal, dass wir Produktioner strukturell falsch auf die Krise reagieren.
Was läuft falsch?
Wir wissen, dass wir eine Nachfragekorrektur, ein Anpassen unserer Überkapazitäten vor Augen haben – vorsichtig geschätzt von mindestens 20 Prozent. Ich sehe in den meisten Maschinenbaubranchen, auch in der Automobilindustrie zwischen 20 und 30 Prozent als nachhaltige Kapazitätskorrektur für mindestens drei bis fünf Jahre. Von diesem abgesenkten Niveau aus gibt es jetzt noch negative Überschwinger, da sich manches aufstaut, etwa aus Liquiditätsgründen. Deshalb müssten die Unternehmen jetzt sofort ihre Kapazitäten um mindestens 20 Prozent strukturell anpassen.
Und Personal entlassen?
Ja, so hart das auch klingt. Zugleich müssen sie versuchen, mit Instrumenten wie der Kurzarbeit zu atmen. Aber was tun die Firmen stattdessen? Sie schicken die Leiharbeitskräfte nach Hause. Zu mehr hat man sich oft wider besseren Wissens nicht getraut, und sie vereinbaren Kurzarbeit in der irrigen Annahme, dass die personellen und sonstigen Kapazitäten schon morgen wieder gebraucht werden. Das halte ich für unrealistisch. Dadurch riskieren sie mehr, als sie sich morgen leisten können.
Kann man sich den Abbau von topqualifiziertem Personal, Ingenieuren gar, überhaupt leisten?
Die Krise verläuft querbeet und macht auch vor Ingenieuren nicht halt. Gut möglich, dass dem Ingenieurberuf, der mit die sichersten beruflichen Chancen bietet, leider wieder ein Negativeffekt droht. Darüber mache ich mir schon Sorgen. Auch wir als Hochschule müssen deshalb dagegenhalten. Insgesamt werden wir etwa 30 000 Teilnehmer-Weiterbildungstage in der Kurzarbeit jetzt hochfahren, bundesweit an 24 Standorten. Die Industrie muss die Zeit jetzt nutzen und qualifikationsmäßig intern im Sinne der strukturellen Intelligenz aufrüsten.
Und sich auf eine länger anhaltende Krise einstellen?
Ja, leider.
Aktuelle Umfragen signalisieren aber, dass es langsam besser wird.
Eine Erholung wäre sehr wünschenswert, um in dem Sturzflug wieder Kontrolle über das Steuer zu bekommen. An der Stelle verdient übrigens die Politik Respekt, weil sie beherzt zugegriffen und interveniert hat in Dimensionen, die bis dato unvorstellbar waren. Allein durch das damit ausgelöste psychologische Element wird dieser Aufwärtstrend unterstützt. Das setzt aber voraus, dass in den nächsten sechs Monaten keine großen Banken mehr zusammenbrechen. Dies und die Wirkung der weltweiten Konjunktur- und Finanzmarktstabilisierungsprogramme dürften zu so viel Zutrauen führen, dass sich der eine oder andere Stau kurzfristig auflösen und es zu einer kurzen Erholungswelle kommen wird.
Gemäß dem W-Verlauf der Konjunktur naht dann der nächste Abschwung?
Ja, ausgelöst durch Bilanzbereinigungen, die bei weitem die Wirkung der Kapazitätsbereinigungen übersteigen werden. Das aber wird noch lange nicht ausgestanden sein und führt zu diesem Dopple-Dip. In dessen Verlauf, so schätze ich, ergibt sich ein Minus von eher 30 Prozent, dem wird ein vielleicht zehnprozentiges Plus folgen, um dann nochmals mit 20 Prozent ins Minus zu sacken. Leider wird die anschließende Erholung …
… die wann einsetzen wird?
Frühestens in der zweiten Hälfte 2011. Die Erholung wird aber wegen des stark beeinträchtigten Eigen- und des Fremdkapitalmarkts sehr langsam verlaufen. Ein schnelles Wachstum würde viel Kapital benötigen, das aber nicht ohne weiteres verfügbar sein wird. Besonders fatal ist es, dass die Kreditausfälle der Realwirtschaft das Risiko aus den Überbewertungen der Finanzwelt weit übertreffen werden. Hochgerechnet entzieht der Bankensektor in Deutschland der Industrie rund 30 Prozent Fremdkapital. Dem Mittelstand geht dadurch teilweise die Puste aus. Umso wichtiger wäre es, Basel II außer Kraft zu setzen. In der Kreditklemme stecken selbst ordentliche Firmen, die heute 50, wenn nicht gar 80 Prozent Auftragsrückgänge hinnehmen müssen. Die brauchen dringend eine Finanzierungsüberbrückung, aber nicht nach klassischem Rating oder Basel-II-Kriterien. Für unseren Mittelstand muss man sich gewisse Absicherungs- und Finanzierungsalternativen ausdenken.
Was raten Sie den Unternehmen?
So schwer es auch fällt – sie müssen sich strukturell anpassen. Mengenmäßig, das sagte ich schon, muss ein Unternehmen mit Blick auf deutlich geringere Volumina jetzt die Kapazitäten anpassen, ohne dabei Know-how zu verlieren. Zweitens sollten die Firmen ihre Wertschöpfungbreite reduzieren und die Wertschöpfungstiefe punktuell erhöhen. Unsere komplexen Wertschöpfungsstrukturen samt dem Teiletourismus gehören auf den Prüfstand. Das ist doch die Gelegenheit, die Vielstufigkeit und das Umrunden der Welt durch Rohteile und Halbfabrikate einzudämmen. Was die Wertschöpfungstiefe betrifft, plädiere ich zwar nicht für ein radikales Umdenken. Aber ein Automobilkonzern ist heute nicht mehr in der Lage, alleine eine Innovation zu machen ohne einen Zulieferer. Das halte ich strategisch für falsch, da sich das Optimierungspotenzial nicht erschließen lässt. Aber auch Maschinenbauer müssen sich auf noch mehr Bereiche konzentrieren, die sie entwicklungs- und produktionsmäßig selbst beherrschen. Auch das erleichtert schließlich die Finanzierung.
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