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Fertigung: Forscher arbeiten interdisziplinär an neuen Prozessen

Fertigungstechnik
Forscher arbeiten interdisziplinär an neuen Prozessen

Wissenschaftler verschiedener Disziplinen sollen gemeinsam neue Ansätze finden, um Fertigungsprozesse zu optimieren. Vier Pilotlinien an den Aachener Instituten WZL und IPT sollen dazu das passende Umfeld schaffen. ❧

Mona Willrett

„Wir brauchen einen Raum, in dem Fertigungsspezialisten, Informatiker und Datenanalysten gemeinsam neue Ideen entwickeln, ausprobieren und auch verwerten können“, sagt Prof. Thomas Bergs. Dieses Umfeld will der Produktionswissenschaftler, der den Direktorien der Aachener Institute WZL und Fraunhofer-IPT angehört, durch ein neues Forschungskonzept schaffen. In vier Pilotlinien – so genannten Inkubatoren – stehen sowohl die personellen Rahmenbedingungen als auch die erforderliche Infrastruktur zur Verfügung, die es Forschern unterschiedlicher Fachrichtungen ermöglichen, interdisziplinär zusammenzuarbeiten. Als Schwerpunktthemen, die ein möglichst breites Spektrum fertigungstechnischer Herausforderungen abdecken sollen, definierten die Aachener Forscher:

  • die Entwicklung und Nutzung des digitalen Zwillings in der Fertigung von Blisken unter Nutzung der 5G-Technologie,
  • Big-Data-Analysen beim Feinschneiden mit dem Ziel, einen digitalen Schatten zu erzeugen,
  • die hochflexible Auslegung individueller Prozessketten im Werkzeug- und Formenbau durch daten- und modellbasierte Prognosen sowie
  • App-basierte Optimierungstools am Beispiel vollständiger Prozessketten zur Fertigung von Zahnrädern.

In der Pilotlinie „Turbo“ geht es um sicherheitsrelevante Prozesse für anspruchsvolle Bauteile in mittleren Serien, beim „Feinscheiden“ um die Großserienfertigung. Und während beim Inkubator „Werkzeugbau“ die Unikat- und Prototypfertigung im Fokus steht, arbeiten die Forscher in der Zahnrad-Linie an innovativen Lösungen für eine anspruchsvolle Serienproduktion.

„Es ist viel effizienter, neue Prozesse an einem konkreten Beispiel zu erarbeiten und die Ergebnisse dann auf andere Bereiche zu übertragen, als von vornherein alle Eventualitäten berücksichtigen zu wollen“, begründet Bergs die sehr spezifisch definierten Aufgabenstellungen. Der Forscher betont: Die Digitalisierung werde schon viel zu lange abstrakt diskutiert. Jetzt sei es an der Zeit, Technologien und Verfahren zu entwickeln, um die digitale Vernetzung in Betrieben alltagstauglich und durchgängig umzusetzen.

Praxisnähe ist zentrales Element des Konzepts

Mit dem Inkubator-Konzept wollte Bergs typische Merkmale verschiedener Produktionsumfelder abbilden, so dass sich die Forschungsergebnisse hinsichtlich der Datennutzung und -verarbeitung später auf andere, ähnlich gelagerte Fertigungsaufgaben übertragen lassen. So könnten die Erkenntnisse aus der Turbo-Linie beispielsweise auch für die Automobilindustrie oder die Medizintechnik interessant sein. Und Dr. Sascha Gierlings, Leiter Prototypenfertigung und Geschäftsfeldentwicklung Turbomaschinen am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie (IPT), bestätigt: „Die Blisk-Fertigung ist eine der anspruchsvollsten Produktionsaufgaben. Wenn wir die neuen Prozesse hier beherrschen, dann lassen sich die gewonnenen Erkenntnisse relativ leicht auch auf andere Bereiche übertragen.“

Um Praxisnähe zu gewährleisten, können sich auch ausgewählte Industriepartner an einzelnen Pilotlinien beteiligen. Sowohl Anbieter von Produktionslösungen als auch potenzielle Anwender sollen die Möglichkeit erhalten, ihre Ideen, Wünsche und Anforderungen ins Projekt einfließen zu lassen. Während Erstere ihre Produkte und Ideen in einem praxisnahen Umfeld einsetzen, testen und weiterentwickeln können, erfahren Nutzer, wie sich die Herausforderungen beim Implementieren digital vernetzter Prozesse meistern lassen.

„Wir wollen digitale Innovatoren und Fertigungsspezialisten zusammenzubringen, so dass beide gemeinsam neue Ansätze und Lösungen entwickeln können“, sagt Bergs. „Wir sehen uns als eine Art Broker, der Angebot und Nachfrage aus Bereichen zusammenbringt, die bislang noch keine oder wenig Berührungspunkte hatten“, so der Inhaber des Lehrstuhls für Technologie der Fertigungsverfahren am Werkzeugmaschinenlabor (WZL) der RWTH Aachen. Wie das aussehen kann, zeige die Pilotlinie „Turbo“, die unter anderem die 5G-Technologie für die vernetzte, adaptive Produktion zum Fertigen von Blisken nutzbar machen soll. „Bei einer unserer Veranstaltungen trafen Vertreter von Ericsson und MTU zusammen. Im Gespräch erkannten die Ericsson-Leute, welch tolle Chance die Blisk-Fertigung bietet, um zu zeigen, was 5G kann. Und die MTU-Leute realisierten, welches Potenzial der Mobilfunkstandard in der Fertigung von Triebwerkskomponenten eröffnet. In solchem Zusammenwirken sehe ich die Zukunft fertigungstechnischer Innovation. Einrichtungen wie unsere Institute können verschiedene Welten zusammenzubringen.“

Zu den besonderen Merkmalen der Blisk-Fertigung gehört – neben dem hohen Wert der Werkstücke – auch die Komplexität der Bauteile, die eine extrem dreidimensionale Geometrie haben. Zudem sind die Anforderungen an die Fertigungstoleranzen hoch – sie liegen im Bereich von 20 bis 30 μm –, und wegen der hohen thermischen und mechanischen Belastung kommen bei der Materialauswahl nur schwer zu bearbeitende Superlegierungen in Betracht. Hinzu kommt, dass es sich um sicherheitskritische Bauteile handelt, bei deren Versagen unmittelbar Menschenleben bedroht sind. Deshalb sind die Sicherheitsauflagen immens.

Die Aachener Forscher sehen die Digitalisierung der Fertigungsumgebung als Voraussetzung, derart anspruchsvolle Teile auch künftig prozesssicher und wirtschaftlich herzustellen. Die komplexen Prozessketten sind geprägt von einer Vielzahl unterschiedlicher Einfluss- und Störgrößen, die am Ende zu einer Streuung der Bauteilausprägung und der Produktqualität führen. Die Aufgabe der Produktionsforscher ist, die Einflüsse und deren Auswirkungen auf das Produkt zunächst zu beschreiben. Im nächsten Schritt, der Diagnose, werden die Effekte und Wirkzusammenhänge analysiert und in Form von Modellen beschrieben. Sind die Wirkzusammenhänge verstanden und die Modelle validiert, ist es möglich dieses Wissen zu nutzen, um Vorhersagen über die zu erwartende Bauteilqualität zu treffen. Schlussendlich ist das Ziel, die Stellgrößen beim Abweichen vom Soll gezielt zu beeinflussen.

Mehr als Kosten senken durch effizientere Prozesse

Mittels digitaler Vernetzung und konsequentem Nutzen von Produktionsdaten lässt sich die Sequenz von der Beschreibung und Modellierung bis zur Prognose und der Reaktion auf Abweichungen ganz neu gestalten. Allerdings: Wird derzeit über die Vorteile einer digital vernetzten Produktion diskutiert, ist das meistgenannte Pro-Argument das Einsparen von Kosten durch effizientere Prozesse. Doch das greift zu kurz. Gerade bei sicherheitskritischen Teilen ist eine lückenlose Dokumentation aller Fertigungs- und Einsatzdaten nicht nur elementar, um im Schadensfall die Ursache zu ermitteln. Sie ist auch Basis für ein weiter wachsendes Prozess-Know-how und trägt dazu bei, künftige Generationen eines Bauteils zu optimieren und Störeinflüsse in der Produktion zu beherrschen.

Schon heute ist klar: Damit die Flugtriebwerke 2030 oder 2040 noch effizienter arbeiten, muss es gelingen, deutlich komplexere und enger tolerierte Komponenten prozesssicher zu fertigen. „Hinzu kommt, dass Prozesse heute fast ausschließlich aus technologischem und ökonomischem Blickwinkel optimiert werden“, gibt Gierlings zu bedenken. „Künftig wird aber die ökologische Sichtweise zunehmend an Bedeutung gewinnen. Wir müssen darauf achten, Mensch und Umwelt weniger zu belasten und weniger Ressourcen zu verbrauchen.“ Das erfordere Simulationstechniken, mit deren Hilfe sich schnell und effizient jene Lösung mit dem günstigsten Gesamt-Footprint identifizieren lasse.

Bergs und Gierlings betonen jedoch: Das bloße Sammeln und Bereitstellen von Prozessdaten reiche nicht aus. Weil die Abläufe hochkomplex sind und – im Vergleich zu Consumer-Anwendungen – nur geringe Datenmengen zur Verfügung stehen, sei es auch nicht immer erfolgversprechend, die Informationen mittels künstlicher Intelligenz auszuwerten. Die Aachener verfolgen einen anderen Ansatz. Er sieht vor, Produktionsdaten aus unterschiedlichen Quellen synchronisiert genau einem Produktionszeitpunkt und Produkt zuzuordnen, sie mithilfe bekannter Modelle und Wirkzusammenhänge anzureichern und dann kontextbasiert über einen Digitalen Schatten zur Verfügung zu stellen.

In den Projektteams der Inkubatoren arbeiten – je nach Aufgabe – Ingenieurwissenschaftler, Produktionstechniker, Physiker, Informatiker und Informationstechniker zusammen. An der Schnittstelle zwischen dem physikalischen Fertigungsprozess und der Datenwelt entsteht so ein neues interdisziplinäres Betätigungsfeld.

Aktuell sind laut Bergs zwar keine weiteren Inkubatoren geplant, sollten sich jedoch künftig neue Facetten der Fertigungstechnik aufdrängen oder ergänzende Aufgabenstellungen – etwa aus der Medizintechnik – einen Mehrwert versprechen, sei es durchaus denkbar, zusätzliche Pilotlinien einzurichten und Wissenschaftler weiterer Disziplinen einzubinden, etwa Mediziner, Biologen oder Chemiker. Denkbar sei auch, einzelne Inkubatoren zu erweitern und etwa das Thema Turbo in Richtung anderer Triebwerkskomponenten zu öffnen.

In speziellen Hallenbereichen wurden für jeden Inkubator die jeweils nötigen Prozessketten aufgebaut, bestehend aus Einzelanlagen oder Verbünden mehrerer Maschinen sowie dem entsprechenden IT-Umfeld. Auch die 5G-Antenne ist direkt in der Blisk-Fertigung installiert. Der Zugriff auf die Daten und die Möglichkeiten, sie auszuwerten, funktioniert hingegen dezentral. „Das alles ist sehr anwendungsnah ausgelegt“, betont Bergs.

Für jede Pilotlinie existiert eine Art Technologie-Roadmap. „Wir haben konkrete Ziele und wissen genau, wo wir hinwollen“, sagt der Forscher. Die Umsetzung ist derzeit in den Bereichen Turbo und Feinschneiden am weitesten fortgeschritten. Bis zum nächsten Aachener Werkzeugmaschinen Kolloquium (AWK) im Mai 2020 sollen erste Ergebnisse vorgestellt werden. Zudem sollen die Inkubatoren künftig enger mit anderen Forschungsaktivitäten verzahnt werden, etwa im Excellence Cluster „Internet of Production“.

Doch die Forscher wollen nicht nur neue Erkenntnisse liefern. Die Aktivitäten sollen auch zeigen, dass Forschung durchaus praxisnah sein kann. Und das soll die Zusammenarbeit für Industriekunden – auch aus dem Mittelstand – noch attraktiver machen.

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