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Kollege Roboter

Handhabungstechnik: Menschliche Maschinen heben leichter
Kollege Roboter

In der Zukunft werden Industrieroboter in der Montage nicht mehr von den Mitarbeitern getrennt sein durch Schutzeinrichtungen und Sicherheitsbereiche. Beide arbeiten vielmehr interaktiv zusammen. Viele technische und rechtliche Schritte auf dem Weg dahin sind gelöst – aber längst nicht alle.

Der Blick des Mitarbeiters fällt auf das leere Motorgehäuse. Der Roboter weiß den Blick zu deuten und hebt das Bauteil langsam auf die Werkbank. „Das Gehäuse wiegt zwar nur 5 kg, doch wenn ein Mensch in einer Schicht 300 Stück davon auf seine Werkbank hieven muss, ist dies eine unnötige Kraftanstrengung“, sagt Wolfgang Rösel, Mitarbeiter am Institut für Werkzeugmaschinen und Betriebswissenschaften (IWB) an der Technischen Universität München.

Rösel erforscht mit seinen Kollegen im Rahmen des interdisziplinären Exzellenzclusters Cotesys (Cognition for Technical Systems) die Grundlagen der wahrnehmungsgekoppelten Bewegungssteuerung und deren Realisierung durch informationsverarbeitende Mechanismen, genauer gesagt im Teilprojekt Jahir. Jahir steht für Joint action for Humans and Industrial Robots. Hier steht das Zusammenspiel zwischen Industrieroboter und Menschen im gemeinsamen Arbeitsraum im Mittelpunkt. „Wir wollen die individuellen Stärken der beiden Interaktionspartner verbinden“, erklärt Rösel: Der Roboter soll zur Handhabung schwerer Bauteile und zur Ausführung sich wiederholender Aufgaben wie Verschraubungen herangezogen werden. Und der Mensch kann mit seinen kognitiven und sensorischen Fähigkeiten feinfühlige und feinmotorische Arbeiten in Kooperation mit dem Roboter ausführen.
Dies ist eine Umkehr von der derzeitigen Situation in der Fertigung, in der der Mensch aus dem Aktionsradius des Roboters aus Sicherheitsgründen verbannt ist. Er programmiert die Maschine offline und weist ihr statische Aufgaben zu. Eine Interaktion findet nicht statt. Dies wird sich laut Rösel ändern – nicht zuletzt, weil die rechtlichen Grundlagen dafür geschaffen werden. Die ISO-Norm 10218 regelt seit zwei Jahren in ihrem ersten Teil, wie Roboter sicher gebaut werden müssen. Im zweiten Teil, der bislang im Entwurf vorliegt und in diesem Jahr veröffentlicht werden soll, wird festgeschrieben, wie Roboterzellen und deren Peripherie sicher gestaltet werden müssen. Danach darf der Mensch in den Arbeitsraum des Roboters eindringen, wenn etwa die Geschwindigkeit und die Position des Roboters überwacht, redundant erfasst und ausgewertet werden. So darf der Roboter nur mit einer Geschwindigkeit fahren, die 250 mm/s nicht überschreitet. Seine Kraft ist auf statisch 150 N und eine dynamische Leistung von 80 W begrenzt.
„Aufgrund dieser Kraftbeschränkungen würde es auch keinen Sinn machen, einen großen Roboter, wie er in der Fertigung für die Automobilindustrie im Einsatz ist, zu nutzen“, erklärt der IWB-Experte. Diese Anwendungen sind auch gar nicht das Ziel von interaktiven Assistenzrobotern. „Sie sind für Kleinserien und den Prototypenbau geeignet, also dort, wo der Anteil an manuellen Tätigkeiten relativ hoch ist und wo der maschinelle Kollege häufig umprogrammiert werden muss“, so Rösel.
Damit ein Mitarbeiter in der Montage flexibel mit dem Roboter interagieren kann, ist vor allem dessen flexible Programmierung über verschiedene Kanäle notwendig. Die Wissenschaftler sprechen hier von einem multimodalen Ansatz. So kann der Mensch dem Roboter beispielsweise per Spracheingabe Kommandos geben oder über so genannte Softbuttons, die per Videobeamer kontextbezogen auf die Werkbank projiziert werden. „So muss der Werker seinen Blick nicht auf einen externen Monitor oder eine Maus richten“, sagt Rösel. Für die Betätigung der Softbuttons wurde eine Hauterkennungssoftware integriert. Sie selektiert das Videobild nach der menschlichen Hautfarbe und aktiviert die Bereiche, die die Haut überlagert. Berührt die Hand etwa einen Softbutton, detektiert ein Kamerasystem diese Bewegung und aktiviert so den Button.
Auch die Programmierung mit Blickrichtungserkennung erproben die Wissenschaftler der Neurologischen Forschung der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dazu zieht der Mitarbeiter in der Montage eine spezielle Brille auf, welche die Bewegung seiner Augen detektiert. Auch die Gestenerkennung ist möglich: Mit einem Datenhandschuh zeigt der Mensch dem Roboter an, welchen Gegenstand er gerne angereicht hätte. Und schließlich gibt es noch Kraft-Momenten-Sensoren, mit denen das System erkennt, wenn der Mensch den Greifer betätigt oder an der Bohrmaschine eine Kraft auf die Spindel ausübt.
Um sich für den Menschen verständlich zu machen, stehen auch dem Roboter unterschiedliche Ausgabemodalitäten zur Verfügung: Er gibt akustisch, visuell oder über Warnleuchten Rückmeldung.
Doch bis der Roboter Realität wird, wird nach Meinung von Rösel noch Zeit ins Land gehen: „Wir betreiben in manchen Gebieten Grundlagenforschung. Daher gibt es im Augenblick nur einen reinen Versuchsaufbau.“ Nur Teile davon könnten in der Industrie heute zum Einsatz kommen – etwa die Anzeigemodalitäten auf der Werkbank: Der Mitarbeiter erhält die Informationen, die er aktuell für den Montageprozess benötigt, per Beamer auf seinen Werktisch eingeblendet sowie Befehlsbuttons, die er mit seiner Hand aktiviert. Rösel: „Das Interesse der Industrie an dieser Technik ist groß, da die Mitarbeiter nicht aus ihrer gewohnten Tätigkeit gerissen werden, ihre Aufmerksamkeit nicht abwenden müssen und einen Computer bedienen müssen.“ Auch dem Gesamtkonzept steht die Industrie aufgeschlossen gegenüber. „Viele Firmen haben ein Interesse daran, dass der Roboter den Menschen entlastet. Die Belegschaft wird künftig tendenziell älter. Wenn ein Roboter schwere Lasten hebt, ist dies unter ergonomischen Gesichtspunkten wünschenswert“, so Rösel.
Allerdings warnt er vor überzogenen Erwartungen: „Die Sicherheit eines solchen Konzepts ist noch nicht gewährleistet“, stellt er klar. „Die Berufsgenossenschaft würde es zum jetzigen Zeitpunkt nicht zertifizieren.“ Für die direkte Mensch-Roboter-Interaktion mangele es immer noch an der notwendigen Sicherheit. Die neue ISO-Richtlinie legt lediglich fest, was zulässig ist und was nicht. „Es fehlen aber noch marktreife Konzepte für die Umsetzung eines Gesamtkonzepts.“ Das Jahir-Team hofft, dies auf den Weg bringen zu können. „Wann unser Projekt in einem marktreifen Produkt mündet, ist aber nicht unbedingt absehbar“, so Rösel.
Teilsysteme seien heute durchaus realisierbar, nicht aber das Gesamtpaket, das aus drei Komponenten besteht: einem sicheren Roboter, einer sicheren Robotersteuerung sowie der sicheren Peripherie. So gibt es auf dem Markt zwar durchaus sichere Roboter mit einer sicheren Robotersteuerung. „Allerdings kann der Mensch dabei nicht sicher detektiert werden“, weiß der Experte. Andere Systeme detektieren den Menschen zwar sicher, verfügen aber nicht über eine sichere Robotersteuerung. Schließlich muss der Roboter im Fall der Fälle automatisch ausweichen, wenn ihm der Mensch in die Quere kommt. Die für das Auffinden der Menschen notwendigen Kamerasysteme weisen laut Rösel ebenfalls noch Mängel auf: Sie arbeiten sehr statisch und starr, müssen künftig flexibler und dynamisch umschaltbar sein, damit der Mensch in einem größeren Aktionsradius tätig sein kann. „Dies ist heute technisch noch nicht möglich.“
Wirtschaftlich sinnvoll wäre ein solches System auf alle Fälle. Die Produktivität würde steigen, hat das IWB in einem Projekt nachgewiesen. So amortisiere sich ein interaktiver Assistenzroboter in drei bis fünf Jahren. Damit Kollege Roboter den Menschen tatsächlich unterstützt – und nicht etwa nervt, eruieren Psychologen des Instituts für Arbeitswissenschaften der Universität der Bundeswehr München zudem die Akzeptanz. Rösel: „Dabei geht es vor allem um die Frage: Welche Geschwindigkeit ist für den Menschen angenehm und welche empfindet er als Stress?“
Sabine Koll Journalistin in Böblingen

Helfer für die Pharma-Forschung
Auch das Fraunhofer Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung entwickelt interaktive Assistenzroboter – und zwar für den Life-Science-Bereich. Hier sollen sie in den Laboren Routine- und Transportaufgaben übernehmen sowie Mess- und Prüfstationen selbständig bestücken.

Marktchancen
Die Werkstatt-, Prototypen- und Kleinserienfertigung zeichnet sich vor allem durch Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Zuverlässigkeit aus. Dies ist allerdings auch ein Grund für die hohen Herstellungskosten in Hochlohnländern wie Deutschland. Um dem entgegenzutreten, bietet es sich an, die Vorteile automatisierter Systeme mit den kognitiven Fähigkeiten der Mitarbeiter zu verknüpfen. Interaktive Assistenzroboter haben genau dies zum Ziel.
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