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Vollmer-CDO Georg Kästle übers Digitalisieren im Maschinenbau

Digitalisierung: Der Mensch spielt eine zentrale Rolle
Georg Kästle, CDO und CIO bei Vollmer, über Digitalisierungsstrategien im Maschinenbau

Bei der Digitalisierung gehe es nicht um einzelne Technologien, sondern darum, Prozesse clever zu vernetzen, sagt Georg Kästle. Wichtig sei dabei, auch die Stärken des Menschen gezielt zu nutzen, um Abläufe zu optimieren, betont der CDO und CIO beim Schärfmaschinenhersteller Vollmer in Biberach. Endziel all dieser Bemühungen sei, den Kunden zu helfen, ihre Wettbewerbsfähigkeit kontinuierlich zu steigern.

» Mona Willrett, Redakteurin Industrieanzeiger

Herr Kästle, warum ist es für kleine und mittlere Unternehmen so wichtig, sich zum „intelligenten“ Unternehmen zu entwickeln?

Jedes Unternehmen – ob klein oder groß – steht vor der Herausforderung, sich in einem mannigfaltigen Wettbewerbsumfeld richtig zu platzieren und dabei die richtigen Entscheidungen zu treffen. Digitalisierung und Industrie 4.0 sind Megatrends – mit allen Vor- und Nachteilen –, die sich nicht aufhalten lassen. Wer hier gut arbeitet, kann diesen Trend zum eigenen Vorteil nutzen. Aus Sicht eines Unternehmens ist es deshalb schlau, sich rechtzeitig über die nötigen Schritte klar zu werden, um diesen Weg erfolgreich beschreiten zu können.

Welche Voraussetzungen müssen dafür gegeben sein?

Es gibt viele Aspekte, die hier zu berücksichtigen sind. Zwei oder drei sind aber absolut elementar. Zunächst muss jedes Unternehmen verstehen, welche Bedeutung Digitalisierung im eigenen Umfeld hat. Wir bei Vollmer haben den Begriff Digitalisierung explizit an mehreren Stellen unserer Unternehmensstrategie verortet und vor zwei Jahren entschieden, die Digitalisierung unserer Maschinen, unsere digitalen Services, unsere Prozesse und unsere interne IT konsequent zu vernetzen. Damit das gelingen konnte, mussten wir unsere Kapazitäten bündeln und clever einsetzen. In vielen Unternehmen werden die genannten Bereiche aber noch immer getrennt betrachtet. Wenn wir erfolgreich digitalisieren wollen, dann brauchen wir Menschen und deren Fähigkeit, Digitalisierung zu verstehen und sie in expliziten Handlungsfeldern umzusetzen. Denn: Digitalisierung entsteht zwar durch Technologie, die digitale Transformation aber durch menschliches Wirken. Die Technologien an sich bewirken nichts. Erst der Menschen, der versteht, sie schlau einzusetzen, macht den Unterschied. Deshalb ist es wichtig, dass sich Unternehmen darüber klar werden, wie sie sich organisatorisch und prozessual aufstellen müssen, um diesen Weg erfolgreich gehen zu können. Das ist aber weniger eine Frage der Unternehmensgröße als vielmehr der Leitung, der Strategie, der Organisation und engagierter Mitarbeiter. Die große Kunst besteht darin, digitale und klassische Prozesse intelligent zu verweben. Wer sich aber nur auf Technologie verlässt, steht am Ende möglicherweise schlechter da, als am Anfang.

Wie lässt sich ein großes Ziel erreichen, von dem manches Unternehmen noch keine genaue Vorstellung hat, wie es aussieht oder wo es liegt?

Diesen Weg sollte man als Abenteuerreise sehen. Am Anfang ist meist noch nicht klar, wohin er konkret führt. Deshalb ist es wichtig, zunächst ein Niveau zu erreichen, das es einem erlaubt, die einzelnen Abschnitte qualifiziert zu beurteilen. Erfolgsentscheidend ist, die richtigen Menschen zu gewinnen, die bereit sind, diesen nicht vorhersehbaren Weg mitzugehen. Extrem wichtig ist zudem, dass in diesem Digital-Team Menschen aus allen relevanten Bereichen vertreten sind – etwa aus der Konstruktion, dem Vertrieb, dem Service, dem Finanzwesen, aus der Beschaffung, dem Lager sowie dem Marketing. Am Ende dieser Abenteuerreise steht eine klare Sicht, was Digitalisierung für das jeweilige Unternehmen bedeuten kann. Wir kamen an dieser Stelle zur Erkenntnis, dass wir ein schlüssiges Gesamtkonzept brauchen. Das bezeichnen wir heute als Vollmer Digital Solutions. Uns war auch klar: Wir brauchen eine Marke für Digitalisierung. Das ist V@dison. Sie beschreibt, was wir auf der Reise gelernt haben und was wir zum Nutzen unserer Kunden umsetzen wollen. Auf keinen Fall sollte ein Unternehmen einfach eine fertige Digitallösung kaufen. Denn: Was für den einen Betrieb passt, kann für einen anderen untauglich sein.

Wie soll das der Inhaber eines Betriebs mit 10 Mitarbeitern stemmen?

Der ist darauf angewiesen, die Unterstützungsangebote in seiner Region zu nutzen. Hier in Biberach gibt´s zum Beispiel ein Digitalisierungszentrum, das solchen Unternehmen eine Digitalisierungsberatung anbietet – zum Teil sogar kostenfrei. Für kleine Unternehmen ist es essenziell, zu schauen, über welche niederschwelligen Zugänge sie auf diesem Weg Unterstützung erhalten. Damit können sie die ersten Schritte gehen. Danach gilt es, einen spezialisierten Partner zu finden, der in der Lage ist, ein kleines Unternehmen auf diesem Weg nachhaltig und partnerschaftlich zu unterstützen.

Welche Auswirkungen hat das auf die Struktur des Unternehmens?

Um unseren Kunden das bestmögliche Angebot zu machen, mussten wir die traditionelle Abteilungsstruktur überwinden und prozessual übers gesamte Unternehmen hinweg digitalisieren. Innovative Angebote können wir nur zuverlässig bereitstellen, wenn zudem unsere internen Strukturen mit den externen Angeboten verwoben sind. Das ist die Voraussetzung, um unseren Kunden bessere Leistungen zu liefern. Ein Beispiel: Über unser Kundenportal bieten wir interaktive 3D-Modelle unserer Maschinen, die der Nutzer zerlegen und Baugruppe für Baugruppe von verschiedenen Seiten betrachten kann – bis hin zum einzelnen Ersatzteil. Das hilft ihm, die Möglichkeiten unserer Maschinen effizienter auszuschöpfen, aber auch einfach und schnell die richtigen Ersatzteile zu ordern. Die Grundlage dafür, alle Teile auch extern sauber darstellen zu können, bildet die Vernetzung unseres CAD-Systems mit dem ERP- und dem PLM-System. Wir führen im Rahmen unserer Digitalisierungsbestrebungen kaum Technologie-, sondern viel mehr Prozessdiskussionen. Wir wollen unseren Kunden Prozesse an die Hand geben, die ihnen helfen, ihre Prozesse zu optimieren.

Wie stellt man auf diesem Weg sicher, nicht in eine Sackgasse zu geraten?

Indem Akteure aus allen wichtigen Bereichen beteiligt sind und von Anfang an diskutiert wird, ob der vorgesehene Weg an den jeweiligen Stationen zu Problemen führen kann. Erst wenn der gesamte Prozess vom ganzen Team abgesegnet ist, wird er umgesetzt. Viel schwieriger wird´s, wenn wir mit unseren Kunden darüber diskutieren, wie deren Prozesse aussehen und was wir beitragen können, um sie zu verbessern. Wir sehen da eine ganze Reihe von Ansatzpunkten. Insofern bin ich sicher, dass uns die Optimierungspotenziale noch lange nicht ausgehen werden – weder intern noch bei unseren Kunden.

Was verstehen Sie unter einem Digital-Core-Umfeld?

Der digitale Kern bedeutet, dass die Grundstrukturen eines Unternehmens digitalisiert sein müssen. Wenn das nicht gegeben ist, wird das Gesamtkonstrukt nicht funktionieren. Man muss also gründlich darüber nachdenken, welche Bereiche auf alle Fälle innovativ digital gestalten werden müssen, um die angestrebte Leistung nach außen zu bringen. Ein Beispiel: Wir haben unseren Produktentwicklungsprozess digitalisiert und alle relevanten Informationen stehen jederzeit allen zur Verfügung. Zu unserem digitalen Kern gehört also, einen digitalen Zwilling aller Komponenten zur erstellen. Das ist unter anderem die Basis, um das vorher beschriebene interaktive 3D-Modell zu realisieren.

Was verstehen Sie unter dem Orange Vield-Ansatz?

Wenn wir neue Maschinen liefern, ist es relativ einfach, digitale Services zu integrieren. Viel schwieriger ist das bei Bestandsmaschinen, die gar nicht dafür ausgelegt sind. Jetzt geht´s darum, wie wir diesen Greenfield-Ansatz – neue Maschinen – und den Brownfield-Ansatz – Bestandsmaschinen – schlau so kombinieren können, dass für unsere Kunden der maximale Nutzen entsteht. Konkret heißt das: Wann immer wir neue Services entwickeln, denken wir gleich darüber nach, in welchem Rahmen wir das auch Bestandskunden zur Verfügung stellen können. Natürlich funktioniert das nicht bei allen Services, aber dort, wo´s Sinn macht, wollen wir das umsetzen. Orange Vield ist also ein kreativer Ansatz, bei dem wir das Beste aus den verschiedenen Welten schlau kombinieren. Wir sprechen frühzeitig mit Kunden über unsere Digitalisierungsprojekte, hinterfragen, wie unsere Ideen mit deren Anforderungen harmonieren und passen bei Bedarf an.

Welche Veränderungen zieht dieser Ansatz bei Vollmer nach sich?

Wir mussten bisherige Strategien und Prozesse deutlich verändern. Wo bislang in unserer Entwicklung die reine Maschinentechnik im Vordergrund stand, muss diese künftig mit der Service- und der Digitalisierungstechnik im Gleichklang laufen. Es gilt also, künftige Produktentwicklungen ganzheitlich anzugehen. Eine weitere Herausforderung besteht darin, neue Services möglichst zeitnah auch international zur Verfügung zu stellen.

Welches Verhältnis sehen Sie bei künftigen Entwicklungen zwischen den mechanischen und digitalen Bereichen?

Die klassische Maschinentechnik bietet – etwa über neue Materialien und Entwicklungsverfahren oder verbesserte Schärfprozesse – auch künftig noch erhebliche Optimierungspotenziale. Was sich ändert: Wir bringen die digitalen Services auf die gleiche Ebene und bieten den Kunden die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, wo sie ihre Prioritäten setzen – bei den digitalen oder den funktionalen Innovationen.

Wo steht Vollmer auf diesem Weg?

Wir sind im Rahmen der Digitalisierung im Maschinenbau schon sehr gut aufgestellt. Trotzdem wird die Entwicklung immer weitergehen. Gerade bei den Technologien erleben wir einen rasanten Fortschritt, der das Innovationstempo massiv beschleunigt. An der Stelle müssen wir sehr genau eruieren, welche Technologien wichtig und erfolgversprechend und welche für uns weniger relevant sind. Solche Technologieentscheidungen sind nicht trivial.

Welche Rolle spielt dabei KI?

Künstliche Intelligenz hat unterschiedliche Ausprägungen. In der Regel geht es darum, aufgrund von Algorithmen automatisiert Entscheidungen zu treffen oder zumindest vorzubereiten. KI ist ein breites und tiefgehendes Thema, das künftig eine wichtige Rolle spielen wird. Gelingt es uns aber nicht, die Themen digitaler Zwilling und Internet of Things sauber zu regeln, dann kann KI nur teilweise wirken. Für den Kunden ist künftig nicht nur die Vollmer-Maschine wichtig, sondern deren Stellung im Gesamtprozess. Deshalb brauchen wir nicht nur einen digitalen Zwilling der Maschine, sondern auch der Peripherieelemente. Beides müssen wir so kombinieren, dass die Prozesssimulation sauber läuft. Dann können wir KI nutzen, um weiter zu optimieren.

Welche Potenziale, aber auch Risiken sehen Sie beim Einsatz von KI?

Ein Risiko ist, diese Technologie zu überschätzen und viel Geld falsch zu investieren. Die Basisdaten sind elementar wichtig. Sind sie falsch, wird eine KI kein vernünftiges Ergebnis liefern. Wir müssen lernen, die Potenziale einer KI zu nutzen, dürfen ihr aber nicht blind vertrauen. Um die Entscheidungsprozesse eines KI-Systems besser zu verstehen, arbeiten wir intensiv daran, die Algorithmik zu validieren. Wichtig ist, die Plausibilität der Daten beurteilen zu können. Aber wir müssen uns auch bewusst sein, dass der Mensch große Vorteile gegenüber Maschinen oder Algorithmen hat. Seine extreme Fähigkeit, die Umgebung wahrzunehmen, werden wir auch morgen und übermorgen keiner KI beibringen können. Schon allein, weil uns die Daten fehlen, zufällige Ereignisse zu beschreiben.

Was bedeutet das für das Thema „neue Geschäftsmodelle“?

Das ist mit Abstand das schwierigste Thema überhaupt. Das Geschäftsmodell ist die DNA eines Unternehmens. Digitale Geschäftsmodelle erfolgreich umzusetzen, schaffen wir nur, wenn es gelingt, Geschäftsmodellideen mit konstruktionsmäßigen Strukturen zu erfassen und sie in einem begrenzten Markt zu testen. Wir müssen den Nutzen für potenzielle Kunden transparent machen, ihnen zeigen, dass der Service einen Wert hat und bepreist werden muss. Erweist sich das Modell als nicht erfolgreich, muss man es beenden. Geschäftsmodelle werden sich langfristig durch die Digitalisierung massiv verändern, aber das braucht Zeit.

Bei zunehmender Digitalisierung – wie kann man sich vor Cyberangriffen schützen?

Mit Blick auf die Cyber Security brauchen wir einen Sicherheitsstandard. Bei all unseren digitalen Entwicklungen müssen wir den Sicherheitsstandard von Anfang an mitentwickeln. Weil es aber keine absolute Sicherheit gibt, müssen wir dem Kunden ganz klar und eindeutig beschreiben und sichtbar machen, auf welchem Sicherheitsniveau wir uns bewegen.

Wie lässt es sich verhindern, in Abhängigkeiten von Digitalisierungspartnern mit großer Marktmacht zu geraten?

Das geht nur über eine sogenannte Multi-Cloud-Strategie. Um für den Fall der Fälle ein Ausstiegsszenario offen zu halten, ist es wichtig, verschiedene Anbieter zu buchen und auch die Daten entsprechend zu verteilen. Dadurch entstehen zwar Kosten und Verwaltungsaufwand, aber es reduziert das Risiko erheblich. Sobald ich den Zugang zu anderen Cloudsystemen habe und dort bereits Daten liegen, ist es mit überschaubarem Aufwand möglich, die anderen Daten zu transferieren. Liegt alles in einer Cloud, dann ist der Aufwand für die meisten Unternehmen viel zu groß. Sobald man feststellt, dass ein Partner zu tief in die eigenen Entscheidungsstrukturen eindringt, sollten die Alarmglocken schrillen und der Ausstieg eingeleitet werden. Das kann eine gewisse Zeit dauern und kostet auch Geld, aber das oberste Gebot im Unternehmen ist, immer selbst entscheiden zu können.

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