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Effizient und flexibel – ein Spagat

Fertigung
Effizient und flexibel – ein Spagat

Der auf der IAA präsentierte „Smart Forvision“ lässt staunen und zeigt, wie wichtig Kunststoffe inzwischen im Automobilbau sind. Seine Features knüpfen an die Fortschritte bei den Werkstoffen und in der Verarbeitungstechnik an, die zunehmend komplexer wird. Wo bleibt da der kleinere Spritzgießverarbeiter? Die renommierten Maschinenhersteller geben Antworten.

Aus technologischer Sicht war die Vorstellung des Smart Forvision ein Paukenschlag: Dass Daimler das Chemieunternehmen BASF als Partner für die Konzeptstudie wählt, ist allein schon eine Sensation. Doch die im Smart Forvision präsentierten Features bleiben nicht zurück hinter den Erwartungen, die sich nun einstellen: dass dieses E-Mobil Großartiges auf Kunststoffbasis zu bieten hat. Und tatsächlich: Lichtdurchlässige, organische Solarzellen auf dem Dach produzieren Strom, während transparente, organische Leuchtdioden (OLEDs) das Fahrzeuginnere beim Türöffnen beleuchten. Tagsüber stellt sich ein Glasdacheffekt ein, nachts leuchten die Flächen blendfrei. Infrarot-reflektierende Lacke und in die Scheiben integrierte Folien dienen als Hitzeschild. Schon eher „klassisch“ muten da die Leichtbau-Sitze mit selbsttragender Kunststoffschale an oder die Karosserie-Elemente, die wie Chassis oder Türen aus faserverstärktem Kunststoff bestehen.

Das Highlight aber ist die spritzgegossene Vollkunststoff-Felge. Bereits auf Großserientauglichkeit geprüft, ist sie mehr als 30 % leichter als ein Aluminiumrad. Sie wiegt nur 6 kg und verringert das Fahrzeuggewicht um insgesamt 12 kg. Die Ankopplung und damit die Kraftübertragung zur Achse erfolgt durch Metalleinleger und Schrauben.
Die Vollkunststoff-Felge besteht aus dem neuen, Langfaser-verstärkten Spezial-Polyamid „Ultramid Structure“ der BASF und ist zweischalig aufgebaut. Beide Teile, Träger und Designblende, haben tragende Funktion im Fahrbetrieb. Sie werden in einem einstufigen Prozess gleichzeitig hergestellt – und zwar auf einer herkömmlichen Spritzgießanlage.
Jeder versierte Spritzgießverarbeiter wäre so gesehen in der Lage, mit technologischer Unterstützung von außen dieses Kunststoff-Rad zu produzieren. Doch so einfach ist es normalerweise nicht, wenn es darum geht, die bahnbrechenden Trends der Kunststoffverarbeitung umzusetzen. „Die Anlagen werden immer komplexer in Aufbau und Abläufen“, sagt Dr. Eberhard Duffner, Bereichsleiter Entwicklung bei Arburg, in unserer Industrieanzeiger-Umfrage unter den Spritzgießmaschinenbauern. Er fasst damit zusammen, welche Mittel für die Umsetzung notwendig sind: aufwändigere und damit teurere Anlagen sowie mehr verfahrenstechnisches Know-how. Für den Verarbeiter heißt das, dass entsprechende Investitionen erforderlich sind.
Dies wird schnell deutlich bei einem Blick auf die Trends, die oft durch faszinierende Werkstoff- und Prozessinnovationen ausgelöst wurden: Neben Energieeffizienz geht es um höhere Produktionseffizienz. Enorme Leistungssprünge ergeben sich durch Kombinieren von Verfahren in einstufigen Prozessen, durch Integrieren zusätzlicher Funktionen und durch Inline-Verkettungen bisher getrennter Abläufe. Selbstverständlich alles automatisiert.
Solche Prozessintegrationen können immense Zeit-, Kosten- und auch Qualitätsvorteile bewirken. So wird in einem Werkzeug nicht nur spritzgegossen, sondern auch abgedichtet, thermogeformt, farbig lackiert, mit kratzfesten Schutzschichten überzogen oder montiert. Anschließend mit Roboterhilfe vereinzelt, auf Qualität geprüft, separiert und verpackt.
Auf der Messe Fakuma wird eine Fülle solcher Beispiele zu sehen sein, oft in Form von „Exponaten“, die Anlagenhersteller, Werkzeugbauer und Materialspezialisten gemeinsam entwickelt haben. Einige davon sind auf S. 35 bis 37 nachzulesen, wo auch diejenigen Ergebnisse unserer Trendumfrage veröffentlicht sind, die sich auf die Messe beziehen. Ein Anwendungsbeispiel mag für alle stehen: Am Messestand von Spritzgießmaschinenbauer Engel können sich Besucher ein Bild vom automobilen Cockpit der Zukunft machen. Über die Mittelkonsole in edlem „Pianoblack“ lassen sich Bedienfunktionen ohne Knöpfe und Schalter aktivieren. Dazu bedarf es nur einer leichten Berührung der Oberfläche. Den Tastendruck nimmt eine durch Inmould-Labeling hinterspritzte, kapazitive Folie auf (s. auch Interview S. 48).
Der Prozessablauf: Die „smarte“ Folie wird ins Werkzeug eingelegt und der Mittelkonsolengrundträger aus PC/ABS gespritzt. Gleichzeitig wird auf der zweiten Werkzeugseite der im vorigen Zyklus gefertigte Vorspritzling mit einer PUR-Schicht überzogen. Sie schützt die Mittelkonsole vor mechanischen und chemischen Angriffen und verschafft ihr eine Hochglanzoberfläche mit Tiefeneffekt. Das Handling übernehmen zwei Linearroboter.
Für komplexe Teile wie die äußerst rationell gefertigte Mittelkonsole ist ein hoher anlagen- und verfahrenstechnischer Aufwand erforderlich. Dies gilt nicht weniger für konventionelle Bauteile (zum Beispiel eine Mittelkonsole ohne Sensoreigenschaften), wenn sie wirtschaftlich gefertigt werden sollen. Denn die effizienteste Lösung ist in der Regel das prozesstechnische Optimum. Deswegen macht Dr. Duffner von Arburg auch klar: „Gefragt sind individuelle Lösungen, die sich exakt an die Spritzgießaufgabe anpassen lassen.“
Maßgeschneiderte Fertigungslösungen sind das eine. Aber gleichzeitig steigt die Zahl der Varianten, die Entwicklungszyklen werden kürzer und immer kleinere Chargen werden geordert – nicht nur im Automobilbau. Für die Spritzgießverarbeiter stellen sich hier brennende Fragen: Wie lassen sich die Fertigungsanlagen so flexibel gestalten, dass auch begrenzte Stückzahlen hocheffizient produziert werden können? Und welche Perspektive bleibt dem kleineren Lohnspritzgießer angesichts dieser Entwicklung?
Es entsteht ein Zielkonflikt. Gerd Liebig, Group Marketing Director bei Engel, bringt ihn in unserer Industrieanzeiger-Umfrage auf den Punkt: „Der Trend zu immer kleineren Losgrößen und das Forcieren der Just-in-time-Produktion laufen den Bestrebungen massiv entgegen, die Fertigungseffizienz kontinuierlich zu erhöhen.“ Zu diesem Thema führte der österreichische Spritzgießmaschinenbauer eigens eine Erhebung unter Kunden durch. „Unsere Umfrage ergab, dass sich die Anzahl der Werkzeugwechsel in den kommenden fünf Jahren von derzeit durchschnittlich 0,9 pro Tag auf 1,7 pro Tag fast verdoppeln wird. Vor allem in der Automobil- und ihrer Zulieferindustrie gewinnt Rüstzeitoptimierung deshalb sehr stark an Bedeutung.“
Die generelle Antwort der Spritzgießanlagenbauer auf die genannte Problemstellung lautet in unserer Umfrage: Es braucht Modularität, möglichst flexible Fertigungszellen und kurze Umrüstzeiten. In dieser Richtung haben sie ihre Anlagen in den letzten Jahren optimiert. Sie bieten dafür verschiedenste clevere Features. Doch die Angebote sind sehr heterogen, die Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen. Und so gibt es auch noch kein System, das erwiesenermaßen ideal auf die Bedürfnisse eines Lohnspritzgießers mit begrenzter Investitionsfähigkeit zugeschnitten wäre. Zu unterschiedlich sind die Anwendungen. Den Verarbeitern empfiehlt sich daher, maßgeschneiderte Angebote von verschiedenen Herstellern einzuholen und sie mit ihren individuellen Teilespektren und Losgrößen abzugleichen.
Trotzdem – oder gerade deswegen – lohnt es sich, die Tipps der Hersteller anzuhören. In der Summe weisen sie auf ein ganzes Reservoir an Lösungsmöglichkeiten hin, die sich dem Verarbeiter bieten, um hocheffizient fertigen und doch flexibel bleiben zu können.
Als Antwort auf die (in der Erhebung erkannten) zunehmenden Werkzeugwechsel hat Engel zum Beispiel eine Software für das menügeführte Rüsten entwickelt. Der nächste Schritt ist das System Famox für den vollautomatischen Werkzeugwechsel in weniger als 1 min („fast mold exchange“). Auf der Messe wird es für Werkzeuge bis 25 t Gewicht vorgestellt. Eine kleinere und eine größere Version sollen folgen.
Alle Hersteller werben mit der Modularität ihrer Spritzgießanlagen. Für Arburg seit jeher ein Verkaufsargument, das sich im Namen „Allrounder“ für die Maschinen widerspiegelt. Ferromatik Milacron will in Zukunft die bestehenden Baureihen durch die in allen Achsen modulare F-Serie ablösen, die dann jeder Kunde „persönlich zusammenstellen“ kann. Andere Anbieter verweisen darauf, dass neben leicht auswechselbaren Plastifiziereinheiten, großzügigen Aufspannmaßen und einfach programmierbarer Robotertechnik es auch wichtig sei, Schnittstellen für Medien, Kernzüge und Elektrik zu standardisieren – alles möglichst plug&play. Außerdem sollten sich Peripheriegeräte leicht ins System und in die Steuerung integrieren lassen. Abschließend raten einige Hersteller noch vorsichtig, die Verarbeiter sollten doch die Flucht nach vorne antreten: versuchen, ihre Wertschöpfung an den Teilen zu verlängern, um selbst am technologischen Fortschritt zu partizipieren…
Zwei außergewöhnliche Sichtweisen sind noch anmerkenswert: Die Suche nach wirtschaftlichen Lösungen bedeutet auch, so Dr. Eberhard Duffner von Arburg, „dass nicht immer nur Hightech-Systeme zum Einsatz kommen müssen“. Als Beispiel nennt er die Fertigung von umspritzten Ansaugsieben durch die Küfner KG, die auf dem Arburg-Stand zu besichtigen ist. Die Losgröße beträgt nur 3000 Stück. Der Prozess ist so konzipiert, dass sich ein optimales Zusammenspiel zwischen Werker und Maschine ergibt – ohne Automatisierung. Sieben manuelle Arbeitsschritte sind dabei auf den Spritzgießzyklus verteilt. Die Stückkosten sind niedrig, die Qualität hoch. Die Rüstzeit beträgt nur 45 min.
Außergewöhnlich ist auch das Statement von Prof. Helmar Franz, CEO der Zhafir Plastics Machinery GmbH. Die Tochter der chinesischen Haitian Group machte Schlagzeilen durch die grundlegend neuartige, vollelektrische Spritzgießmaschine Mercury. Sie wurde 2010 auf der Messe K vorgestellt. Die „Mercury“ hat hochwertige Features in der Standardausführung und soll durch hohe Stückzahlen im chinesischen Markt sehr günstig angeboten werden können. „Wir sehen einen Trend zu größerer Flexibilität bei einer geringen Anzahl von Kavitäten und niedrigen Investitionskosten für kleinere Maschinen“, erklärt Prof. Franz. „Kleineren Lohnspritzgießern bieten wir Maschinen mit einer umfassenden Ausstattung im Standard. Damit behalten sie ihren finanziellen Handlungsspielraum, um wettbewerbsfähig zu bleiben.“
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