Nachhaltigkeit ist derzeit das Top-Thema in allen Branchen. Was Industrieunternehmen heute schon für ihre CO2-Neutralität tun, zeigt unsere Reihe an Best-Practice-Beispielen. Im dritten Teil betrachten wir das Verbundprojekt TeDZ: Wie der digitale Zwilling zu Nachhaltigkeit beitragen kann.
» Nora Nuissl, stv. Chefredakteurin Industrieanzeiger
Zu Nachhaltigkeit in Unternehmen tragen auch digitale Lösungen bei, allen voran der digitale Zwilling. Hinter dem Begriff verbirgt sich laut des Industrial Internet Consortiums eine digitale Repräsentanz eines Assets, Prozesses oder Systems, die geeignet ist, die Anforderungen einer Reihe von Anwendungsfällen zu erfüllen. „In der Industrie verstehen wir den digitalen Zwilling als Use-Case-spezifisches Abbild eines beispielsweise physischen Assets in der realen Fabrik, das dessen Simulation, Steuerung oder Lebenszyklusdokumentation erlaubt“, definiert Dr. Magnus Redeker, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institutsteil für industrielle Automation INA des Fraunhofer-Instituts für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung IOSB (IOSB-INA) in Lemgo.
Technische Infrastruktur für digitale Zwillinge
Nun ist der digitale Zwilling keine Neuheit. Bisher liegen Daten und Modelle im digitalen Zwilling meist in unterschiedlichen Datenformaten und Werkzeugen mit unterschiedlicher Datenstruktur vor. Für selbstorganisierende Netzwerke wie die Industrie 4.0 stellt Interoperabilität aber eine Grundvoraussetzung dar. „Das bedeutet, dass Daten über Systemgrenzen, also Abteilungs- oder Unternehmensgrenzen hinweg, austauschbar und automatisch interpretierbar für die empfangende Organisation sind“, erklärt Redeker. An dieser Stelle setzte das 2018 gestartete Projekt ‚Technische Infrastruktur für Digitale Zwillinge‘, kurz: TeDZ, auf. In dem Innovationsprojekt des Netzwerks It‘s OWL haben sich Fraunhofer IOSB-INA, die Technische Hochschule Ostwestfalen-Lippe (TH OWL) und die Unternehmen KEB, Lenze, Phoenix Contact und Weidmüller zusammengeschlossen, um mittels interoperabler digitaler Zwillinge und deren Schnittstellen Produkte und Services herstellerübergreifend miteinander interagieren zu lassen.
Zwei Pilotvorhaben für digitalen Zwilling
„Wir haben als Ergebnis eine technische Infrastruktur entwickelt, die es uns ermöglicht, digitale Zwillinge aufwandsarm zu erstellen, zu deployen – also in Industrie-4.0-Ökosysteme einzuspielen –, mit Daten anzureichern und für den User zu visualisieren“, beschreibt Redeker. Die Umsetzung des im September 2021 erfolgreich abgeschlossenen Projekts erfolgte mit der Verwaltungsschale. Laut der Plattform Industrie 4.0 und gemäß des Referenzarchitekturmodells Industrie 4.0 (Rami 4.0) standardisiert die Verwaltungsschale den digitalen Zwilling für Industrie 4.0. Informationen über ein Asset werden so über den gesamten Lebenszyklus je nach Anwendungsfall der beteiligten Organisationen interoperabel verfügbar gemacht.
TeDZ fokussierte im Verlauf zwei Pilotvorhaben: Asset Life und digitaler energetischer Zwilling. Im Teilprojekt Asset Life betrachteten die Partner Phoenix Contact und Fraunhofer IOSB-INA den Austausch digitaler Zwillinge von allen Akteuren, die entlang des Lebenszyklus des jeweils betrachteten Assets beteiligt sind. Das Ergebnis ist eine technische Lösung, die die Daten sicher und souverän zusammenführt.
Ziel des Pilotvorhabens digitaler energetischer Zwilling war es, digitale Zwillinge zu entwickeln, die das energetische Verhalten von Komponenten, Maschinen oder Anlagen über den jeweiligen Lebenszyklus abbilden und optimieren. Hier arbeiteten die Projektpartner KEB, Lenze, Weidmüller, TH OWL und Fraunhofer IOSB-INA an verschiedenen Teilbereichen. „Wir haben uns vor allem mit der Entwicklung von funktionsfähigen Simulationsmodellen für die virtuelle Inbetriebnahme von Anlagen beschäftigt. Die virtuelle Inbetriebnahme ist ein elegantes Konzept, da sie die Zeit für die reale Inbetriebnahme der Anlage reduzieren kann“, betont Sebastian Bischof, Softwareentwickler bei KEB Automation in Barntrup. Aufgabe des Teams war es, Simulationsmodelle verschiedener Komponenten zu entwickeln, die in Simulationsmodellen zu einer virtuellen Anlage zusammengeschaltet werden können. Anlagenbauer können so virtuell bestimmte Grenzfälle testen. „Durch die virtuelle Inbetriebnahme können Komponenten unter Simulationsaspekten besser dimensioniert werden. Dadurch kann die Effizienz der Auslegung gesteigert werden“, verdeutlicht der Softwareentwickler.
Neue Herausforderungen auf Komponentenebene
Wie das in der Praxis funktioniert, haben die Projektpartner im Smart Warehouse der Smart Factory OWL erprobt. Dort sind Komponenten der Partner verbaut, auf die ein externer Zugriff erforderlich ist und die in der Lage sein müssen, Daten auszusenden. Soweit nichts Neues im Sinne von Industrie 4.0. „Bisher wurde aber nur die Anlagenebene betrachtet, also, wie kriege ich die Daten von der Anlage in die Cloud, und nicht: Wie kriege ich die Daten aus der Komponente in die Cloud?“, wirft Bischof ein. Auf Komponentenebene ergäben sich andere Herausforderungen: „Normalerweise werden Gerätekomponenten über ein Feldbussystem angesprochen. Aber nicht alle Feldbussysteme können ihre Daten eins zu eins ins Internet spielen. Das heißt, man braucht eine Art Tunnel, um an die Daten auf den Komponenten zu kommen“, beschreibt der Softwareentwickler.
Digitaler Zwilling: von der virtuellen Ebene in die Praxis
Auch die unterschiedlichen Datenstrukturen der jeweiligen Komponentenhersteller, also wie die Daten aufgebaut und definiert sind, stellten die Experten vor Herausforderungen. Als Resultat konnten Verwaltungsschalen und projektspezifische Teilmodelle erarbeitet werden, die die einzelnen Komponenten der kooperierenden Partner im Smart Warehouse abbilden. Künftig kann die virtuelle Inbetriebnahme laut Bischof viel schneller umgesetzt werden, da die neu geschaffenen Teilmodelle eine Automatisierung ermöglichen. Die Erstellung eines Gesamt-Simulationsmodells aus den einzelnen Simulationsmodellen im Smart Warehouse hat zum Ende des Projekts nur noch knappe 15 Minuten gedauert. Der händische Prozess benötigt dagegen Tage oder Wochen.
Standardisierte Teilmodelle der Industrial Digital Twin Association
Seit Abschluss des Projekts arbeiten die Partner aus TeDZ auf Basis der erzielten Ergebnisse weiter an der Umsetzung ihrer digitalen Zwillinge für ihre individuellen Use Cases im Unternehmen. Das Fraunhofer-Institut hat beispielsweise eine Digital Twin Platform für Industrie 4.0 entwickelt. Außerdem haben sich im September 2021 die Verbände VDMA, ZVEI und Bitkom mit 20 Industrieunternehmen in der Industrial Digital Twin Association (IDTA) zusammengeschlossen. Die als gemeinnütziger Verein eingetragene, weiterwachsende Nutzerorganisation für den digitalen Zwilling für Industrie 4.0 verfolgt das Ziel, notwendige Spezifikationen für die Interoperabilität bereitzustellen und harmonisierte Teilmodelle in das Gesamtbild zu integrieren.
Ein Teilmodell, das die Organisation entwickelt und standardisiert, ist das digitale Typenschild. Darunter verstehe man die direkte Verlinkung eines Assets zur Verwaltungsschale, also eine eindeutige Zuordnung, erläutert Anja Moldehn, Geschäftsführerin des Centrum Industrial IT (CIIT) in Lemgo: „Das klassische Typenschild einer Maschine wurde digitalisiert. Dabei wurde festgelegt, welche Daten enthalten sein müssen, um das digitale Typenschild auszuformulieren – etwa: Hersteller, Seriennummer oder Typbezeichnung.“ Die eindeutige Identifikation des physikalischen Objekts erfolgt zum Beispiel über einen QR-Code oder einen RFID-Chip, der auf dem Produkt angebracht ist. Dieser führt zum digitalen Zwilling mit den Produktdaten. Außerdem können im digitalen Zwilling zusätzliche aktuelle Dokumente in der jeweiligen Landessprache oder lokale Zertifikate hinterlegt werden.
Digitales Typenschild spart Druck-, Logistik- und Entsorgungskosten von Handbüchern ein
Die Digitalisierung beinhaltet auch nachhaltige Aspekte, da etwa Druck- und Logistikkosten für die Papierdokumentation entfallen. „Betrachtet man als Beispiel ein Handbuch, das in zwölf Sprachen beigelegt werden muss, kann ein Unternehmen durchschnittlich 100 Tonnen Papier pro Jahr sparen. Bei einem Preis von zwei Euro pro Handbuch und einer Menge von 400.000 Geräten sind das 800.000 Euro“, so Moldehn. Zwar verbrauche die Datenhaltung auf Servern auch Energie, durch den Verzicht auf Druck, Transport und spätere Entsorgung der Handbücher falle der CO2-Fußabdruck aber geringer aus.
Erweitert man das digitale Typenschild um Daten aus der Lieferkette eines Produkts, könnte man einen sogenannten digitalen Produktpass schaffen, der den gesamten Wertschöpfungskreislauf transparent macht. Die jüngsten Strategiepapiere der Europäischen Kommission betiteln den digitalen Produktpass zwar als wesentliches Instrument für eine ressourceneffiziente Wirtschaft. Dabei fehlt es noch an einer einheitlichen EU-weiten Definition sowie Standardisierungen. Der Produktpass ist also erst im Entstehungsprozess. Der digitale Zwilling dagegen wird immer konkreter.
Hier finden Sie die Folgeteile der Serie Klimaneutralität in Industrieunternehmen:
Teil eins der Serie: Stand der erneuerbaren Energieversorgung in Deutschland
Teil zwei der Serie: Besuch bei Phoenix Contact
Teil vier der Serie: DC-Industrie
Kontakte:
Fraunhofer-Institut IOSB-INA
Campusallee 1
32657 Lemgo
www.iosb-ina.fraunhofer.de
KEB Automation KG
Südstraße 38
32683 Barntrup
www.keb.de
Centrum Industrial IT (CIIT) e. V.
Campusallee 6
32657 Lemgo
www.ciit-owl.de